Geheimnisvolle Stadt in Kolumbien:Rätsel am Rio Magdalena

Geheimnisvolle Stadt in Kolumbien: Blick hinab in das zerklüftete Tal des Rio Magdalena im Süden Kolumbiens.

Blick hinab in das zerklüftete Tal des Rio Magdalena im Süden Kolumbiens.

(Foto: Sonja Niesmann)

Die Entdecker der Steinfiguren von San Agustín in Kolumbien waren überzeugt: Das ist Teufelswerk!

Von Hans Holzhaider

Jeder, der sich für alte indianische Kulturen interessiert, kennt die Geschichte der Azteken, der Maya und der Inka, die Geschichte der blutigen Eroberungszüge von Hernán Córtes und Francisco Pizarro. Jeder kennt Machu Picchu, die InkaStadt in den peruanischen Anden, die Stufenpyramiden von Tikal in Guatemala und Chichén Itzá in Mexiko, die vom Urwald überwucherte Maya-Stadt Copán in Honduras. Aber nicht viele kennen die Kultur von San Agustín im äußersten Süden Kolumbiens. Und doch ist sie die geheimnisvollste aller präkolumbianischen Kulturen in den beiden Amerikas.

So abgelegen, so schwer erreichbar ist die Region am Oberlauf des Rio Magdalena, dass die erste Kunde von den steinernen Zeugnissen dieser Kultur erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts nach außen drang, Jahre, nachdem der Konquistador Sebastián de Belalcázar 1538 auf der Suche nach der sagenhaften Goldstadt El Dorado zumindest in der Nähe vorbeigekommen war. Und schon damals war die Kultur von San Agustín untergegangen. Die Menschen, die sie geschaffen hatten, waren verschwunden. Bis heute weiß man nicht, woher sie kamen und wohin sie gingen, welche Sprache sie benutzten, und warum sie irgendwann um die Mitte des 14. Jahrhunderts ihre Siedlungen verließen und im Dunkeln der Geschichte verschwanden.

Wunderliche Statuen mit seltsamen Mützen: Juan de Santa Gertrudis hielt sie für Bischöfe

Da, wo die Anden, die den ganzen südamerikanischen Kontinent wie eine Wirbelsäule durchziehen, sich in drei parallele Gebirgszüge aufteilen - die östliche, die mittlere und die westliche Kordillere - entspringen fünf Flüsse. Der Caquetá und der Putumayo fließen nach Südosten und durchqueren die endlosen Urwälder Amazoniens. Der Rio Patía durchbricht die westliche Kordillere und mündet in den Pazifik. Der Rio Cauca und der Rio Magdalena aber wenden sich nach Norden und ergießen sich nach mehr als 1500 Kilometern ins Karibische Meer.

Im Jahr 1758 machte sich der Franziskanermönch Juan de Santa Gertrudis von seiner Missionsstation im oberen Amazonasgebiet auf den Weg nach Santa Fé de Bogotá, um den spanischen Vizekönig um Hilfe zu bitten. Er überquerte die östliche Kordillere und erreichte nach vielen Strapazen San Agustín, eine Ansammlung von fünf armseligen Hütten nahe der Quelle des Rio Magdalena. Dort traf er einen Priester, der sich mithilfe einiger Mestizen mehr der Schatzsuche als der Mission widmete. Er berichtete dem Franziskanerbruder, dass er zwar, von einem kleinen Ohrring abgesehen, kein Gold gefunden habe, dafür aber eine Anzahl wunderlicher steinerner Statuen. Juan de Santa Gertrudis nahm die Figuren in Augenschein. Er hielt sie für Bischöfe und Ordensbrüder, und weil er sich nicht vorstellen konnte, dass primitive Indianer, die keine Eisenwerkzeuge kannten, solche Statuen geschaffen hätten, glaubte er, sie seien vom Teufel gemacht.

Geheimnisvolle Stadt in Kolumbien: Auf 1600 Metern liegt das Dorf San Agustín mit seinen enigmatischen Statuen. Sie geben Forschern nach wie vor Rätsel auf.

Auf 1600 Metern liegt das Dorf San Agustín mit seinen enigmatischen Statuen. Sie geben Forschern nach wie vor Rätsel auf.

