Nachhaltigkeit in Hamburg:Wo das Wildschwein grunzt

Nachhaltigkeit in Hamburg: Das Wälderhaus in Wilhelmsburg-Mitte in Hamburg sieht ungewöhnlich aus und beherbergt ein Hotel und eine Erlebnisausstellung zum Thema Wald und Nachhaltigkeit.

Das Wälderhaus in Wilhelmsburg-Mitte in Hamburg sieht ungewöhnlich aus und beherbergt ein Hotel und eine Erlebnisausstellung zum Thema Wald und Nachhaltigkeit.

(Foto: Johannes Arlt)

Das nachhaltig betriebene Wälderhaus ist ein ganz besonderes Gebäude: Hier kann man nicht nur übernachten, sondern auch viel über die Natur lernen - unter anderem mit Kunst von Ai Weiwei.

Von Saskia Aleythe, Hamburg

Der Ziegenmelker hat es Michael Rademann angetan. So sehr, dass der Ornithologe Freitagabend um 22 Uhr schon mal mit einer Schulklasse in der Fischbeker Heide steht, um den besonderen Vogel aufzuspüren. Der Ziegenmelker ist nachtaktiv und macht ein Geräusch wie ein Motorrad, und Rademann hat auch gleich die passende App parat, um Unkundigen den Gesang vorzuspielen. Ein langes Rattern hört man dann. Ist die Sonne untergegangen, geht der Ziegenmelker auf die Jagd nach Nachtfaltern, fliegt "gauklerhaft" durch die Luft, wie Rademann sagt. Er macht dabei eine wilde Handbewegung, die nach dem Kamikazeflug eines Bruchpiloten aussieht: "Man bekommt ihn wirklich sehr selten zu Gesicht." Aber letztens hat es mal wieder geklappt, und das kann dann selbst Viertklässler begeistern, die sonst mit dem Thema Wald eher weniger zu tun haben.

Nachhaltigkeit in Hamburg: Der Ornithologe Michael Rademann zeigt Kindern und Jugendlichen die Vögel des Waldes.

Der Ornithologe Michael Rademann zeigt Kindern und Jugendlichen die Vögel des Waldes.

(Foto: Julia Franklin Briggs)

Was Rademann nachts im Wald macht, hat viel mit dem Grund zu tun, warum es in Hamburg ein Gebäude von seltener Erscheinung gibt: Das Wälderhaus im Stadtteil Wilhelmsburg ist ganz in Lärchenholz gekleidet und soll Lust auf Natur, insbesondere auf den Wald, machen. Es beherbergt ein Hotel, ein Restaurant, Seminarräume und eine Wald-Erlebnis-Ausstellung. Und in ihm hat auch Rademann sein Büro. Denn das 2012 eröffnete Gebäude hat der Hamburger Landesverband der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald (SDW) bauen lassen, für die Rademann arbeitet. Der Verein mit seinen 25 000 Mitgliedern wollte damit das Thema Nachhaltigkeit stärker in den Fokus rücken und die Bedeutung der Wälder. Der Gedanke dahinter: "Was man liebt, schützt man auch."

Betritt man das Wälderhaus, ragt gleich ein zusammengesetzter Baum ins Blickfeld, der in der Lobby bis in die zweite Etage reicht. Es ist eine Dauerleihgabe des Künstlers Ai Weiwei, die hier so gut reinpasst, als hätte er sie dafür gemacht. "Die Einzelteile kamen in vielen großen Kisten hier an, ohne Anleitung", sagt Jan Muntendorf, der Projektleiter des Wälderhauses. Drei Tage lang haben sie den entwurzelten und in Teile zersägten Baum aufeinandergesetzt, seit fünf Jahren ist er eine Attraktion inmitten vieler Besonderheiten.

Nachhaltigkeit in Hamburg: In der Lobby windet sich ein Baum Richtung Decke - es ist eine Dauerleihgabe des Künstlers Ai Weiwei.

In der Lobby windet sich ein Baum Richtung Decke - es ist eine Dauerleihgabe des Künstlers Ai Weiwei.

(Foto: Saskia Aleythe)

Den Begriff Nachhaltigkeit, der heute in aller Munde ist, habe bereits vor mehr als 300 Jahren ein Förster geprägt, sagt Muntendorf. Dessen Credo: "Ernte nicht mehr, als nachwachsen kann." Auch das große Gebäude, das im Rahmen der Internationalen Bauausstellung (IBA) realisiert wurde, sollte möglichst nachhaltig sein. Es steht auf dem riesigen Areal, das für die parallel abgehaltene Internationale Gartenschau damals hergerichtet wurde: 100 Hektar Natur umfasst der Inselpark, umgeben von Fleeten, Blumenwiesen, aber auch einer Basketball- und Schwimmhalle, nebenan ein Hochseilgarten.

Das Hotel in den oberen drei Stockwerken ist komplett aus Holz gebaut, "die einzigen Bauteile aus Beton sind der Fahrstuhlschacht und das Treppenhaus", sagt Muntendorf. In 82 Zimmern kann man übernachten, sie alle tragen die Namen von Bäumen und Sträuchern und sind entsprechend ausgestattet: Im Wacholderzimmer ist ein Ast des kleinen Baumes an der Wand befestigt, er windet sich Richtung Zimmerdecke. "Die Klimabilanz von Holz ist viel besser als von Beton", sagt Muntendorf. Beton ist sehr energieintensiv in der Herstellung, der nötige Sandabbau sorgt für Umweltschäden. Ganz anders beim Holz, das hier verbaut ist und für ein besonderes Raumklima sorgt: Wer zwischen den Fichtenholzwänden in den Innenräumen schläft, wähnt sich mehr in einer einsam gelegenen Blockhütte als in der Großstadt.

