Es ist ein warmer Samstagnachmittag, Wolken ziehen, erstes Laub fällt, und Dimitris Ksuris, 65, ein drahtiger Mann mit sonnigem Gemüt und grauem Schnurrbart, sitzt hinter dem Steuer seines verbeulten Pritschenwagens und kurvt eine schmale Landstraße den Berg hinauf. Hinter ihm liegt sein Heimatdorf Vitalo, 400 Einwohner, eine Grundschule, zwei Cafés, ein an einen Berghang gebauter Weiler unweit der Hafenstadt Kymi auf Euböa. Vor ihm liegt ein Dschungel aus Farnen, Lorbeeren, Myrten, Eichen und mächtigen Platanen. Eine liebliche Landschaft, grün, schattig, der Lehmboden ist fruchtbar, klar und frisch die Luft, ein Stück Griechenland, fern der üblichen Kargheit. Doch Dimitris Ksuris hat jetzt keinen Blick für die Pracht der Natur. Er hat es eilig. Bloß kein Regen. Regen macht sie wässrig, zersetzt das Aroma, verdirbt sie. Knatternd prescht er die Straße hinauf, hinein in ein von Bergen umgebenes Tal, hoch über der Ägäis. Unterhalb der Gebirgskette Kotilea, einem Ausläufer des 1700 Meter hohen Dirfys, dem höchsten Gipfel Euböas, liegt sein Acker.
Noch vor einer Stunde hat Dimitris Ksuris Regenrinnen installiert, ist auf Leitern gestiegen, hat gebohrt, geschraubt, gehämmert. Er ist Blechner, Spengler, Schweißer. Aber weil in Griechenland ein Job allein selten eine Familie ernährt, ist er auch Bauer und jetzt auf dem Weg zu jener Arbeit, die er am liebsten macht. Sie bringt der Familie ein zusätzliches Einkommen. Hinter einer Kapelle parkt Ksuris den Pritschenwagen, greift im Geräteschuppen zu Eimer und Stock mit Haken und geht in den Hain.
Schon von Weitem riecht es süß und schwer, ein Duft, so kräftig wie ein Gewitter im Sommer. Wespen schwirren. Unter den Füßen raschelt Laub. Dimitris Ksuris ist umgeben von 80 Feigenbäumen, die Stämme knorrig, verdreht, üppig die Kronen, die Äste weit ausladend, daran große, dunkelgrüne Blätter und dazwischen, nahezu verborgen, birnenförmige, gelbgrüne Feigen. Die Feigenbäume waren Elenis Mitgift, als sie Dimitris vor 38 Jahren geheiratet hat. Ihr Vater hat sie gepflanzt. Um sie vor dem Wind zu schützen, hat er sie mit Spalieren aus Zypressen flankiert. Eine alte Weisheit der Bauern.
Nur noch wenige Bäume tragen Früchte, die meisten sind bereits abgeerntet. Mit dem Haken am Stock zieht Dimitris Ksuris Äste herunter und pflückt die letzten Feigen. Aber viele sind nur zweite Wahl, nur für den schnellen Verzehr. Zu wenig Zucker, zu schwach das Aroma. Was Ksuris sucht, hat der Baum abgeworfen. "Das sind die besten! Ganz und gar reif! Nur die trocknen wir", sagt er. Die Feigen müssen innen sirupartig sein und außen so weich wie die Wangen von Kindern. Selbst ein bisschen gären dürfen sie. Eine Stunde lang sammelt er Feigen vom Boden auf. Gesammelt wird jeden Tag, sonst faulen die Feigen, werden von Insekten durchlöchert.
Seit vier Wochen arbeitet Dimitris Ksuris jeden Tag in seinen drei Feigenhainen, sammelt, sortiert, schwefelt, während Eleni, seine Frau, jede Feige mit einer Schere aufschneidet, sie halbiert und behutsam in einer Steige anordnet, sie in der Sonne trocknet und immer wieder wendet, tagelang. Seit vier Wochen dreht sich bei den Ksuris und in den Sikochoria, den Feigendörfern rund um Kymi, alles nur noch um die körnig klebrige Frucht, die in Wirklichkeit eine Scheinfrucht ist, eine fleischige Tasche aus Samen und Blüten. 22 Feigendörfer gibt es, bestanden von 25 000 Feigenbäumen. In welches Dorf man auch geht, überall liegen hölzerne, mit Feigen gefüllte Steigen in der Sonne. Auf Dächern und Balkonen, in Höfen und Gärten. Und an manchen Zäunen hängen krumme Schilder: "Feigen zu verkaufen". Auf 250 Tonnen Trockenfeigen bringen es die Dörfer. Aber in keinem anderen Dorf werden so viele hergestellt wie in Vitalo. "Vitalo ist das Herz der Feigendörfer", sagt Dimitris Ksuris stolz und entkorkt nach getaner Arbeit den Weißwein.
