Gespensterjagd in Edinburgh:Ein Atmen, das lauter wird

Auf Besuch in der Unterwelt der schottischen Hauptstadt Edinburgh möchte man lieber nicht am Ende der Besuchergruppe gehen.

Schon lange hat sich keine mir unbekannte junge Frau mehr hilfesuchend an mich geklammert. Neulich aber ist es passiert, sogar zweimal hintereinander. Ich muss zugeben, es geschah eher zufällig, weil ich gerade neben ihr stand, und ist mit einer akuten Schrecksituation zu erklären: Wir befanden uns auf einer Geisterjagd durch die Unterwelt der schottischen Hauptstadt Edinburgh.

Edinburgh ist das perfekte Gespenster-Biotop. Hoch oben auf einem Vulkanfelsen thront trutzig eine Draculaburg, und weite Teile der Innenstadt sehen aus wie eine Gruselfilmkulisse. Die "Frankenstein"-Autorin Mary Shelley fühlte sich nirgendwo so wohl wie in Edinburgh, und der gebürtige Edinburgher Robert Louis Stevenson ließ sich für seinen Schauerroman "Dr. Jekyll und Mr. Hyde" von einem Tischler aus seiner Heimatstadt inspirieren: Dieser war tagsüber ein unbescholtener Bürger, nachts ein Verbrecher.

Schon im 19. Jahrhundert zog Edinburgh Touristen an, die sich auf gepflegte Weise gruseln wollten. Theodor Fontane geriet ins Schwärmen: "Auf grauen Felsen steigen graue Felsenhäuser in die Luft, und über dem ganzen liegt jener graue Nebelschleier, der den Zauber der Stadt vollendet."

Heute ist der Gespenstertourismus gut für eine ganze Industrie. Jeden Tag wandeln Hunderte auf den Spuren der Untoten. In der mittelalterlichen Old Town mit ihrem Gewirr aus Gassen, Hinterhöfen und Durchgängen ist die Geisterdichte besonders hoch.

Gespenster-Guides wie William zeigen dann bei ihrer Ghost Tour die unheimlichen Seiten der Stadt - William demonstriert auch schon mal, wie es bei mittelalterlichen Züchtigungen zuging. Ich gehe systematisch an die Sache heran und wähle für meine Geistererfahrung den allerunheimlichsten Ort in dieser unheimlichen Stadt. Er liegt natürlich nicht in der herausgeputzten New Town - die mittlerweile auch schon gut und gern 250 Jahre alt ist -, sondern in der Old Town, besser gesagt: unter der Old Town.

Unter den Straßen von Edinburgh

Es sind die "Edinburgh Vaults", ein Labyrinth von Kellern, Tunnelgängen und Gewölben. Laut BBC ist es "probably the most haunted place in Britain", der meistbespukte Ort Großbritanniens. Unser "Ghost Hunting" beginnt spät am Abend, als sich die Stadt bereits leert. Wir werden angeführt von Liz, die auf den ersten Blick wie eine nette ältere Dame aus der "After Eight"-Reklame wirkt.

Aber schon nach wenigen Minuten fühlt man sich eher an eine Figur von Ruth Rendell erinnert: Das biedere Äußere könnte auch nur Ablenkung sein. So weiß Liz sehr anschaulich davon zu erzählen, wie sich bei Hinrichtungen auf dem Platz vor der St. Giles-Kathedrale die Hirnmasse der Delinquenten über das Straßenpflaster verteilte. Mit solchen Lappalien halten wir uns aber nicht lange auf. Liz führt uns zu einer Häuserzeile und öffnet eine unscheinbare schwarze Tür. Dahinter windet sich eine steinerne Treppe hinab in die Dunkelheit - es ist der Zugang zu den Edinburgh Vaults.

Schatten auf dem Mauerwerk

"Alle dicht beieinander bleiben!", warnt sie. "Wer sich dort unten verläuft, der kommt vielleicht nie wieder raus." Die Wände erinnern mich an den Keller meines elterlichen Gründerzeithauses, in dem ich manchmal für meine Mutter Kartoffeln holen musste. Aber dort gab es wenigstens eine elektrische Funzel - hier unten nur Kerzenlicht. Immer weiter geht es abwärts. Dann kommt ein Korridor, von dem wieder andere Gänge abzweigen. Hier und dort ein alter Lagerraum.

Die insgesamt 120 Räume gruppieren sich um einen Bogen der South Bridge, mit der Edinburgh im 18. Jahrhundert eine Schlucht zwischen der High Street und der international renommierten Universität überspannte. Heute ist die Brücke im Stadtbild nicht mehr sichtbar, weil sie an allen Seiten bebaut ist.

Unterschlupf für die Ärmsten der Armen

In einem hohen Gewölbe bedeutet uns Liz anzuhalten. Sie wirkt seltsam verwandelt hier unten. Im flackernden Schein einer Kerze, die sie mit beiden Händen umklammert, wirft sie einen riesigen Schatten auf das Mauerwerk. Ihre Kappe sieht jetzt aus wie ein Hexenhut, und in ihrer Brille spiegelt sich die Kerzenflamme. Die Vaults dienten nach dem Bau der Brücke ursprünglich als billige Unterkunft für Handwerksbetriebe. Doch schon nach sieben Jahren zogen sie wieder aus, weil ständig Wasser durchtropfte. Nun wurden die Vaults zum Unterschlupf für die Ärmsten der Armen.

