Skifahren in Italien:Freeriden in Alagna

Pulverschnee im Piemont und die viel zu gute Küche von Mama Ornella: Eine Welt wie gemacht für Menschen, die keine Lust mehr haben auf das blau-rotschwarze Pisten-Ameisentum.

Von Thomas Becker

Es geht aufwärts. Klingt toll, ist es aber nicht. Ski und Rucksack auf dem Buckel, unter den Stiefeln sich bei jedem Schritt in Nichts auflösender Pulverschnee: Sisyphos muss dagegen ein Sprinter gewesen sein.

Die viel zu gute Küche von Mama Ornella fordert ihren Tribut. Von Wein und Genepy, dem leckeren Kräuterschnaps, gar nicht erst zu reden. Jetzt hockt Mama Ornella unten in der Rifugio, deckt schon wieder den Tisch und verschwendet wohl wenige Gedanken an die Menschen, die sie am Abend zuvor gemästet hatte.

Stattdessen lästert Giorgio, der Terence Hill unter den Bergführern, in den eisigen Wind hinein: "Hey Thomas, you're too heavy. Too much pasta!" Willkommen bei den Freeridern von Alagna!

Das Valsesia-Tal im Norden des Piemont liegt nicht gerade auf dem Weg. Als Münchner fährt man am Bodensee vorbei, in die Berge rein, über den Bernardino, am Comer See entlang, wieder aus den Bergen raus, am Mailänder Flughafen vorbei - und dann wieder in die Berge, noch einmal eineinhalb Stunden, das Monte-Rosa-Massiv vor Augen, bis hinauf zum Talschluss: Alagna, Provinz Vercelli, ein kuscheliges Walserdorf aus dem 13. Jahrhundert, 1154 Meter hoch, 600 Einwohner klein. Die Restaurants kann man an einer halben Hand abzählen.

Gerade mal drei Gondeln, einen Sessel- und einen antiken Tonnenlift steuert das Örtchen zur Skischaukel mit Gressoney und Champoluc bei. Und doch: Die lange Anreise lohnt.

Nach den ersten 2000 Höhenmetern sind all die Auto-Kilometer vergessen. In Alagna fährt man nämlich alles, nur nicht Piste. 180 Kilometer präpariertes Weiß sind im Angebot, aber es nutzt kaum jemand. Warum auch?

Knackbraun wie Tiroler Nussöl

Rechts und links davon öffnet sich eine Welt wie gemacht für Menschen, die keine Lust mehr haben auf das blau-rotschwarze Pisten-Ameisentum. Sie leben lieber im tiefschwarzen Bereich - und damit nicht ungefährlich. Genau hier kommen Leute wie Giorgio ins Spiel.

Knackbraun wie Tiroler Nussöl steht er am Passo Salati, der Bergstation, und schaut prüfend seine Truppe an: drei aufgekratzte Mailänder und dieser schwere Deutsche. Mal sehen, ob die gut genug sind für Alagna, scheint sein Blick zu sagen.

Er hat ein Stück Einsteiger-Pulver ausgesucht: leicht windgepresst, schön steil, mit ein paar richtig engen Stellen. Lektion eins: "Molto pui controllata!" Immer schön kontrolliert fahren.

Der Lawinenpiepser ist sowieso immer am Mann. Und wehe, einer fährt aus der Spur! Giorgio kann fluchen wie ein Kesselflicker.

Die erste Runde hat nicht nur Mailänder und Deutsche glücklich gemacht, sondern auch den Führer zufrieden. Gemeinsam geht es in den nächsten hüfthohen Traum aus Kristallen, der nach einer kleinen Ewigkeit schnöde im Flachen endet - schieben!

Aber es ist ja für einen guten Zweck: Das folgende Couloir ist so eng und steil, dass es trotz Sonnenschein ein wenig finster wird. So geht das den ganzen Tag: Hauptsache senkrecht und pulverstaubig.

Deshalb sind wir gar nicht mal böse, als der Skitag nach einem Wetterumschwung früher endet. Ziel: die Rifugio Guglielmina auf knapp 2900 Metern am Col d'Olen. Nie im Leben hätten wir die ohne Führer gefunden.

Die Sicht reicht nur noch bis zur Nasenspitze. Nichts wie rein in dieses selbst im Schneesturm erkennbar alte Haus mit reichlich Patina.

Mit dem ersten Schritt steht man schon im Zentrum: an der Bar von Papa Franco.

Freeriden in Alagna

Hinter ihm biegen sich die Regalbretter, Heimstatt von mehr als 60 verschiedenen Grappasorten. Er kümmert sich auch um den Wein: 120 Rote, 7000 Flaschen im Wert von gut 50.000 Euro.

