Haldigrat in der Schweiz:Kurt und der Lift

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"Es war ein bisschen so, wie ich mich dazu entschieden habe, meine Frau zu heiraten. Man kann auch sagen, ich habe mich in den Lift verliebt." Kurt Mathis über seinen Skilift. (Foto: Thaïs Odermatt/maximage)

Ski-Zirkus, Pisten-Autobahn, Massenauflauf? Nicht am Haldigrat bei Luzern. Hier betreibt ein Mann seine eigene Sesselbahn. Wer sie nutzen will, muss vorher anrufen.

Von Charlotte Theile

2001 hat Mathis den Lift zum Haldigrat gekauft, "spontan", er hatte in der Zeitung davon gelesen. Die vorherigen Besitzer, zwei Brüder aus dem Aargau, fanden, der Lift rentiere sich nicht mehr. Es war sogar die Rede davon, ihn abzureißen.

"Ich habe mir den Lift angeschaut und mich entschieden, ihn zu kaufen", sagt der 59-Jährige, der hier selbst seit seiner Jugend Ski gefahren war. "Es war ein bisschen so, wie ich mich dazu entschieden habe, meine Frau zu heiraten. Man kann auch sagen, ich habe mich in den Lift verliebt. Ja, so war es."

Seither ist das Skigebiet ein Familienbetrieb, es kommen vor allem Tiefschneefahrer, denn planierte Pisten gibt es keine. Mit seinen zwölf Sesseln kommt er an Neuschnee-Tagen manchmal kaum hinterher. Bei der vorherigen Stundenleistung, 550 Personen, hat er einfach eine Null gestrichen. Jetzt sind es 55 Personen, die pro Stunde zur knapp 2000 Meter hoch gelegenen Bergstation gezuckelt werden können. "Das heißt nur, dass es nicht mehr so viele sein sollen", sagt Mathis. Schließlich ist sein Lift ja ein Ein-Mann-Betrieb.

"Es kann immer sein, dass der Lift stehen bleibt"

Pascal darf heute den Lift steuern, von der Talstation aus. In dem dunklen Häuschen mit der Aufschrift "Sesselbahn Brisen Haldigrat" hat Kurt Mathis eine kleine "Bähnler-Kammer" eingerichtet. Dicke Decken, eine Pritsche, Pin-Up-Girls an der Wand. Es sind ein paar Grad unter Null, eisiger Schnee weht auf den 700 Höhenmetern, die der Sessellift bis zur Bergstation überwinden muss. Drei Sessel und eine Transportkiste hängen in den Seilen.

Alles im Blick in der Bähnler-Kammer (Foto: Thaïs Odermatt/maximage)

"Ich war schon ein paar Tage nicht mehr hier. Ich hoffe, es funktioniert noch alles", sagt Mathis und lädt mit seiner Frau ein paar Getränkekartons in die Transportkiste. Seine Enkelin sitzt eingemummelt in eine Decke auf einem der Sessel und wartet, dass es los geht. Kurt Mathis setzt einen alten Rucksack auf seinen Schoß. Darin ist Reparaturwerkzeug und etwas zum Abseilen. "Es ist mir zwar in den letzten Jahren nie passiert. Aber es kann immer sein, dass der Lift stehen bleibt." Mathis nickt Pascal zu: "Es kann losgehen." Das alte Rad hinter ihm setzt sich langsam in Bewegung.

Auf der Fahrt nach oben hält er den Rucksack mit dem Werkzeug fest umklammert. Auf seinem Kopf sitzt ein Jägerhut, mit Feder. Schnee weht ihm ins Gesicht, bleibt auf seiner Jacke und auf seinem Bart liegen. Kurt Mathis zeigt auf die Seile, an denen der Sessel nach oben gleitet. "Die gehen immer wieder kaputt, wenn man sie zu viel benutzt." Auch deshalb lässt er den Lift im Winter nur am Wochenende laufen. Außerdem hat er noch einen anderen Job, ein Verputz-Unternehmen. Und der Haldigrat? "Ist mein Hobby", sagt Mathis.

Seit er das Skigebiet gekauft hat, ist auch seiner Frau Antoinette ein neues Hobby zugefallen: Sie betreibt das Berggasthaus mit Restaurant und 70 Hotelbetten, von edlen Doppelzimmern mit weitem Blick ins Tal bis zu einfachen Pritschen im Schlafsaal. "Wer hierher kommt weiß, dass wir ein Familienbetrieb sind und bei uns nicht alles so perfekt läuft wie in anderen Hotels", sagt Mathis. Trotzdem, die Betten sind beliebt. Über Silvester sei alles ausgebucht.

