Nemeische Spiele in Griechenland:Alles für den Siegeskranz aus Sellerie

Nemeische Spiele in Griechenland: Den Stadionlauf gab es in der Antike nicht nur in Olympia. Auch in Delphi, Isthmia und Nemea fanden Spiele statt.

Den Stadionlauf gab es in der Antike nicht nur in Olympia. Auch in Delphi, Isthmia und Nemea fanden Spiele statt.

(Foto: Yorgos Karahalis/AP)

Von wegen nur Olympia: Auch das griechische Nemea war Teil eines antiken Grand Slams. Wer auf sich hielt, war dabei. Heute erinnern dort wieder Wettbewerbe daran, wie Sport einst aussah.

Von Peter Linden

Es ist später Nachmittag, als die Schüler des Erlanger Emmy-Noether-Gymnasiums und ihre Widersacher endlich zum Tunnel gerufen werden. Viele Stunden haben sie unter Pinien gewartet, jetzt stehen sie da, in weiße Chitons gehüllt, Unterkleider, die man im alten Griechenland direkt auf der Haut trug. Ihre Schuhe haben die Zehntklässler im Umkleidezelt zurückgelassen. Einem Schüler will der Hellanodike noch die Sonnenbrille abnehmen, doch der versichert, er könne ohne sie nichts sehen im prallen Sonnenlicht des antiken Stadions von Nemea. Der Schiedsrichter mit dem schwarzen Überwurf und dem einschüchternden Schlagstock lässt es diesmal gut sein. So darf auch dieser Läufer eintreten in den Tunnel, der ins Stadion führt - in die Welt der Antike.

Seit sechs Jahren finden in Nemea die Nemeischen Spiele der Moderne statt - in Erinnerung an die antiken Spiele, die es auch hier gab. Nemea, einst ein wichtiges Zeusheiligtum, liegt eine halbe Fahrstunde südwestlich von Korinth. Es ist die Region, in deren Wäldern einst Herakles der Legende nach dem Nemeischen Löwen nachsetzte, um ihn dann mit bloßen Händen zu erwürgen. Heute gehen die Sportler durch einen Athletentunnel, der ein sehr frühes Beispiel für ein steinernes Gewölbe ist; er datiert auf etwa 325 vor Christus. Und es grenzt fast an ein Wunder, dass der Tunnel überhaupt entdeckt wurde.

Es war der 3. Mai 1978. Stephen G. Miller, dem Professor aus Kalifornien, war gerade mal wieder das Geld ausgegangen, als die Archäologen am letzten Ausgrabungstag am Rand des Stadions von Nemea auf einen Kalkstein stießen. Schnell war klar: Das ist der Eingang der Athleten, nach dem sie so lange gesucht hatten. Jener Eingang, vor dem nun ein junger Grieche alle paar Minuten durch eine antik anmutende Messingtrompete bläst, ehe ein Herold die Namen der nächsten zwölf Läufer in das von Hügeln gesäumte Oval ruft.

Nemeische Spiele in Griechenland: Durch diesen Tunnel musst du gehen.

Durch diesen Tunnel musst du gehen.

(Foto: Yorgos Karahalis/AP)

1500 Läufer und Läuferinnen haben in diesem Jahr das Stadion von Nemea erlebt. Die Teilnehmer haben sich, ganz modern, über ein Online-Portal angemeldet; bei den Erlanger Schülern war es der Sportlehrer, der sie zu der Griechenlandreise motiviert hat. Von den Teilnehmern wird jeder zwölfte einen Palmenzweig erhalten und am Abend einen Siegeskranz aus wildem Sellerie auf dem Kopf tragen. Er darf sich fortan Nemeonike nennen.