(Foto: Sonja Niesmann)

Niemand nahm die Tagebücher des Franziskanermönchs zur Kenntnis; sie wurden erst 1956 in einer Bibliothek in Palma de Mallorca wiederentdeckt. Weitere hundert Jahre vergingen, bis die Außenwelt Notiz von den archäologischen Schätzen in San Agustín nahm. 1857 kam der italienische Geograf Agustín Condazzi mit einer Regierungskommission nach San Agustín. Ihm und seinem Zeichner Manuel María Paz verdanken wir die erste topografische Karte der Region und die ersten präzisen Zeichnungen von 37 Statuen. Diese sind mit nichts vergleichbar, was man von den Inka, den Maya oder den Azteken kennt.

Bischöfe mit Reißzähnen?

Viele tragen seltsame Kopfbedeckungen (die der Franziskanerpater, der sie als Erster sah, als Mitren deutete). Sie haben breite Nasen, und große, runde oder mandelförmige Augen. Die meisten von ihnen fletschen die Zähne, und es ist offensichtlich, dass das keine menschlichen Zähne sind: Spitze Reißzähne ragen über Ober- und Unterlippen hinaus. Bis heute streiten sich die Archäologen: Sind das Raubkatzen-, oder doch eher Affengesichter? Manche Figuren tragen rätselhafte Gegenstände in den Händen, die Keulen oder Schlagstöcken ähneln. Es gibt auch Tierfiguren: Ein Adler (oder eine Eule) hält eine Schlange im Schnabel; ein Frosch, ein Krokodil. Es gibt Figuren, die eine zweite Gestalt wie einen Rucksack auf dem Rücken tragen, und andere, die eine kleine Figur - ein Kind? - in den Händen halten. Wurden in San Agustín Kinder geopfert? Oder sind es symbolhafte Darstellungen einer Geburt?

Im Jahr 1913 unternahm Konrad Theodor Preuß, der Direktor des Berliner Völkerkundemuseums, eine Expedition nach San Agustín. Über ein Jahr lang durchstreifte er zu Fuß und zu Pferd die tief zerklüfteten Täler und Hochflächen und machte eine Bestandsaufnahme der steinernen Artefakte. Es war offensichtlich, dass sie alle im Zusammenhang mit einem Totenkult standen. Preuß fand steinerne Grabkammern, die europäischen Hünengräbern ähneln. Die Statuen schienen eine Art Wächter zu sein. Doch wen sollten sie schützen? Die Toten vor den Lebenden? Oder vielleicht die Lebenden vor den Toten? War San Agustín eine Nekropole, eine Totenstadt? Aber es gibt keine Überreste von Gebäuden, keine Tempel, keine Pyramiden, keine Paläste.

Wer die Menschen waren, die 2000 Jahre das Land bebauten, wird wohl im Dunkeln bleiben

Victor González vom Kolumbianischen Institut für Anthropologie und Geschichte forscht seit vielen Jahren in San Agustín. "Wir haben jeden Zoll abgesucht", sagt er. Und er hat Spuren entdeckt, Spuren der Menschen, die einst hier lebten. Es waren verblüffend viele Menschen. Sie lebten nicht in Dörfern, sondern in einzelnen, verstreuten Häusern oder Hütten. "Wir vermuten, dass es kleine Stammesverbände waren, mit jeweils sechs- bis zehntausend Menschen." Und vermutlich diente der Totenkult der Bestätigung der Hierarchie in diesem lockeren politischen Verband. "Wenn ein bedeutender Häuptling starb, dann war sein Clan wahrscheinlich bemüht, durch eine besonders aufwendige Bestattung den Status der Familie zu demonstrieren."

Aber wer die Menschen waren, die in der Region von San Agustín über mehr als 2000 Jahre hinweg das Land bebauten und Hunderte Statuen meißelten, das wird wahrscheinlich für immer im Dunkeln bleiben. Es gibt keine Möglichkeit, über DNA-Analysen Verwandtschaften mit heute in der Region lebenden Bewohnern festzustellen. Die wenigen Knochen, die man fand, zerfielen sofort beim Kontakt mit Sauerstoff. Die frühesten Siedlungsspuren reichen bis ins dritte Jahrtausend vor Christus; die letzte zuverlässige Datierung verweist etwa auf das Jahr 1350 unserer Zeit. Victor González glaubt, dass die Schöpfer der Statuen von San Agustín das Land verließen, weil sie zu viele wurden, und das Land nicht mehr die nötigen Ressourcen für die Bevölkerung liefern konnte.

Noch heute ist die Reise nach San Agustín beschwerlich: Zwölf Stunden dauert die Busfahrt von Bogotá in das kleine Bergdorf am Rio Magdalena. Aber wer es auf sich nimmt, wird reich belohnt. Die monumentalen Statuen mit den Raubtiergebissen inmitten der tropischen Vegetation hinterlassen einen Eindruck fürs Leben.

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