Musikfestivals in Hamburg:St. Pauli? Wilhelmsburg!
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Im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg ist eine bunte, fröhliche Kulturszene entstanden. In diesem Sommer laden mehrere Musikfestivals dazu ein, das zu erleben.
Von Till Briegleb, Hamburg
Wilhelmsburg ist ein wenig das emigrierte St. Pauli von früher. Das liegt nicht nur daran, dass die Elbinsel zwischen Nord- und Südarm von Hamburgs Hauptfluss so polyglott ist wie einst das Stimmgewirr in den Hafenkneipen. 60 Prozent der Menschen in diesem riesigen Stadtteil stammen aus Familien, die aus mehr als 100 Nationen hierher zugewandert sind. Der wahre Grund ist ein atmosphärischer. Wilhelmsburg ist inzwischen der Ort der Optionen, Provisorien und interessanten Unbestimmtheiten, der Hamburgs Rotlichtviertel einmal war, bevor die großen Gentrifizierungswellen St. Pauli zu einem teuren Wohnort mit Hang zur Glätte gemacht haben.
Der starke Verlust an Vielfalt, den die Immobilienspekulation und ihr reges Abriss- und Neubau-Verhalten im Zentrum hinterließ, wurde aber zum Glücksfall für Hamburgs größtes Quartier im Süden, das schon von seiner Anlage her so facettenreich ist wie kein anderes. Landwirtschaft und Hafenanlagen, Großindustrie und Kleingärten, Gründerzeitquartiere und Trabantenstädte, Wassersiedlungen und Brachflächen sorgen für den ständig wechselnden Charakter, der Wilhelmsburg wie ein ganzes Land in Inselform erscheinen lässt, allerdings ohne Rotlichtviertel.
Aber dafür mit einer riesigen Szene an Menschen aus aller Welt, die sich in den unterschiedlichsten Kulturformen ausdrücken, eben wie im einstigen Kreativviertel St. Pauli, als es dort noch große Wohnungen billig und leerstehende Fabriketagen, Läden und Kiezclubs in Mengen gab.
Um diese Kosmopolis in ihrer fröhlichsten Form zu entdecken, ist das Festival "48 Stunden Wilhelmsburg" der ideale Zeitpunkt. Denn das seit 14 Jahren jährlich im Juni stattfindende Musikpuzzle verteilt sich über den ganzen Stadtteil und lockt mit Klängen zu Orten, die Fremde schon aus Schüchternheit kaum betreten würden.
"Ich war mit der Oma in der Oper, ich habe Angst."
Von der Stadtentwicklungsbehörde bis zur Apfelwiese des Kleingartenvereins "Op Schulzens Eck", von Hinterhöfen bis zur Sparkasse, vom Bürgertreff bis zur Seniorenwohnanlage finden sich in diesem Jahr am zweiten Juni-Wochenende improvisierte Bühnen, dazu natürlich in den zahlreichen kulturellen Einrichtungen der Insel staatlicher wie privatinitiativer Art.
Wenn die auf diesem gigantischen Nachbarschaftsfest auftretende Spaßrock-Band Drei Säcke Bauschutt in ihrem Video zur Selbstankündigung singt, "Ich war mit der Oma in der Oper, ich habe Angst", dann beschreibt das einen perfekten Kontrast zu diesem absolut niedrigschwelligen Programm. Weil hier keine prominenten Bands auftreten, sondern Spaß-an-der-Freude-Musiker und -Musikerinnen, regieren hier auch keine Absperrgitter und massige Sicherheitsleute, sondern unkomplizierte Gastfreundschaft.
Kioskbesitzer schleppen Bänke an, Getränkepreise bleiben milieugerecht, und Bands, Chöre, Solistinnen und Solisten zeigen offenherzig ihr Glück über Publikum. Das heißt natürlich auch, dass es bei dieser Expedition ins Wilhelmsburgische nichts zu hören gibt, was mensch schon von Spotify oder Youtube kennt. Aber was heißt das schon? Keine Angst!
Bei "48h Wilhelmsburg" singt die Gruppe Cemre türkische Protestsongs, und Flairdrum spielen eine Marimba aus aufgepumpten PET-Flaschen, Female Singer Wanted versprechen "Gepolter, Radau, Geknister und Bohei" und die Flotten Ottos haben "fünf Lieder in vier Jahren geschrieben, sind aber am sechsten dran".
