Gletscherschmelze in den Alpen:Himmel hilf!

Wanderer blicken auf den Aletschgletscher in der Schweiz

Während die Touristenzahlen steigen, sinkt das Eislevel am Aletschgletscher, gut erkennbar an der grauen Seitenmoräne.

(Foto: Walter Bieri / KEYSTONE/dpa)

Der Aletschgletscher ist die größte Eismasse der Alpen. Einst versprachen die Einheimischen, tugendhaft zu leben, damit der Gletscher schrumpft. Heute sehen ihre Gebete anders aus.

Von Dominik Prantl

Womöglich lässt sich die unglaubliche Wucht des Großen Aletschgletschers am besten damit erklären, dass er es im Jahr 1678 tatsächlich bis nach Rom schaffte. Nicht leibhaftig, dafür war die Hauptstadt Italiens selbst damals in der Kleinen Eiszeit ein paar Grad zu warm für die Eismassen der Alpen. Es waren die Bewohner der Gemeinde Fiesch, die mit dem Gletscher bei Papst Innozenz XI. vorstellig wurden. Sie hatten die Macken der umliegenden Gletscher satt. Immer wieder brachten diese Hochwasser über das Fieschertal. Eine jährliche Prozession und ein feierliches Gelübde, tugendhaft leben zu wollen, sollten den Gletscher schrumpfen lassen. Und das alles selbstverständlich mit dem Segen des Vatikans. Himmel hilf!

Die Nummer mit der Prozession hat offenbar etwas zu gut funktioniert. David Volken steht jedenfalls oben an der Bergstation der Eggishorn-Seilbahn, 2893 Meter, und er traut seinen Augen nicht. Die Touristen, die nahezu ausnahmslos das nur knapp 30 Meter höhere Eggishorn in Angriff nehmen, laufen in T-Shirt und kurzen Hosen umher. Von Gänsehaut keine Spur. Volken sagt: "Normal ist das nicht so warm hier." Volken weiß, was normal ist, denn er ist Hochwasser- und Gletscherexperte. Noch mehr überrascht ihn allerdings das Eis des Aletschgletschers, 700 Meter weiter unten. "Ui, ist das dreckig", sagt er beim Blick auf die Gletscherzunge, die jede Menge Sand und Schotter freigibt. Weiter oben, am sogenannten Konkordiaplatz, schaut er zwar etwas reinlicher aus, aber deshalb nicht viel besser. "Der ist schon seit Juli ausgeapert", was heißt, dass jede Schneebedeckung als Schutzschicht fehlt. Normal ist auch das nicht. Man könnte sagen, dass der Aletschgletscher Anfang August ebenfalls im kurzen Hemd dasteht.

Natürlich ist er trotz allem weiterhin eine beeindruckende Machtdemonstration der Natur. Vom Eggishorn aus lässt sich deutlich erkennen, dass ein Gletscher, vor allem ein so großer wie der Aletsch, nicht wie ein gefrorener See im Gebirge liegt, sondern wie ein sehr breites, sehr träges Flusssystem funktioniert. Es gibt Seitenarme und eine große Quellregion namens Nährgebiet. Am Konkordiaplatz, dort, wo sich die Firnfelder der angrenzenden Vier- und Fastviertausender zum Großen Aletschgletscher vereinen, wird noch immer eine Eisdicke von bis zu 900 Metern gemessen. Knapp 23 Kilometer lang und im Schnitt 1,5 Kilometer breit ist der Eisstrom, pro Jahr legt er eine Strecke von bis zu 180 Meter talwärts zurück. Zählt man die Nebenarme mit, liegt hier ein Viertel der Schweizer Eisreserven. Von den 18 Milliarden Kubikmetern Eis der Region könnte man die Weltbevölkerung fünfeinhalb Jahre mit je einem Liter Wasser pro Tag versorgen, nach derzeitigem Stand von Eis und Menschheit.