Sein Motto: "Wenn du gut isst und schlechten Wein trinkst, dann isst du schlecht." Eine Stunde vor dem Essen muss man den Wein bestellen - damit er atmen kann. Kommt die Küche von Mama Ornella hinzu, ist der Abend perfekt.

Das war's dann aber auch in Sachen Luxus. In kalten Wintern gibt es auf der Rifugio außer dem Mineralwasser von der Bar keinen Tropfen Wasser. Durch die Fenster der 25 Zimmer weht der Schnee herein, an der Nasenspitze muss mit Eiszapfenbildung gerechnet werden.

Irgendwann demnächst soll es auch eine Heizung in den Zimmern geben. Dafür kann man aber in klaren Nächten beim seltenen Nord-Fön bis hinab in die Po-Ebene auf die Lichter Mailands blicken.

Schuld an allem sind die Chinesen. Franco, Vater von Hüttenwirt Alberto, arbeitete in der fünften Generation in einer Schuhfabrik bei Mailand, bis diese wegen der Billig-Konkurrenz aus Fernost schließen musste und Franco nach Valsesia heimkehrte.

Die vom Vorfahr Guiseppe Anfang des 19.Jahrhunderts erbaute Hütte war 1960 nach dem Tod seines Vaters unbewirtet geblieben - 32 Jahre lang, bis auf ein paar Tage im Sommer, wenn die Familie hier oben Urlaub machte.

Als 1992 die Verbindung zum Skigebiet Gressoney perfekt war, machte sich der Junior an die Arbeit: Alberto schuftete zwei Jahre, um das alte Haus bewohnbar zu machen.

Er brachte von der verregneten Hochzeitsreise in Nepal eine Küchenhilfe namens Tuesday mit und ist seitdem von Montag bis Sonntag, von morgens um fünf bis nachts um eins im Laufschritt unterwegs, um diesen Treffpunkt der Kosmopoliten am Laufen zu halten.

Fröhliche Rutscher aus Holland fehlen hier, dafür sitzen Cracks aus Skandinavien neben ehrgeizigen Schotten und neugierigen Japanern. An einer Pinnwand haben unzählige Bergführer aus aller Welt ihre Visitenkarten dagelassen. Und alle wollen nur das Eine: freeriden, die Fahrt durch die freie Landschaft.

Und jede Menge Geschichten erzählen sie: Von der berüchtigten Malfatta, dieser 50 Grad steilen Senkrecht-Sause, bei der man sich erstmal 50 Meter abseilen muss. Oder die von dem zu Tode gestürzten Bergführer.

Freeriden in Alagna

Oder von dem Dänen, der sich gestern Schulter und vier Rippen gebrochen hatte. Alles vergessen, als wir hinter dem frechen Giorgio am Couloir Stolemberg stehen, dem Einstieg zu La Balma, einem mächtig steilen Stück Berg, mehr als zwei Höhenkilometer über Alagna.

Was die drei Mailänder und der Deutsche in den nächsten Minuten auf ihrem pulverigen Weg bergab erleben, lässt sich dann nur mit einem Wort beschreiben: Glück.

Einziger Kritikpunkt an diesem weißen Rausch: dass er dann doch irgendwann wieder aufhört.

Dagegen verblasst selbst der abendliche Besuch der Vineria "An Bacher Wi" unten im Ort. Nur fünf offene Weine stehen hier auf der Karte - dafür aber 800 Flaschenweine, die natürlich im Dekanter serviert werden.

Selbst verwöhnte Mailänder nehmen die kurvige Anfahrt in Kauf. Und doch tragen fast alle Gäste noch ihre Skischuhe und Lawinenpiepser, und nur lärmende Briten glauben, Bier trinken zu müssen.

Après-Ski à la Alagna. Erst hier unten in sicheren Gefilden, fern von Steilwänden und Lawinengefahr, beichtet einer der drei Mailänder, warum er auch oben im Berg ständig in sein Telefonino nuscheln musste: Die Arbeit rief, eine Terminsache. Der Mann verkauft Särge.

Informationen

Reisearrangements: Veranstalter Nature Feelings, sieben Übernachtungen, sechs Tage Skipass, zwei Tage Bergführer ab 520 Euro, weitere Tage mit Bergführern oder ein Heliski-Ausflug Richtung Zermatt können bei Lyskamm Viaggi in Alagna kurzfristig gebucht werden. Tel.: 0821/22939140, Internet: www.nature-feelings.de. Beste Reisezeit: Februar und März.

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