Es gibt Healing Music und reisende Vortragskünstler, Tischtennis bei Techno und Bossa Nova, DJ-Sets und Shantychöre, Folk-Pop auf Plattdeutsch und Tubenbub*innen, Capoeira Angola und Italo-Balkan-Klezmer. Es gibt alles und noch mehr, und alle, die das Festival schon erlebt haben, wissen, dass der Zufall hier Konzertmeister ist und viele Entdeckungen bereithält, wo mensch sie nicht erwartet hätte. Fahrradleihen ist unbedingt empfehlenswert.
Alles, was in den mittlerweile extrem dehnbaren Begriff von "Jazz" passt
Mehr das traditionelle Festivalfeeling bieten die beiden viel prominenteren Konzertereignisse, die von Mainland Hamburg auf die Hafeninsel gezogen sind, weil es hier eben große von Arbeit geprägte Areale gibt, in denen viel Raum und keine empfindlichen Nachbarn zu finden sind. Blohm & Voss, sonst eine Terra incognita, wo in sieben Docks vom Containerschiff bis zur Oligarchen-Yacht an allem Schwimmbaren herumgeschweißt wird, ist der faszinierende Spielort des "Elbjazz"-Festivals, das diesmal am selben Wochenende stattfindet wie "48h Wilhelmsburg". An vier Standorten auf dem Werftgelände, darunter in einer Schiffbauhalle, versammelt sich alljährlich, was in den mittlerweile extrem dehnbaren Begriff von "Jazz" passt.
Hier spielt die Techno-Marching-Band Meute, die aus dem Hamburger Schanzenviertel mit der Ambition gestartet ist, so berühmt zu werden wie Rammstein, auf der Hauptbühne nach Dope Lemon, einem eher klassischen australischen Pop-Songwriter mit nasalem Gesang, während in der Schiffbauhalle die stark von Fela Kuti inspirierte nigerianische Musikerin Camilla George tanzbare London-Coolness aufführt. Aber es gibt bei den Reedern auch an die traditionelleren Linien des Jazz erinnernde Konzerte, etwa das den freundlichen ECM-Sound pflegende Tingvall Trio, oder Verbindungen von Miles-Davis-Trompete und Rap wie bei Nils Wülker.
Abseits des Ambientes aus Containertürmen, schwerem Gerät und Hafenblicken gewährt das Festivalticket zudem Eintritt in die Elbphilharmonie, wo Sarah McCoy mit ihrer zwischen Amy Winehouse, Aretha Franklin und Janis Joplin changierenden Stimme das Feld von Blues und Jazz zum Leben erweckt, oder zur schönen Katharinenkirche, wo der ukrainische Jazzpianist Vadim Neselovskyi eine leise Hommage an seine unter Beschuss stehende Heimatstadt Odessa spielt.
MS Dockville: Wie Wacken für Indiemusik
Am Ende des Sommers, von 18. August an, sollen dann wieder 60 000 Leute, davon 10 000 Festivalcamper, auf das weiträumig abgesperrte Gelände des "MS Dockville" in Wilhelmsburg strömen, sozusagen als kommerzielles Kontrastprogramm zu "48h Wilhelmsburg". Das 2007 unter der künstlerischen Leitung des Malers Daniel Richter als Crossover-Spielplatz von Kunst und Musik gegründete Fest ist schon seit Längerem ein Wacken für Indiemusik. Im Rahmenprogramm bietet es weniger Kunst als Comedy, dieses Jahr etwa den frech-klugen Volkstribun der Internet-Linken, El Hotzo.
Auf mittlerweile zwölf Bühnen werden primär deutsche Acts der mittleren Reichweite gezeigt, von denen nur die Top-Acts in der Millionen-Klicks-Liga spielen wie Giant Rooks, Paula Hartmann, Monolink oder Schmyt. Dazu gruppieren sich einige internationale Namen wie die zu schleppenden Beats melancholische Poesie singende Britin Arlo Parks oder die exzentrische israelische Rapperin Noga Erez mit ihrem Hit "End of the Road". Ein Titel, der einst auf die ganze Elbinsel passte, als sie für Hamburger wie Auswärtige eine diffuse Landschaft war, die man bei der Einfahrt von Süden aus dem Auto- oder ICE-Fenster vorbeihuschen sah.
Doch der Song des bei "48h Wilhelmsburg" auftretenden Sängers Migati, "Ein einziges Mal war ich in Wilhelmsburg", verliert durch die Musikereignisse auf der Insel für immer mehr Menschen die Gültigkeit. Bleibt nur zu hoffen, dass das nicht dieselbe Gentrifizierung wie in St. Pauli zur Folge hat.