Süddeutsche Zeitung

Gemeinsam in den Klettersteig:Kind am Abgrund

Selbst bergerfahrenen Eltern wird mulmig, wenn ihr Nachwuchs am Abhang entlangbalanciert. Schließlich heißt ein Teilstück des Klettersteigs nicht umsonst recht unverblümt "Schluchtenscheißer".

Von Violetta Simon

Klick - ssssst, klick - ssssst! Zwei Karabiner rasten ins Drahtseil ein, rutschen bis zur nächsten Halterung. Das Schnaufen zweier Erwachsenen ist zu hören, dazwischen das Summen eines Kindes, in meditativer Endlosschleife. Das selbstvergessene Vor-sich-hin-Singen, eine Angewohnheit aus frühen Kindertagen, ist ein Hinweis darauf, dass unser Sohn vollkommen absorbiert ist von dem, was er tut. In seinem Kopf ist gerade kein Platz für "Wann sind wir da?" oder "Kann ich später Minecraft spielen?"

Konzentriert öffnet der Elfjährige den ersten Karabiner und hakt ihn in den folgenden Seilabschnitt, dann den zweiten. Der linke Fuß sucht Halt in einer Ritze, die Hand tastet nach einem Vorsprung. Den Blick auf die nächste Steighilfe gerichtet, zieht er sich nach oben auf ein schmales Plateau, das eine Verschnaufpause erlaubt. Der Blick schweift zu den umliegenden Gipfeln des Kaisergebirges - Eltern und Sohn sind ausnahmsweise einer Meinung: Die Sache mit dem Klettersteig war eine geniale Idee.

Mit Vernunft braucht man Kindern nicht zu kommen

Am Fuß der Felswand liegt die Ottenalm, der Ausgangspunkt der Klettertour. Es gibt dort Schaukeln, eine Rutsche und ein Trampolin, viele Familien kommen mit Kindern hierher. Die Kleinsten werden mit Babytragen hochgebracht. Die Größeren womöglich mit der Aussicht auf den Spielplatz oder ein Spezi - ein großes, versprochen! Doch immer mehr Berg-Fans haben erkannt, dass dort, wo die einen ihr Ziel bereits erreicht haben, der Spaß erst beginnt. Und manche haben nicht nur Klettergurte und Helm, sondern auch ihren Nachwuchs dabei.

Wer einmal versucht hat, mit Kindern auf dem Spielplatz mitzuhalten, weiß: Wie gern Kinder wandern, ist weniger eine Frage der Kondition. Sondern eine der Motivation. Wer seinen Nachwuchs zur Bewegung bewegen will, braucht also kein Trainingsprogramm, sondern Fantasie. Mit Vernunft - "die gute Luft!" - braucht man Kindern nicht zu kommen; mit einem Freund als Begleitung und der Aussicht auf eine süße Belohnung in der Hütte lassen sie sich schon leichter überzeugen.

Auf lange Sicht sind Forstwege und endlose Serpentinen jedoch nur selten eine geeignete Unterlage für die Abenteuer, die sich in den Köpfen der Kinder abspielen. Gerade Jungs sind ständig in Bewegung, suchen abseits der Wege nach einem Baum oder Fels, auf dem sie herumkraxeln können. "Klettern ist ein Grundbedürfnis von Kindern, sie steigen einfach auf alles drauf", sagt der Klettertherapeut Wolfgang Satzger. "Leider werden Kinder bei ihren Kletterversuchen viel zu oft von ängstlichen Erwachsenen gebremst."

Am "Bergkameraden"-Klettersteig, hoch über den sich dahinschlängelnden Wanderwegen des Zahmen Kaisers, stellen wir Eltern uns dieser Angst. Hier gibt es keine Serpentinen, die Route führt steil hinauf zur Harauer Spitze. Das eigentliche Ziel ist der Weg: die Via Ferrata mit ihren Eisenleitern, Klammern und Drahtseilen.

Selbst Menschen mit langjähriger Bergerfahrung wird erst einmal anders, wenn sie ihr Kind zum ersten Mal in 50 Metern Höhe in einem Klettergurt baumeln sehen - und wenn es noch so fröhlich dabei summt. Zwar haben wir gelernt, dass sich das Niveau der Ausrüstung in den vergangenen Jahren kontinuierlich verbessert hat und die Sicherheitsstandards hoch sind. Und dass unser Sohn durch das System der zwei Karabiner, von denen einer stets am Seil eingehakt bleibt, zuverlässig geschützt ist.

Doch erst als wir uns - nach einem Klettersteig-Kurs und diversen, harmlosen Indoor-Übungen - gemeinsam an den ersten Klettersteig wagen, lernen wir das Wichtigste überhaupt: Auf den Jungen ist total Verlass.