Bis es so weit war, dass Frauen und Männer, Junge und Alte aus aller Welt durch diesen Tunnel treten können, um in der antiken Wettkampfstätte zu laufen, bedurfte es fast 20 Jahre archäologischer und diplomatischer Bemühungen. Stephen G. Miller verstand es nach der Entdeckung des Athleteneingangs nicht nur, die Geldgeber seiner Universität neu zu motivieren. Er konnte auch die griechischen Behörden davon überzeugen, den Tunnel behutsam zu restaurieren und das sportliche Treiben an der zweitwichtigsten Sportstätte der Antike wiederzubeleben.

Es war ja keineswegs nur im 150 Kilometer entfernten Olympia, wo sich die Sportler in vorchristlicher Zeit maßen. Zwar ist Olympia die älteste der Wettkampfstätten, mit einem unter Historikern umstrittenen ersten Olympioniken namens Koroibus von Elis im Jahr 776. Doch 200 Jahre später hatten sich Delphi, Isthmia und Nemea dazugesellt und bildeten gemeinsam mit Olympia die Orte der Panhellenischen Spiele, einer Art antikem Grand Slam. Wer auf sich hielt, trat vor den Olympischen Spielen in Nemea an und danach auch in Isthmia und Delphi. Verbrieft sind sogenannte Periodoniken, die bei allen vier Spielen in Folge in einer Sportart siegten.

"Kommerzielles Catering in Form von Weinausschank"

Während das antike Olympia vor allem durch die Größe des Geländes und die Vielzahl gut erhaltener Bauten, Säulen und Gemäuer beeindruckt und Delphi seinen Weltruhm des Orakels wegen bewahrte, verschwanden Isthmia und Nemea ein wenig aus dem Fokus der Sporthistoriker und auch der Touristen. In Isthmia vor den Toren Korinths müht sich Timothy E. Gregory von der Universität Ohio bis heute vergeblich, das Stadion auszugraben.

"Wir wissen, wo es sich befindet. Wir sind bei Bohrungen auf gut erhaltene Steintribünen für möglicherweise bis zu 80 000 Zuschauer gestoßen. Doch wir haben nicht die Mittel, mit der Arbeit zu beginnen", sagt der 73-jährige Archäologe. Und so bekommt, wer auf der Landstraße am Ortsrand von Kria Vrisi aus dem Auto steigt und dort in eine oval geformte, grün überwucherte Senke blickt, bloß eine Ahnung von den gewaltigen Ausmaßen eines der größten Stadien der Antike.

Anders Nemea. In der Antike ließen sich schon mal 30 000 Zuschauer unter Pinien auf den Hügeln nieder. An diesem Samstag im Juni 2016 sind es immerhin 5000 Menschen. Manche haben Decken mitgebracht, wie es die alten Griechen taten, manche sitzen auf weißen Plastikstühlen, die eines der wenigen sichtbaren Zugeständnisse an die Gegenwart sind.

Nemeische Spiele in Griechenland: SZ-Karte

SZ-Karte

Miller, der sich in die gelbe Kluft eines Sklaven gehüllt hat, um gemeinsam mit vielen Freiwilligen das Sportfest zu organisieren, hat im weichen Boden der Hügel und in den Erdschichten über der freigelegten Laufstrecke so manches entdeckt, was den antiken Sport weniger mythisch und etwas menschlicher erscheinen lässt. Die vielen Scherben von tönernen Weinbechern zum Beispiel, denen die Scherben von nur zwei riesigen Amphoren gegenüberstehen: "Das spricht ganz klar dafür, dass es kommerzielles Catering in Form von Weinausschank gab." Oder die zahlreichen Münzen, die die Archäologen fein geordnet nach den griechischen Stadtstaaten in den verschiedenen Sektoren der Tribünen fanden: "Das zeigt, dass sich die Besucher in Fangruppen sammelten."

Die zwölf jungen Athleten aus Erlangen schreiten derweil an die vollkommen erhalten gebliebene, steinerne Startlinie und graben dort ihre Zehen in eingemeißelte Rillen. Bei ihren Ausgrabungen fanden die Archäologen außerdem kleine, quadratische Mulden für die Startvorrichtung. Viele Jahre tüftelten Stephen G. Miller und seine Leute an deren Rekonstruktion, bis sie herausfanden: Um Fehlstarts zu vermeiden, waren in der Antike Seile vor den Athleten gespannt, fixiert an hölzernen Pfählen. Auf Kommando zog der Starter an einem anderen, mit beiden Enden der Vorrichtung verbundenen Seil. Sobald die Pfähle umstürzten, rannten die - aufrecht stehenden - Läufer los.