Natürlich wird der Aletschgletscher auch noch einige Zeit erhalten bleiben. Ein Riese reagiert anders auf die Schmelze als Winzlinge wie die Eisfelder an der Zugspitze. Etwa 50 Prozent haben die Schweizer Gletscher seit dem Ende der Kleinen Eiszeit 1850 an Masse verloren, am Aletsch schätzt David Volken den Verlust auf erst 20 Prozent. Denn die Konsequenzen des Temperaturanstiegs machen sich erst mit Verzögerung bemerkbar. Und je größer der Gletscher, desto länger die Reaktionszeit. "Für das jetzige Klima ist der Aletschgletscher vier bis sechs Kilometer zu lang. Die großen Längenänderungen kommen noch", sagt Volken.

Dass sie kommen, daran hat er keinen Zweifel. Die Schmelze beschleunigt sich hier quasi selbst. Volken spricht von "positiven Rückkopplungseffekten": Die Eisoberfläche sinkt immer weiter, bis zu mehrere Meter im Jahr - und dringt damit in immer wärmere Gefilde vor. Durch ausaperndes Gestein wird der Gletscher immer dunkler - was den Einfluss der Sonne weiter erhöht. Der einstige Seitenarm namens Mittelaletschgletscher hat mittlerweile keine Verbindung mehr zum Großen Aletschgletscher - womit ein wertvoller Zufluss auf halbem Weg ins Tal verloren geht. Laut Volken wird vom Aletschgletscher bis 2100 nur noch ein Zehntel der heutigen Eismasse übrig bleiben.

Was das für die Leute unten im Tal bedeutet, ist schwer vorstellbar. Sie haben schon immer mit den Launen des Eisriesen leben müssen, seit Jahrhunderten. Früher, als er noch wuchs und seine Aura bis Rom reichte, wurde eine höhere Gewalt hinter der zerstörerischen Kraft der Gletscher vermutet. Eine Art Sintflut, nur tiefgefroren. Das war überall in den Alpen so, ob in Vent im Ötztal oder an der Pasterze am Großglockner. Wenn sich das Eis fruchtbares Land einverleibte oder Wasserfassungen zersplitterte, ließ sich das nur mit frevelhaftem Verhalten wie Hochmut oder ausgelassenen Feiern am Sonntag erklären. Die Machtdemonstration der Natur war eine Strafe Gottes.

Vom Fluch zum Segen

Die Strafe Gottes, sie sieht heute anders aus. Volken hat inzwischen den Märjelensee erreicht, auf 2348 Meter. Zu dem See führt vom Eggishorn ein einfacher, schöner Bergweg zwischen pfeifenden Murmeltieren hinab. Früher lag der Aletschgletscher hier so hoch, dass der Märjelensee direkt daran angrenzte. Auf alten Bildern ist zu sehen, wie Eisschollen darauf trieben und der Szenerie ein arktisches Flair verliehen, sogar Boote schipperten Berichten zufolge auf dem See herum. Manchmal bahnte sich das Wasser dann urplötzlich einen Weg durch den Gletscher oder wurde von dem Eis über das Joch am anderen Ufer gedrängt und ergoss sich als Schwall ins Tal. Hirten wurden als Beobachter des Wasserstands und Hiobsboten engagiert. Sogar ein Abflussstollen wurde gegen die plötzlichen Ausbrüche angelegt, der allerdings nur ein einziges Mal, im Jahr 1896, seinen Zweck erfüllen musste. Danach sanken Gletscher und mit ihm der See so weit ab, dass das Wasser den Tunneleingang nicht mehr erreichte.

Gletscherschmelze in den Alpen: Früher war er noch deutlich imposanter: Aletschgletscher mit Jungfrau auf einer historischen Postkarte.

Früher war er noch deutlich imposanter: Aletschgletscher mit Jungfrau auf einer historischen Postkarte.

