Süddeutsche Zeitung

Wintersport-Trend Freeride:Luft nach oben

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Freeride ist Trend, immer mehr Menschen bewegen sich abseits der gesicherten Pisten. Wo soll die Sehnsucht nach Tiefschnee noch hinführen?

Von Dominik Prantl

Am Samstag hat Lindsey Vonn das getan, was man als weltbeste Skirennläuferin und wichtige Werbeträgerin eben so macht, wenn man gerade einmal nicht Ski fährt: Sie hat getwittert, was sie gleich tun wird. "Zu viel Schnee. Rennen verschoben. Ich geh' powdern." Als kleinen Appetithappen gab es dazu ein Video, auf dem die US-Amerikanerin bis zur Hüfte im Pulverschnee steckt.

Vonn kennt die Sehnsüchte ihrer Fans: Freeriden, also das Skifahren abseits der gesicherten Pisten, macht viel mehr her als eine Abfahrt auf gewalzten Schneisen aus Schnee. Selten wurde dieser seit einigen Jahren spürbare Trend so deutlich wie in diesem Winter. Und auch wenn in den Alpen wegen des Schneemangels vielerorts noch das Fundament für eine gelungene Freeride-Saison fehlt, ändert das nichts daran, dass einem die Angebote zu dem Thema alpenweit um die Ohren fliegen.

So wirbt Engelberg in der Schweiz als ein Ort unter vielen mit den "Snow-&-Safety-Tagen"; die italienische Gemeinde Livigno informiert inzwischen mittels einer App über die aktuelle Schnee- und Lawinensituation abseits präparierter Pisten, und Innsbruck erklärt sich in der Bescheidenheit einer Tiroler Landeshauptstadt zur "Freeride City". In den Hohen Tauern, wo sich die Skigebiete am Mölltaler Gletscher und in Sportgastein durch eine Freeride-Abfahrt verbinden lassen, ist auf Initiative einiger Skilehrer ein in beiden Gebieten gültiger Freeride Pass für 53 Euro entstanden. Zur Orientierung gibt es mit den Freeride Maps inzwischen Karten, auf denen das Gelände - ähnlich wie die Pisten im Skigebiet - durch Farben in Schwierigkeitsstufen unterteilt ist. Und falls dem Gast ein Trend alleine nicht reicht, wird als Verkaufsargument gleich noch einer draufgesetzt. In der Freeride Skischule Saalbach assistiert inzwischen beispielsweise eine Mentaltrainerin bei Angst vor steilen Hängen. Im Stubaital wird die Tiefschneetechnik heute mittels Yoga verfeinert. Motto: "Um das Powdern schneller zu powern."

Powdern statt Piste; freeriden statt Ski fahren. Die Anglizismen bilden den - vielen längst schon vertrauten - Grundton jener Werbekampagne, die vor allem junge, sportliche und international orientierte Menschen im Visier hat. Wer über die Internationale Sportartikelmesse Ispo in München - eine Veranstaltung für junge, sportliche und international orientierte Menschen - schlendert, kommt kaum an einem Stand vorbei, der sich nicht irgendwie dem neuen Hang zur Freiheit widmen würde. Da gibt es unter anderem spezielle Freeride-Hosen für noch mehr Lässigkeit, spezielle Lawinen-Rucksäcke samt Airbag für noch mehr Sicherheit, und besonders breite Freeride-Latten für noch mehr Auftrieb gibt es sowieso. Zumindest auf der Ispo haben sie den schmaleren Pistenskiern längst den Rang abgelaufen.

Dabei ist die Gruppe der Tiefschneefahrer bei genauerem Hinsehen bisher gar nicht so gewaltig, wie es die von der Sportartikelindustrie erzeugte Bilderflut und die Themengewichtung in den Wintersportmedien häufig suggerieren. Laut Branchenkennern ist nur jeder zehnte verkaufte Ski explizit auf den Tiefschnee zugeschnitten. Noch erstaunlicher sind die Zahlen aus den Skigebieten. Rolf Bissig von dem in Freeride-Kreisen durchaus als Hotspot anerkannten Skigebiet Andermatt-Sedrun schätzt: "Wenn man sich unser gesamtes Skigebiet anschaut, sind es vielleicht drei bis fünf Prozent Freerider." Auch Ischgls Tourismuschef Andreas Steibl taxiert den Anteil der Ischgler Skigäste, die am ausgewiesenen Freeride-Berg Piz Val Gronda unterwegs sind, "auf etwa fünf Prozent", Tendenz steigend. Der Piz Val Gronda wurde erst vor zwei Jahren mit einer knapp 30 Millionen Euro teuren Bahn erschlossen.