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Den Jäger-Hut trägt Kurt Mathis nicht umsonst

Dann führt er in die Privaträume der Familie. Zwei einfache Betten, ein großer Wintergarten, Blick ins Tal. Die Holzwand dahinter ist mit Dutzenden Geweihen geschmückt. Kurt Mathis trägt seinen Jäger-Hut nicht umsonst. Stolz zeigt er ausgestopfte Steinbockköpfe, Hirschgeweihe, Gämsenhörner. Bevor er den Haldigrat gekauft habe, sei die Jagd sein einziges Hobby gewesen. Noch heute ist er gern zum Jagen hier oben.

Wer geduldig ist, kann aus dem Fenster Steinböcke, Hirsche oder Adler sehen. Auch im Restaurant hängen Geweihe, eine Wand ist voll mit ausgestopften Tieren. "Mir haben mal ein paar Gäste gesagt, ich solle das wegnehmen, diese toten Tiere, das fänden sie grausig", erzählt Mathis. Aber: Er habe ja kein eigenes Skigebiet, um sich dann Geweihe an der Wand verbieten zu lassen.

Kein Rummel, keine Pistenraupen: Am Haldigrat ist alles anders. (Foto: Thaïs Odermatt/maximage)

Jeder Rappen wird reinvestiert

Im Restaurant hat Antoinette Mathis Apfelpunsch gemacht. Kurt holt ein Foto-Album aus dem Regal. Fast alle Bilder zeigen Bauarbeiten: Hier wird der Fußboden verlegt, da das Dach für den Anbau mit dem Helikopter gebracht, dort die Fenster eingesetzt. Was kostet so ein Lift?

"Zwischen einem und einer Million Franken" habe er für Sessellift und Restaurant bezahlt, sagt Mathis nur und grinst. Seither werde jeder Rappen, den er verdiene, reinvestiert. Der Haldigrat trägt sich selbst - wenn man von einem Schönheitsfehler absieht: Weder Kurt noch seine Frau bekommen für ihre Arbeit Geld. "Das", sagt Kurt, "ist nun mal das Merkmal eines Hobbys."

Dann werden die Getränke aus dem Sessellift geholt. Kurt Mathis klettert in die Transportkiste, reicht die Kisten herunter. Seine Frau stellt sie auf einen Treppenlift, der die Getränke langsam in den Keller fährt. "Ein Geschenk von Kurt", sagt sie. Früher habe sie alles schleppen müssen.

Kurt Mathis, der inzwischen durch den Kurzfilm "Kurt und der Sessellift" bekannt geworden ist, betritt das Restaurant an einem Skitag so gut wie nie. Er sitzt in einem Holzhäuschen zehn Meter weiter oben. Es ist etwa einen Quadratmeter groß und nicht heizbar. Von dort bedient er den Lift.

Ein paar kleinere Erfrierungen habe er sich schon geholt, aber sonst fühle er sich in dem Häuschen wohl, sagt Mathis und rückt den Jägerhut zurecht. Wann er den Lift in diesem bis dato schneearmen Winter aufmachen kann? Mathis schüttelt langsam den Kopf. "Beim Wetter und bei den Frauen, da muss man sich anpassen. Sonst hast du verloren."

Doch bis auf das Wetter läuft hier oben alles so, wie er, Kurt Mathis, das für richtig hält. Wenn der Lift einmal nicht geht, muss man ihn eben anrufen. Seine Handynummer steht an der Talstation.

20 Franken, rund 17 Euro, ist der Einstiegstarif. dafür gibt es zwei Fahrten, entweder rauf und runter, oder zweimal hoch. Mathis notiert sich die Namen derer, die schon gefahren sind. Wer einen Nachmittag lang skifahren will, muss einiges ausgeben. Trotzdem kommen jedes Jahr mehr Freerider, etwa aus dem nahen Engelberg, wo inzwischen einige Ski- und Snowboard-Lehrer einen Ausflug zum Haldigrat im Programm haben. "Die rufen vorher an und fragen, ob ich aufmachen kann", sagt Mathis.