Nemeische Spiele in Griechenland: Während des Turniers wacht ein strenger Hellanodike, der Schiedsrichter, über die Läufer.

Während des Turniers wacht ein strenger Hellanodike, der Schiedsrichter, über die Läufer.

(Foto: Yorgos Karahalis/AP)

Den Anfang aller Wettbewerbe bildete der Stadion-Lauf. Ein "Stadion" misst exakt 600 Fuß; diese Maßeinheit bedeutete je nach Region allerdings etwas anderes. So kam es, dass die Teilnehmer in Olympia mehr als 192 Meter laufen mussten, in Delphi und Nemea aber nur etwa 178 Meter. Und nicht einmal diese Strecke ist bei den Nemeischen Spielen der Moderne zu bewältigen, da es den nördlichen Teil des Stadions nicht mehr gibt. Heute legen die Läufer nur noch 120 Meter zurück. In Delphi, wo französische Archäologen graben, ist das Stadion besser erhalten. Es liegt, 600 Meter hoch, eingezwängt und gut geschützt in den Flanken des Parnass-Gebirges. Vielleicht sind die Lage in den Bergen und die natürliche Begrenzung des Stadions aber der Grund dafür, dass die Spiele in Delphi nie ganz die Bedeutung der drei anderen Panhellenischen Spiele erlangten.

Der Favorit macht einen Fehler. Aber die Spiele gehen trotzdem weiter

Dann sind sie unterwegs, die Jugendlichen aus Erlangen und ihre Widersacher. Der Favorit Felix Bayerschmidt läuft wie erwartet vorneweg, er ist weit in Führung, aber kurz vor dem Ziel blickt er sich um, rutscht aus, verspielt beinahe den Sieg und kommt so eben noch als Erster ins Ziel. Die Schiedsrichter zeigen mit ihren Stöcken auf ihn; in der Antike dienten die Stöcke dazu, Regelverstöße zu ahnden, aber auch der Gewinner wird so ausgerufen. Kurz darauf hält Felix Bayerschmidt den Palmenzweig in Händen, während die Trompete zum nächsten Lauf bläst.

In der Antike rissen sie zu Ehren ihrer Sieger zuweilen Teile der Stadtmauern ein, so groß waren der Stolz und das Gefühl der Unverletzbarkeit. Miller wäre es lieber, wenn die Teilnehmer heute andere Gefühle mit nach Hause nähmen. "Der antike Sport war im Grunde der Anfang der Demokratie", sagt der Archäologe: "Man trainierte vier Wochen lang gemeinsam, alle starteten nackt, niemand konnte Reichtum oder Status zur Schau tragen. Wann immer deine Füße heute den Boden dieses Stadions berühren, berühren sie das alte Griechenland. Und damit auch deine Wurzeln."

Reiseinformationen

Anreise: Alle vier Orte der Panhellenischen Spiele (Delphi, Isthmia, Nemea und Olympia) sind ab Flughafen Athen mit dem Mietwagen gut erreichbar. Mit eigenem Auto und Fähre ist der Hafen von Patras am besten gelegen.

Reisearrangement: Der Studienreiseveranstalter Studiosus hat verschiedene Reisen auf den Peloponnes im Angebot, z. B. neun Tage in den Norden mit Besuchen in Nemea, Olympia und Delphi, oder "Spuren der Antike" in den Süden und zu den Meteora-Klöstern, ebenfalls mit Fahrt nach Nemea, Olympia und Delphi. Jeweils ab 1795 Euro p. P. im DZ inkl. Flug, Hotels, Reiseleitung, www.studiosus.com

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