"Kinder sind Grenzgänger, sie wollen ihr Limit testen"

Dasselbe Kind, das zu Hause gern die Jacke offen lässt und die Schuhe nur nachlässig zubindet, legt sich vorschriftsmäßig den Klettergurt an und prüft, ob sein Helm sitzt. Genau wie man es ihm beigebracht hat.

Wie der Elfjährige gewissenhaft die Karabiner umhängt und - die Körpermitte an den Fels gepresst - nach einem Vorsprung Ausschau hält, ist er uns beinahe ein bisschen fremd, so viel Kompetenz strahlt er aus. Vor allem: Seit wann nimmt er gut gemeinte Ratschläge an? Oder befolgt Regeln exakt so, wie man sie ihm erklärt hat?

Kinder und Klettersteige

Ausrüstung: Neben stabilem, knöchelhohen Schuhwerk benötigen Kinder eine Ausrüstung, die ihren Proportionen entspricht. Spezielle Klettergurte berücksichtigen den höher liegenden Körperschwerpunkt. Das Klettersteigset sollte über einen Falldämpfer verfügen, der auch bei geringerem Gewicht funktioniert. Wichtig sind auch Seil und Karabiner, die für Kinderhände geeignet und leicht zu handhaben sind. Der Helm muss perfekt sitzen, nur so kann er vor Stößen und herabfallenden Steinen schützen.

Kurse: Der Deutsche Alpenverein (DAV) sowie Bergsportschulen (http://klettern.kurs-muenchen.de/klettersteig-kurse) und Bergführerbüros bieten Kletterkurse für Kinder und Erwachsene an. Bei Einführungskursen können Eltern die Sicherungstechnik erlernen und was sie beim Klettern mit Kindern beachten müssen. Für Eltern ohne Bergerfahrung empfehlen sich die DAV-Familiengruppen (www.alpenverein.de).

Klettersteige: Für Anfänger eignen sich z. B. die Walchsee-Runde im Kaiserwinkel bei der Harauer Spitze, der Mittenwalder Höhensteig im Karwendel sowie die für Kinder und Jugendliche angelegten Klettersteige Kali und Kala in Ramsau am Dachstein.

Literatur: Eugen E. Hüsler, Leichte Klettersteige in den Alpen, Bruckmann Verlag, Neuauflage im Oktober 2015, 22,99 Euro.

"Das Faszinierende am Klettern ist für Kinder das unmittelbare Erleben der eigenen Fähigkeiten", sagt der Klettertherapeut Wolfgang Satzger. "Kinder sind Grenzgänger, sie wollen ihr Limit testen. Am Berg bekommen sie sofort eine Rückmeldung auf ihr Handeln, jeder Fehler hat Konsequenzen. Deshalb bewegen sie sich sehr konzentriert."

Klettern ist aber nicht nur Konzentrationsübung, es ist zugleich auch Belohnung: "Durch die hohe Ausschüttung von Adrenalin ist das Erfolgserlebnis entsprechend intensiv. Gerade Mädchen und Jungs mit Verhaltensauffälligkeiten, die es ihrer Umgebung oft nicht recht machen können, reagieren darauf positiv", sagt der 34-Jährige, der häufig mit ADHS-Betroffenen arbeitet. "Beim Klettern machen Kinder die Erfahrung, dass es möglich ist, Störfaktoren auszublenden, wenn sie sich fokussieren. Das stärkt das Selbstbewusstsein und sorgt dafür, dass sie auch andere Herausforderungen annehmen und meistern."

Die Fähigkeit, sich zu fokussieren, ist bereits bei der nächsten Etappe gefragt: Das Drahtseil, das über die Schlucht gespannt ist, genießt die volle Aufmerksamkeit der kleinen Truppe. Nicht umsonst wird der Abschnitt "Schluchtenscheißer" genannt. Den Eltern rutscht das Herz ordnungsgemäß in die Hose. Der Junge ist begeistert. Er klinkt die Karabiner in das auf Schulterhöhe parallel verlaufende Sicherheitsseil und schiebt sich im Krebsgang hinüber.

Auch die Eltern fokussieren sich - auf das Kind, das zwischen zwei Drahtseilen in schwindelerregender Höhe hängt. Und stellen verwundert fest, dass ihr Herz weiterschlägt. "Klettern stärkt nicht nur das Selbstvertrauen der Kinder", sagt Klettertherapeut Satzger. "Auch die Eltern lernen, mehr Vertrauen in die Fähigkeiten ihres Kindes zu haben."

Klick, klick - ssssst! Ein letztes Mal werden Karabiner umgelegt. Das Plateau der Harauer Spitze ist erreicht, die Familie klinkt sich aus. Da beginnt der Sohn doch noch zu meckern: "Schon vorbei! Schade." Jetzt ist Fantasie gefragt. Wie war das noch mit der Motivation? Richtig: Wenn wir unten sind, bekommst du ein Spezi. Ein großes, versprochen!

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Quelle:
SZ vom 02.07.2015/sks
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