"Feigen aus Kymi" lautet die schlichte Bezeichnung für die Trockenfrüchte aus der Region. Jeder in Griechenland kennt sie. Sie sind honigsüß und reich an Fruchtmark. Ihre Schale ist dünn, zart und beinahe so schmackhaft wie die Frucht selbst. Man kann sie kneten, als seien sie ein Stück Teig, und locker zwei Feigen auf einmal essen. Kein zähes Herumkauen wie bei den Trockenfeigen aus dem Peloponnes. "Das liegt am Mikroklima hier, Meer, Wind, Berge", erklärt Ksuris. Und weil sie so weich sind, werden sie nicht wie auf dem Peloponnes zu klobigen Ringen aufgefädelt. Noch im frischen Zustand wird die Feige aufgeschnitten, ihr klebriges Fruchtmark nach außen gestülpt und an der Sonne getrocknet. Danach werden jeweils zwei gleichgroße Feigen zusammengepresst und erneut getrocknet. "Askada" nennt sich das euböische Kunstwerk. Zwei sich umarmende Feigen, die zu einer verschmelzen.
500 Kilo Feigen haben die Ksuris vorletztes Jahr getrocknet und verkauft. Tassos Skantsis, der Nachbar, brachte es auf fast zwei Tonnen. Ein gutes Jahr. Dieses Jahr ist ein schlechtes. Nur 70 Kilo haben die Ksuris geerntet. "So etwas habe ich noch nie erlebt. Zu wenig Feigen wurden bestäubt. Ein Desaster!", klagt Dimitris Ksuris. Er sitzt vor einem alten Wohnwagen, den er auf dem Acker unter Feigenbäumen abgestellt hat. Im Schatten dösen seine zwei Hunde. Auf dem Tisch stehen Schnaps, Wein, Trauben und ein Teller mit Tomaten und Gurken in Olivenöl. Ksuris blickt auf seine Weinreben, Tomatensträucher, Bohnen, Zucchini, Gurken. Sein Acker ist ein Feigenhain, samt Gemüsefeld.
Das bedeutet Arbeit rund ums Jahr: mähen, wässern, düngen, Bäume schneiden, Unkraut jäten, ernten. Selbst Feigenstecklinge zieht er. Angesichts von so viel Arbeit hätte Ksuris allen Grund zu seufzen. Doch er lächelt. Die Weinlese steht an. Er rechnet mit 200 Litern Weißwein, wenn alles gut läuft. Dass die Familie vom Maischen bis zum Keltern alles selbst macht, versteht sich von selbst. Und weil Eleni und Dimitris die Arbeit allein nicht schaffen, kommt jeden August der Sohn mit Frau und Kind aus Athen und hilft den Eltern. Dann gehen sechs Wochen lang Tausende Feigen durch ihre Hände. Sie nicht zu ernten, ist für sie unvorstellbar.
Die Feige ist der Fruchtbaum der Bibel. Sie ist die paradiesische Frucht. Aus Feigenblättern flochten sich Adam und Eva einen Schurz. Mit Feigen heilte Jesaja den todkranken Hiskija, König von Juda. Sie war die Dionysos geweihte Frucht, verlockend, üppig, ein Aphrodisiakum. Unter einer Pappelfeige fand Buddha Erleuchtung. In ihrer Wurzel und Krone wohnen Brahman, Vishnu und Shiva. Die Feige ist in vielen Kulturen Symbol für Wohlstand, Sinnenfreude und Überfluss. Ihre ursprüngliche Herkunft liegt irgendwo in Vorderasien. Die Frucht ist älter als der Ackerbau. Sie war Brotersatz, Wintervorrat und nach Olivenöl und Trauben ein Grundnahrungsmittel in der Antike. Sie war und ist ein begehrtes Handelsgut. Im alten Athen standen Anbau, Handel und Export von Feigen unter staatlicher Kontrolle.
Kostas Lambrou, 58, ist mit ihr aufgewachsen. Er ist ein Feigenkind aus Kadi, einem 100-Einwohner-Dorf, in dem es kein Geschäft mehr gibt, nur noch ein Kaffeehaus. Fahrende Händler kurven jeden Tag hupend durchs Dorf und verkaufen Brot, Gemüse und Fisch. Wie alle Familien in Kadi besaßen auch die Lambrous Feigenbäume. Jeden Sommer musste er bei der Ernte helfen. "Mit Eseln und Maultieren ging es morgens früh auf die Felder. Die meisten Trockenfeigen wurden verkauft, der Rest war Vorrat für den Winter", erinnert er sich. 1976 zog die Familie nach Athen. Kostas Lambrou studierte und wurde Architekt. Da waren Haus, Hof und Feigenbäume in Kadi längst aufgegeben.