Zwei Fahrten kosten 20 Franken, entweder hoch und runter, oder zweimal hoch. Gezahlt wird bar auf die Hand. (Foto: Thaïs Odermatt/maximage)

Berühmtheit als "Chrampfer"

So kommt es, dass Kurt Mathis, der sich schon bei einem Weihnachtsmarktbesuch in der Nachbarstadt unwohl fühlt, "weil es einfach zu weit weg ist", inzwischen vielen Kanadiern, Schweden und Australiern ein Begriff ist. In der Schweiz ist Kurt Mathis schon eine kleine Berühmtheit. "Chrampfer" wird er genannt.

Ein Chrampfer, das ist einer, der das Arbeiten nicht sein lassen kann. Einer, der immer noch etwas zu tun sieht, der im Urlaub nervös wird. "Seit wir verheiratet sind, war ich einmal auf Rhodos", sagt er. "Das hat mir gereicht." Viele Skigebiete haben sich in den vergangenen Jahren zusammengetan, bieten immer mehr Pistenkilometer, komfortable Lifte und perfekt präparierte Pisten. Am Haldigrat ist alles anders.

Eine festgelegte Piste gibt es bei Kurt Mathis nicht. In der Talstation hängt eine Karte, die zeigt, wo man nicht fahren soll: Im Wald gibt es ein Wildschutzgebiet, wer die Tiere dort stört, muss mit einem Bußgeld rechnen. Der Rest bleibt den Wintersportlern überlassen. "Alles ist möglich und nichts ist sicher" - so hat Kurt Mathis den Haldigrat zusammengefasst oder auch: "Unkontrolliertes Skigebiet, eigenes Risiko." Schwere Unfälle oder Lawinentote hat es, seit er hier ist, nicht gegeben.

Während der zwölf Minuten, die der Sessellift nach oben fährt, hat man eine sensationelle Sicht auf die Berge, Luzern und den Vierwaldstätter See. Der eisige Schnee, der einem dabei ins Gesicht weht und die Zehen, die langsam einfrieren, lassen allerdings nicht zu viel Gemütlichkeit aufkommen. Manche fahren gleich in der Transportkiste nach oben. Seit einigen Jahren fährt Kurt nicht mehr Ski. Als junger Mann jedoch sei er mit Begeisterung dabei gewesen, auch auf dem Haldigrat. Dass dies einmal sein Skigebiet werden könnte, hatte er keine Sekunde für möglich gehalten. Doch dann bot sich die Chance - und Mathis nutzte sie. "Ich war in meinen besten Jahren und konnte mich mit voller Kraft hineinstürzen", sagt er. Bald müssten Jüngere übernehmen. Er deutet auf Enkeltochter Ilena, die mit seiner Frau Antoinette eine neue Schweizer Flagge in die Eingangshalle hängt. Sie ist zwar erst acht Jahre alt, doch er, Kurt, schaffe sicher noch zehn Jahre.

Auf der Fahrt kann es ganz schön eisig werden. (Foto: Thaïs Odermatt/maximage)

Ein paar Jahre noch, dann ...

Und auch Pascal, der seit zwei Stunden geduldig in der Bähnler-Kammer der Talstation sitzt, hätte vielleicht Interesse, den Haldigrat zu übernehmen. Er hat sogar eine Studien-Arbeit über den Lift und das Skigebiet geschrieben, sagt Mathis. "Viele denken, das sei unser Bursche", sein Sohn also. Mathis korrigiert sie nicht.

Dann, auf dem Weg nach unten, bleibt der Lift plötzlich stehen. Mathis funkt zu Pascal nach unten, der Vierwaldstätter See funkelt im Abendlicht. Pascal soll ausschalten, warten, wieder anschalten. Nichts passiert. Kurt Mathis klopft auf seine Werkzeug-Tasche. "Brauche ich die heute am Ende doch noch?"

Da setzt sich der Lift langsam wieder in Bewegung.

Kurt Mathis brummt zufrieden. Dann sagt er, es sei zwar noch nicht ganz ausgemacht mit seiner Frau, aber in ein paar Jahren, wenn er in Rente gehe . . . Mathis hält einen Moment inne. "Dann würde ich eigentlich gern hier oben bleiben."

Immer eingestellt auf alle Eventualitäten: Liftwart Kurt Mathis (Foto: Thaïs Odermatt/maximage)
© SZ vom 24.12.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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