Nachhaltigkeit in Hamburg: Hotel in den Alpen? Nein, Zimmer im Wälderhaus in Hamburg.

Hotel in den Alpen? Nein, Zimmer im Wälderhaus in Hamburg.

(Foto: Wälderhaus)

Doch nicht nur beim Baumaterial soll sich der Gast wie im Baumhaus fühlen, auch in der Ausstattung wird auf umweltverträgliche Lösungen gesetzt. "Uns war wichtig, dass alle, die hier mitwirken, den Gedanken der Nachhaltigkeit auch weitertragen", sagt Muntendorf, nicht nur in ökologischer, sondern auch in sozialer Hinsicht. Deshalb werden gezielt auch Menschen mit Handicap und Langzeitarbeitslose eingestellt. Im Hotel gibt es Bio-Bettwäsche und -Handtücher, zudem wurde bewusst darauf verzichtet, die Zimmer mit energieintensiven Minibars auszustatten. Bei spontanen Gelüsten steht den Gästen ein großer Kühlschrank in der Lobby zur Verfügung.

Dort unten begegnen einem allerdings auch Betonwände und Rohre, die sich an der Decke entlang schlängeln: Das ganze Gebäude in Holz zu fertigen, war laut Bauordnung damals noch nicht möglich, Brandschutzgründe sprachen dagegen. Die Heizung des großen Gebäudes ist aber sehr nachhaltig: Ein im Rahmen der IBA errichtetes Blockheizkraftwerk in der Nachbarschaft erzeugt unter anderem durch Grünabfälle der Stadt Bio-Methan, mit der gewonnenen Wärme wird auch das Wälderhaus versorgt. Zusätzlich wird Geothermie genutzt, durch 128 Pfähle in der Erde unter dem Gebäude. Heizkörper gibt es in den Hotelzimmern nicht, dafür ein Belüftungssystem, wie bei Passivhäusern üblich, durch den Austausch von Luft. Und das hat abseits aller Klimafreundlichkeit auch einen praktischen Nebeneffekt: Da die Luft im Badezimmer abgeleitet wird, beschlagen die Spiegel nach dem Duschen nicht.

Nachhaltig wirtschaftende Unternehmen kommen gerne zum Tagen ins Wälderhaus

In der Hochphase der Corona-Pandemie hat das Wälderhaus wie alle Gastronomiebetriebe gelitten, in den vergangenen Monaten haben die Buchungen aber wieder stark zugenommen. "Viele Unternehmen, die selbst nachhaltig wirtschaften und arbeiten, tagen hier", sagt Muntendorf, auch das Restaurant im Erdgeschoss hat wieder Zulauf. "Genuss aus der Region" ist da das Motto, "alles, was man in Deutschland anbauen kann, wird aus einem Umkreis von 100 Kilometern bezogen". Gefüllte Teigtaschen mit Käse und Spinat stehen auf der Karte oder Steak vom "Wümme-Rind", das aus Fischerhude kommt. Die Marmeladen sind selbstgemacht, das Eis stammt von einem Händler in Wilhelmsburg. Ohnehin engagiert sich die Schutzgemeinschaft gezielt für den Stadtteil. Mit ihren Projekten will sie die Schulen in der Umgebung ansprechen, in der die Bildungschancen ungleich verteilt sind.

Umweltpädagoge Michael Rademann erlebt das bei seiner Arbeit mit den Grundschülern oft. "Man weiß genau, welche Schüler den Wald kennen", sagt er. Da seien die Wohlhabenden, deren Eltern mit ihnen von sich aus in den Wald gingen, und die finanziell schlechter Gestellten, "die haben überhaupt kein Walderlebnis". 77 Prozent der unter 18-Jährigen in Wilhelmsburg haben einen Migrationsuntergrund, auch das begünstige oft, dass das Thema Wald eher keine Rolle im Alltag spiele.

Nachhaltigkeit in Hamburg: In der Dauerausstellung können Kinder spielerisch etwas zum Thema Wald lernen.

In der Dauerausstellung können Kinder spielerisch etwas zum Thema Wald lernen.

(Foto: Johannes Arlt/Wälderhaus)

Um das zu ändern, gibt es im Wälderhaus eine Erlebnisausstellung mit Dutzenden Erkundungsstationen. Hinter der Tür erwarten einen gleich ein paar riesige Baumstämme, im Hintergrund grunzt ein Wildschwein, man kann in der Wunderkammer per Knopfdruck Exponate zappeln lassen. Rademann gibt hier Führungen, er hat sich auch eine Rallye ausgedacht, die die Kinder durch den Inselpark führt. Das ein oder andere Tier gibt es hier natürlich auch zu entdecken oder zu hören: "Grünspecht, Singdrossel, Hausrotschwanz." Aber die sind nicht so besonders wie der Ziegenmelker.

25 Vogelführungen macht Rademann in etwa jedes Jahr, mit den Schülern ist er eher im Rahmen von Projekten in benachbarten Waldschutzgebieten unterwegs. "Sie sollen den Wald mit allen Sinnen erleben", sagt er. Vor allem will man weg von klassischen Baumbestimmungen. Das sei zwar bei Lehrern beliebt, aber nicht bei Kindern. Im "Waldcoaching" geht es auch darum, die Lehrkräfte dazu zu ermutigen, eigenständig mit ihren Klassen die Wälder zu erkunden. "Seit Neuestem heulen wir wie die Wölfe", sagt Rademann und lacht, in einem Fangspiel lernen die Schüler, wie sich Rehkitze vor Wölfen schützen, indem sie sich ganz ruhig verhalten. Und dann hört Rademann manchmal eine Frage, die ihn berührt und gleichermaßen erschreckt: "Kostet der Wald normalerweise Eintritt?"

Informationen: waelderhaus.de

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