(Foto: Alamy; Mauritius Images)

Heute ist der Märjelensee in kleinere Wasserflächen zerstückelt. Die größte von ihnen ist durch einen Damm eingegrenzt, daneben steht ein kleines Bergrestaurant namens Gletscherstube. Es ist bis auf den letzten Sitzplatz besetzt. Wanderer jeden Alters pilgern von dort den erst sanften, dann immer steiler abfallenden Pfad zwischen Tümpeln, Steinbrocken und schließlich über vom Gletscher geschliffene Felsen zum Eis hinab. Die Zeitangaben auf den Hinweisschildern sind längst obsolet. Mit jedem Jahr entfernt sich das Ziel ein paar Meter.

Vor allem zeigt sich am Aletsch mal wieder, dass vieles nur dann entsprechend gewürdigt wird, wenn der Verlust droht. Die Unesco nahm die Jungfrau-Aletschregion im Jahr 2001 in die Liste des Weltnaturerbes auf. Denn anders als früher wird die Gletscherlandschaft immer öfter als Segen wahrgenommen, in mehrerlei Hinsicht.

Da ist die Funktion als Trinkwasserspeicher, der seine Reserven antizyklisch verteilt. "Es klingt paradox, aber je heißer es ist, desto mehr Wasser haben wir im Tal", meint Volken. Seit den 1950er-Jahren dient das Schmelzwasser des Aletsch im Talort Bitsch zur Stromerzeugung im großen Stil. Die Turbinen sind auf einen Durchfluss von bis zu 55 Kubikmeter ausgelegt. 55 000 Liter. Pro Sekunde. In den vergangenen Augusttagen war das Kraftwerk dennoch überfordert. Die Abflussmenge stieg auf fast 110 000 Liter pro Sekunde. Es war schlicht zu viel des Guten. Volken nennt es "Verhältnisse wie 2003".

Was das Eis außerdem bringt, zeigt sich am Gletscherrand. Ein Schild warnt dort vor herabfallenden Eisbrocken. Einige, mal so groß wie Autos, mal wie Lastwagen, liegen herum; gut möglich, dass sie einen neuen See bilden. In Gletscherhöhlen schimmert das Eis blau; über die eher gräuliche Oberfläche gehen Bergführer mit bis zu 15 Kunden am Seil Gassi. Keiner trägt Steigeisen. 90 Franken kostet jeden Erwachsenen die mehrstündige Tour.

Weiter unten im Tal künden Plakate vom "greatest glacier oft the alps", dem größten, großartigsten Gletscher der Alpen. Die Leute wissen genau, was sie dem Aletsch zu verdanken haben; er ist ihr Besuchermagnet. Dabei fiel der Beginn des Tourismus erstaunlicherweise mit jener Zeit zusammen, als die Gletscher ihren Rückzug begannen, was man beides als Symptome der Industrialisierung, als Zufall oder als Zeichen des Himmels werten kann.

Die Prozession aus dem Jahr 1678 gibt es übrigens immer noch. Jedes Jahr am 31. Juli wandern etwa 20 Gläubige von der Pfarrkirche in Fiesch durch bestens bewässerte Felder und das schöne Dorf Ernen zu einer Kapelle im Erner Wald. Seit 2012 allerdings mit dem vom Papst erneut abgesegneten Anliegen, der Gletscher möge doch bitte wieder wachsen.

Informationen

Anreise: Am besten mit der Bahn über Brig nach Fiesch oder Betten. Weiter mit den Bergbahnen zu den Aussichtspunkten Bettmerhorn oder Eggishorn. Ausstellung: Das sehenswerte World Nature Forum in Naters bei Brig bietet jede Menge Wissenswertes zum Welterbe Schweizer Alpen Jungfrau-Aletsch, Tel.: 0041 / 27 / 924 52 76, www.jungfraualetsch.ch Wanderung: Eine eindrückliche Wanderung mit Ausblicken und der Möglichkeit zum direkten Gletscherkontakt führt von der Bergstation Eggishorn (2893 m) über den Märjelensee und Roti Chumme zur Bettmer- oder Riederalp, Zeitbedarf: circa 5 Stunden. Weitere Auskünfte: Unterkünfte und Wanderungen unter www.aletscharena.ch, www.myswitzerland.com

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