Die Geschichte der Lambrous ist die Geschichte Griechenlands. Was anderswo Landflucht heißt, nennen die Griechen "Astifilía" - Freund der Stadt. Die Stadt war ein Versprechen, sie war die Zukunft, die es in den Dörfern nicht gab. Dörfer, in denen Kinder barfuß Schafe hüteten und die achtköpfige Familie winters neben dem Vieh schlief. Das Land war der Inbegriff von Armut und Rückständigkeit. Die Dörfer leerten sich. Äcker wurden zu Brachland. 20 000 Tonnen Trockenfeigen produzierte Griechenland 1980. Heute sind es 5500. Die Türkei, Hauptproduzent von Dörrfeigen, bringt es auf 80 000 Tonnen. "Feigen sind ein gutes Geschäft. Aber es werden nicht genügend neue Bäume angepflanzt. Es fehlen Arbeitskräfte, junge Leute, die aufs Land ziehen und in der Landwirtschaft arbeiten", sagt Kostas Lambrou.
Kymis Feigen sind Smyrna-Feigen, benannt nach jener Hafenstadt an der türkischen Westküste, die heute Izmir heißt und in der bis 1922 mehr Griechen lebten als in Athen. Schon damals war der Handel mit Feigen ein lukratives Geschäft. Der Smyrna-Baum ist robust und pflegeleicht, braucht weder Dünger noch Pflanzenschutzmittel. Von Natur aus ist er gegen die meisten Pilzkrankheiten und Insekten resistent. Er schlägt schnell Wurzeln, wächst in zerfallenen Steinhäusern. In Kadi, Vitalo, in der ganzen Region Kymis.
Die Feigen sind eine Delikatesse. Sie werden bis nach Amerika und Australien exportiert
Lambrou lebt mit seiner Familie in Athen. Er hat oft mit dem Gedanken gespielt, nach Kadi zurückzukehren. "Als ich im Dorf zu Besuch war, trocknete die Nachbarin Feigen in unserem Hof, weil ihrer im Schatten lag. Erinnerungen stiegen in mir auf, an meine Kindheit." Deshalb ist der Architekt aus Athen jetzt auch wieder Feigenbauer in Kadi. Vor fünf Jahren, mitten in der Krise, hat er sein eigenes Unternehmen gegründet und stellt seither Marmelade, Sirup, Feigenriegel und bis zu zehn Tonnen Dörrfeigen jährlich her. Das Geschäft läuft gut, wenn auch dieses Jahr die Ernte schlecht ausfällt. Er beliefert Delikatessengeschäfte in Athen, exportiert bis nach Amerika und Australien. Zwar gibt es unweit von Kymi eine Kooperative, aber viele Bauern ziehen es vor, ihre Feigen selbst zu verarbeiten und zu vertreiben. Inzwischen ist die Kooperative geschlossen. Misswirtschaft, Schulden, Klüngelei. Es sind die großen Probleme des Landes im Kleinen. Im Gegensatz zu Dimitris Ksuris ist Kostas Lambrou auf Saisonarbeiter angewiesen. Er hat 900 Bäume. Ein Dutzend Hilfskräfte arbeitet für ihn. Maria Kalabaliki und Ersi Achmedbeso sind zwei von ihnen.
Sie stehen in stechender Sonne auf einem Feld in Kadi, umgeben von einem Meer aus Feigen. Maria und Ersi sind ein eingespieltes Team. Mit einer Schere schneidet Ersi den Stielansatz der Feigen ab und halbiert sie. Maria öffnet sie, stülpt das Fruchtfleisch nach außen und legt sie zum Trocknen in Steigen. An jede Steige heften sie einen Zettel mit einem Datum. So wissen sie, seit wann die Feigen trocknen. Sie summen Lieder, erzählen Geschichten aus dem Dorf. Irgendwann kommt Wind auf. Wolken kreisen. Es tröpfelt. Schnell decken sie alle Steigen mit Planen ab, warten zehn Minuten, decken sie wieder auf, arbeiten weiter, bis es erneut zu tröpfeln beginnt.
Ersi Achmedbeso, 28, stammt aus Albanien und ist Mutter zweier Kinder. Trocknet sie keine Feigen, arbeitet sie als Putzfrau und Souflaki-Verkäuferin. Maria Kalabaliki, 50, kommt aus Androniani, einem der 22 Feigendörfer. Wie Lambrou ist sie mit Feigen groß geworden. Ihre Mitgift waren 55 Feigenbäume. Sie mag die Arbeit, trotz der Schmerzen in der Hand. Seit Tagen presst sie die Früchte zusammen, zur Askada. "Das geht nur von Hand. Eine Maschine gibt es nicht", sagt sie.
Die Ksuris sind mittlerweile mit den Feigen fast fertig. Eleni kocht sie fünf Minuten lang in einem großen Topf mit Lorbeer- und Zitronenblättern ab, trocknet sie dann erneut und verpackt sie. "Danach geht es gleich weiter", sagt sie. "Weinlese, maischen, Olivenernte. Die Arbeit hört nicht auf." Sie freut sich auf eine Pause. Zum Geburtstag hat sie Dimitris ein Geschenk gemacht und zwei Flugtickets gekauft. Eine Überraschung. Zu Weihnachten fliegen sie nach Deutschland, besuchen in Heidelberg ihre Nichte. Zwei Wochen lang. "Endlich mal Urlaub machen", sagt Eleni. An ein Mitbringsel hat sie auch schon gedacht: sonnengetrocknete Feigen aus Kymi.