Verglichen mit ihren Lebensbedingungen, konnte sich selbst Oliver Twist glücklich schätzen: kaum Licht, kaum Luft, kein fließend Wasser. Serienkiller, die ihre Opfer erstickten und die Leichen dann zum Sezieren an die medizinische Fakultät verkauften, trieben ihr Unwesen. Irgendwann im 19. Jahrhundert war der Stadt diese Parallelwelt unter ihren Füßen nicht mehr geheuer: Mit Geröll ließ sie alle Eingänge verschließen.

Weit über hundert Jahre waren die Vaults vergessen. Erst in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts wurden sie wiederentdeckt und in den 90ern neu erschlossen. Unmittelbar darauf begannen die Berichte über merkwürdige Erscheinungen, unerklärliche Stimmen und eklige grüne Kleckse. Für Liz besteht natürlich kein Zweifel daran, worauf diese Phänomene zurückgehen: Es sind die Geister der ehemaligen Bewohner, deren irdische Existenz zur Bewältigung ihrer furchtbaren Erlebnisse einfach nicht ausgereicht hat.

"Get out!"

Sie spricht über sie wie andere über exzentrische Nachbarn. Da gibt es zum Beispiel den "Watcher", der die Besucher aus dunklen Ecken heraus anstarrt. Harmlos ist der "Cobbler", ein Schuster, der nur einen ganz bestimmten Raum bewohnt. In der Fachsprache ein "territorialer Geist", wie Liz uns erklärt. Da sich der Cobbler noch immer für Schuhe interessiert, ist es möglich, dass er mit kalten Spinnenfingern unsere Füße betastet. Es gibt auch Kinder hier unten. Wer das Geräusch eines gegen die Wand tupfenden Balls hört, weiß, dass Jack im Anmarsch ist, ein höflicher, gut gekleideter Junge von allerdings ungesund blasser Gesichtsfarbe. Nun erklingt von ferne Musik. Es ist jedoch kein Choral oder Totengesang, es ist die Disco hier gleich obendrüber. Das schlägt mir nun doch auf die Stimmung.

Wir nähern uns dem bevorzugten Revier von Mr. Boots, der bösartigsten Heimsuchung dieses unglücklichen Ortes. Angeblich ist er der Mörder einer Prostituierten. Lange beschränkte er sich darauf, den ungebetenen Gästen ein "Get out!" zuzuraunen, doch neuerdings gibt er sich informativer: "I'm Edward", haben ihn manche sagen hören. Liz interpretiert dies dahingehend, dass ihm der Name Mr. Boots nicht gefällt.

Unerklärliche Erfahrungen

Charakteristisch für die Vaults sind plötzliche Temperaturstürze. Aber kann das alles sein? Der Parapsychologe Prof. Richard Wiseman von der Universität Hertfordshire hat die Wirkung der Vaults vor einigen Jahren mit 250 Freiwilligen untersucht. Das Ergebnis: Die Versuchspersonen berichteten in ausgewiesenen Spukräumen über weit mehr unerklärliche Erfahrungen, obwohl sie vorher nicht wussten, welche Räume dies waren. Einige sahen Erscheinungen, andere glaubten, beobachtet oder gar von Geisterhand befummelt zu werden. "In einer Nachtsitzung baten wir eine Freiwillige, sich im Dunklen in eines der Gewölbe zu setzen und uns einfach zu erzählen, was ihr durch den Kopf ging", schildert Wiseman. "Praktisch vom ersten Moment an berichtete sie, aus einer Ecke des Raumes ein Atmen zu hören, das lauter wurde. Sie glaubte, ein Aufblitzen oder eine Art Licht in der Ecke zu sehen, aber wollte nicht noch mal zurückschauen."

Nun geht es in den meistbespukten Raum dieses meistbespukten Ortes. Liz, das muss man sagen, ist eine begnadete Erzählerin. Sie hat ein solches Gefühl für Spannungsaufbau und Dramaturgie, dass sie uns alle in ihren Bann zieht. Als sie plötzlich laut aufschreit, kommt es zu der eingangs erwähnten Umklammerung durch die neben mir stehende Dame. Es geht auf Mitternacht zu, als wir unsere Jagd unverrichteter Dinge abbrechen.

Liz verabschiedet sich von uns allen persönlich. Als sie nach mir die Tür schließen will, weise ich darauf hin, dass hinter mir noch jemand kommt. "Nein, nein", entgegnet sie. "Sie waren die ganze Zeit der Letzte, da hab' ich drauf geachtet. Sehr mutig!" Die Tür fällt ins Schloss. Für einen Augenblick bleibe ich noch stehen, dann schlage ich den Mantelkragen hoch und strebe dem nächsten Pub zu. Die Nächte können kalt sein in Edinburgh.

Informationen:

Reiseziel: Edinburgh ist die Hauptstadt von Schottland und gilt als eine der schönsten Städte Europas - und eine der gruseligsten.

Anreise und Formalitäten: Direktflüge gibt es von allen großen deutschen Flughäfen.

Klima und Reisezeit: Mit Regen, Kälte und Nebel muss man rechnen.

Währung: Man zahlt mit dem britischen Pfund (ca. 1,17 Euro).

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