Für die Wintersportindustrie stellt sich vor allem die Frage: Wie viel gibt der Markt noch her, vor allem im Vergleich zum klassischen Pistenskifahren? Dort herrscht seit geraumer Zeit akuter Mangel an Innovation; zudem leihen sich inzwischen viele Skifahrer ihre Ausrüstung lieber aus, anstatt sie teuer zu kaufen. Herbert Buchsteiner, Produktverantwortlicher für Skier bei Atomic, sagt: "Der Markt ist extrem im Umbruch." Für Ab- und Umsatz muss deshalb über den Pistenrand geblickt werden. Dass trotz des immensen technischen Fortschritts die meisten Wintersportler das Skifahren im Tiefschnee nicht beherrschen und vielleicht auch nie beherrschen werden, sei gar nicht so relevant.

Die Käufer von Freeride-Skiern sind nämlich offenbar bereit, mehr Geld auszugeben: "Die Durchschnittspreise sind höher als bei Alpinskiern", sagt Buchsteiner. "Das sind wichtige Kunden, die wir abholen wollen." Zudem geht es der Branche laut Buchsteiner auch noch um etwas anderes. "Wir investieren, um wieder Emotionen für das Skifahren zu wecken." Dies sei inzwischen weniger auf als abseits der Piste möglich.

Von Naturverbundenheit hat der Freerider eine merkwürdige Auffassung

Die Erkenntnis ist noch gar nicht so alt. Udo Stenzel, Geschäftsführer von Völkl Deutschland, kann sich noch gut daran erinnern, wie er vor 20 Jahren an den ersten Skiern für den Tiefschnee bastelte. Und auch die Reaktion darauf hat er nicht vergessen: "Seid ihr wahnsinnig." Inzwischen stellt sein Unternehmen 20 Skimodelle für den Bereich abseits der Pisten her, wobei die Grenzen fließend sind zwischen dem Freeriden und dem Tourengehen, einer anderen, artverwandten Massenbewegung abseits der Pisten. Die gilt laut Udo Stenzel allerdings als "der Schrecken der Liftgesellschaften", weil Tourengeher den Aufstieg meist aus eigener Kraft bewältigen. Freerider hinterlassen da weitaus schönere Spuren in der Bilanz der Bergbahnbetriebe, wobei als Erklärung des Phänomens gemeinhin der gleiche, durchweg positiv bestückte Dreisatz wie beim Tourengehen herangezogen wird: mehr Fitness- und Gesundheitsbewusstsein, größere Naturverbundenheit, bessere Sicherheitsausrüstung.

Tatsächlich scheinen sich die teilweise vierstelligen Investitionen in Sicherheitspakete von der App des Lawinenwarndienstes (gratis) über das obligatorische Set aus LVS-Gerät, Sonde und Schaufel (300 Euro) bis hin zum Lawinenairbag (600 bis 800 Euro) auszuzahlen. Rudi Mair, Leiter des Lawinenwarndienstes Tirol, sagt: "Zwei Drittel der Lawinenopfer sind noch immer Tourengeher. Die Freerider bereiten uns da eher wenig Kopfzerbrechen." Das hat auch damit zu tun, dass die Bergrettung durch Handys schneller alarmiert werden kann. Relativ gesehen passieren jedenfalls immer weniger fatale Unfälle im Gelände, auch wenn dies in der Öffentlichkeit oft anders wahrgenommen wird. So liege die Zahl der durch Lawinen tödlich verunglückten Menschen in Tirol seit 20 Jahren konstant bei etwa zwölf Personen pro Winter, mit saisonalen Ausreißern. Und das, obwohl Mair meint: "Alle Aktivitäten abseits der gesicherten Piste boomen. Unseren Schätzungen zufolge sind zehnmal so viele Wintersportler wie vor zehn Jahren im ungesicherten Gelände unterwegs."

Von Naturverbundenheit hat der Freerider jedoch offenbar eine merkwürdige Auffassung. Manfred Scheuermann, beim Deutschen Alpenverein für naturverträglichen Wintersport zuständig, meint: "Diese Klientel ist die schwierigste, viel schwieriger als die Tourengeher." Während sich die inzwischen recht gut lenken ließen, kennt der Freerider im bayerischen Alpenraum laut Scheuermann oft kein Pardon: "Gerade bei Neuschnee fahren die alles nieder." Dabei gelte generell: "Je höher man kommt, desto geringer wird der Einfluss auf Natur und Landschaft. Je weiter es Richtung Wald und Waldgrenze geht, desto kritischer."

Neben der Frage, wie viel der Markt noch hergibt, stellt sich eine weitere: Wo soll das noch hinführen? Denn derzeit nimmt der Trend offenbar erst richtig an Fahrt auf. In der Schweiz wurde jedenfalls schon ein tiefschneefähiger Schlitten entwickelt, "zur kontrollierten Abfahrt im freien Gelände". Fehlt nur noch ein aus dem Pulver twitternder Hackl Schorsch.

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SZ vom 18.02.2016
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