Wird ein Museum 100 Jahre alt, und man sieht ihm das an, dann gilt das im Allgemeinen nicht als Kompliment. Und fragt dann ein Kind bei einer Tour im Museum für Hamburgische Geschichte in aller Unschuld, "was finden Erwachsene an Museen eigentlich so toll?", erahnt man sofort die panische Angst der Kuratoren, versagt zu haben in den Augen einer Jugend ohne Buch und Geduld. Und das, obwohl der ständige Ruf nach zeitgenössischen Präsentationsformen mit computergeneriertem "Content" mancherorts schon dazu führt, dass Ausstellungen verflachen wie Instagram-Kanäle.
Nun führt der Druck, eine riesige Artefakte-Sammlung neuen "Sehgewohnheiten" verträglich zu machen, nach einem Jahrhundert auch in Hamburg zu radikalen Maßnahmen. Das 1922 auf dem alten Wallring zwischen Reeperbahn und Michel eröffnete Museum wird im Februar 2023 seine Dauerausstellung für vier Jahre schließen und komplett modernisieren. So bietet sich in den nächsten Monaten die letzte Gelegenheit, eine interessant unmodische Sammlung zu durchstreifen, die all ihre historischen Schichten zeigt. Die Idee, wie Geschichte lebendig bleibt, präsentiert sich in einem der größten stadthistorischen Museen der Welt so lange noch wie mit 100 Jahresringen.
Schon der Bau des verschachtelten Hauses während des Ersten Weltkriegs folgte dem Konzept, den harmonisierenden Einfluss von Museumsarchitektur zu vermeiden. Stilistisch einheitliche Großformen erzeugen ja immer den Eindruck, etwas kulturell abgeschlossen zu haben. Doch die prachtvollen stadthistorischen Museen der Jahrhundertwende wie das Bayerische Nationalmuseum oder das Märkische Museum in Berlin begründeten eine andere Tradition. Als Stilcollage unterschiedlicher Baukulturen sind diese berühmte Vorgänger für Fritz Schumachers Entwurf, der allerdings keine Architekturstile vermischte. Für das imposante L-förmige Hofgebäude bezeugte er die Epochen durch Originale - für die sein ruhiges Backsteingebäude den Rahmen setzte.
Der legendäre Oberbaumeister Hamburgs, der bis zu seiner Absetzung durch den NS-Staat die Stadt prägte wie niemand vor ihm, verwendete dafür mehr als 300 Spolien, also Bauteile verlorener Stadthäuser. Prägende Bauelemente, die nach dem großen Brand von 1842 gerettet wurden, wie die Kaiserstatuen des Rathauses oder das Portal der zerstörten Petrikirche, wurden durch Schumacher vom Bauhof ebenso recycelt wie Säulen, Inschriften, Galionsfiguren, Wappen, Fenster, bemalte Decken und ganze Zimmer.
Von der Fassade über das repräsentative Treppenhaus bis in den hintersten Winkel unterm Dach finden sich solche Einbauten von Altertümern, deren moderner Fluch es ist, dass sie so wahnsinnig alt aussehen. Doch obwohl selbst Besucher, die Authentizität von Dingen mehr schätzen als ihr digitales Abbild, bemängeln können, dass Beleuchtung und Beschriftung hier gelegentlich aus dem Schreibmaschinen-Zeitalter stammen, ist das konkrete Nacherleben früherer Lebensräume der Stadt noch etwas Echtes. Vielleicht gerade auch wegen der musealen Muffigkeit, die den Alltag in Zeiten ohne Strom, Gasheizung, Doppelfenster und Vollisolierung passend sinnlich untermalt.
Dass die Zeit in diesem Haus an vielen Stellen stehen geblieben ist, muss nicht nur als Frevel einer ewig unterfinanzierten Museumspädagogik verstanden werden, sondern lässt sich als intensiver Kontrast zur Gegenwart und unserem medialen Geschichtsbild lesen. Das wird nirgends plastischer vorgeführt als im großen Saal der Modelleisenbahnen. Im Gegensatz zu Hamburgs beliebtester Sehenswürdigkeit, dem Miniatur-Wunderland in der Speicherstadt mit actionreichen Mikrowelten, ist das 1949 im Museum eröffnete Spielfeld für Hobby-Lokführer ein Panorama der Nachkriegszeit.
Jede Figur, vom Geige spielenden Obdachlosen bis zu "Kirsten", die an der Schlachthofbrücke "dem Nord-Express zuwinkt", repräsentiert die Geschichte einer Umbruchzeit in einem stimmigen mehrdimensionalen Kontext und für Menschen, die sich an den Wiederaufbau nicht mehr persönlich erinnern können. Würden all diese spielerischen Erzählungen einer niedlich idealisierten Hoffnungsepoche als Files in einer digitalen Anwendung verschwinden, sie wären so flüchtig wie ein Tiktok-Video.
Die Collage der Epochen, die Fritz Schumacher in der Architektur verwirklicht hat, findet sich also in den vielen pädagogischen Ansätzen der vergangenen hundert Jahre im Haus wieder. Hölzerne Stadtmodelle, die Hamburg in unterschiedlichen Jahrhunderten darstellen, nachgebaute Lebenssituationen auf dem Zwischendeck eines Auswandererschiffs, in einem Kolonialwarenladen oder einer St.-Pauli-Kneipe, ein rekonstruierter Synagogenraum, eine WG-Bude von Achtundsechzigern oder Vitrinen mit vergilbten Erklärzetteln finden sich in dem total heterogenen Wachstum der Didaktik ebenso wie Beamer und Computerbildschirme, Videos und App-Angebote. Tatsächlich befriedigen alle Angebote auf ihre Art die Neugier, Nützliches oder Skurriles zu erfahren, sei es über Pest, Syphilis und Franzosenzeit oder Münzen, Hafen und Studentenprotest.
Das etwas vollgestopfte Ambiente des Museums, in dem sogar ein so berühmtes Stück wie der angebliche Schädel des Piraten Klaus Störtebeker, genagelt auf einen Balken, nur auf dem Gang präsentiert wird, hat natürlich den größten Reiz für Menschen, die auch Trödler und Flohmärkte als Entdeckungsreise genießen.
Dies Altertümliche wird in der kommenden Verwandlung nun geklärt, wenn deutlich weniger als 5000 der insgesamt mehr als 500 000 Objekte des Museums weiter ausgestellt werden. Dafür soll dann endlich auch das Thema "Kolonialismus" adäquat kommentiert sein, das als kleine künstlerische Intervention gegenüber der Glorienproduktion für die Hamburger Überseekaufleute im Moment doch arg kurz kommt.
Es kann nach der Ankündigung für die 36 Millionen teure Neuaufstellung des Museums, die Dauerausstellung längs Themensträngen wie Migration, Medien, Postkolonialismus, Umwelt und LGBTIQA+ auszurichten, also als sicher gelten, dass die spröde und speicherhafte Originalität dieses Museums sich verflüchtigen wird - und das Museum damit vielen anderen Museen etwas ähnlicher wird. Das mag nötig sein, damit die digital sozialisierten Kinder von heute als Erwachsene diese Museen toll finden können. Aber es geht dabei eben auch etwas Historisches verloren, das es jetzt noch in diesem spukhaften Schloss für Hamburger Geschichte zu erleben gibt. Gewachsene Aura. Bevor die in der Ferne der Erinnerung verschwindet wie Kerstins Nord-Express, wäre es ein Kompliment für die Kuratoren der vergangenen 100 Jahre, wenn noch viel Besuch käme.