Wie weit der Stier Europa getragen hat, kann jeder sofort nachprüfen - in seiner Brieftasche. Auf jedem Euro-Schein ist nicht nur Kontinentaleuropa abgebildet, wer genauer hinsieht, wird in ein paar kleinen Kästchen die Gebiete der EU finden, die nicht mehr auf die Karte passten. Neben den spanischen Kanaren sind dies die vier französischen Übersee-Départements: La Réunion, Guyane sowie die Karibikinseln Guadeloupe und Martinique.
Wie französisch und damit europäisch Martinique trotz der gut 6000 Kilometer Distanz zum französischen Festland ist, wird dem Ankömmling schnell klar: Der Aéroport Aimé Césaire in Lamentin nahe der Hauptstadt Fort-de-France ist modern und sieht mit seinem leuchtenden Weiß fast wie eine kleine Ausgabe des Münchner Flughafens aus. Zweimal täglich fliegen ihn Großraumjets der Air France von Paris-Orly aus an; auch Air Caraïbes, Air Canada und American Airlines bieten interkontinentale Verbindungen. Geldwechseln entfällt, man zieht selbstverständlich Euro aus dem Geldautomaten.
Auch unser Taxifahrer wirkt wie aus einem Luc-Besson-Film: Cool, sportlich und modisch gekleidet lehnt Marc Martial an seinem weißen Mercedes-E-Klasse-Taxi, das er - innerhalb Europas ja kein Problem - vor ein paar Jahren persönlich in Sindelfingen abgeholt hat. In die Stadt geht es auf der Autobahn, die in exzellentem Zustand und täglich zur Rushhour von Staus geplagt ist, vorbei an Industriegebieten und Carrefour- oder Géant-Casino-Supermärkten, deren Sortiment dem in Kontinentalfrankreich nicht nachsteht. Sogar eine kleinere Zwillingsausgabe des Pariser Wahrzeichens Sacré-Cœur thront auf einem Hügel nordwestlich von Fort-de-France.
Freilich, dass man nicht in Toulouse oder Lyon gelandet ist, wird ebenso schnell klar: schon beim ungewohnt feuchtheißen Luftschwall, der einen empfängt, sobald man durch die Türen des klimatisierten Flughafens tritt. Wie in der gesamten Karibik herrscht auf den 1100 Quadratkilometern (ungefähr die Fläche Groß-Berlins) Martiniques ein Tageszeiten-Klima: Es gibt nur eine Passatwind- und damit regenreichere Periode, aber die Temperaturen bewegen sich rund ums Jahr, tags wie nachts zwischen 23 und 33 Grad. Dementsprechend ist man an jedem Eck und zu jeder Zeit von Palmen, tropischer Vegetation (Martinique heißt in der Sprache der Ureinwohner "Madinina" - Insel der Blumen) und umherschwirrenden Kolibris umgeben. Dazu kommen Mangroven, Hügelketten und unzählige postkartentaugliche Buchten und Strände. Die Schwesterinsel Guadeloupe mag mit ihren zwei unterschiedlichen Hälften landschaftlich abwechslungsreicher sein, dafür hat Martinique an seiner Ostküste ein konkurrenzlos malerisches Gewirr aus Halbinseln und Inselchen zu bieten.
Im strukturschwachen Norden setzt die Organisation "Tak Tak" auf Ökotourismus
Europäische Lebensart unter Palmen und ewiger Sonne - ist Martinique also das ersehnte Paradies der Pauschaltouristen, die sich ja mehr oder weniger ihr Zuhause mit besserem Wetter und Meer erträumen? Die französische Regierung unter Nicolas Sarkozy wollte es einmal so. Nachdem es 2009 auf Guadeloupe und Martinique zu einem mehrmonatigen Generalstreik mit unruheartigen Zuständen wegen der immens steigenden Lebenshaltungskosten gekommen war, tagte eine Kommission ein Jahr lang, bis der Präsident persönlich verkündete, der Tourismus sei die Lösung der Probleme.
Daran zweifelt aber nicht nur unser Chauffeur Marc, der befindet: "Seit damals hat sich wenig geändert. Es ist eher noch teurer geworden." Er fährt fast rund um die Uhr, um den Standard für seine vierköpfige Familie zu halten. Denn die Zugehörigkeit zu Frankreich ist auf der einen Seite das Ruhekissen der Insulaner: Einen zweistelligen Milliardenbetrag pumpt Paris jährlich in seine Übersee-Départements, der soziale Schirm ist auch über den "compatriots en outre-mer", den Landsleuten in Übersee, aufgespannt. Andererseits aber hat das zentralistische Frankreich die Ökonomie der Inseln zu reinen Importwirtschaften degradiert. Nicht zuletzt deshalb findet man hier die höchste Arbeitslosenquote aller französischen Départements. Um aber beim Massentourismus mitzuhalten, wie ihn Kuba, die Dominikanische Republik oder selbst die Nachbarinsel St. Lucia betreiben, fehlen alle Voraussetzungen, schon wegen des viel höheren Euro-Preisniveaus. Aber auch wegen der selbstbewussten, auf Gleichberechtigung pochenden Mentalität der Martiniquaises.
Auch dieses Paradies hat also seine Unschuld verloren, und das nicht erst in den Zeiten der Globalisierung. Bereits im 10. Jahrhundert wurden die bäuerlichen Ureinwohner, die Arawaks, von den nachrückenden kriegerischen Kariben unterjocht. Ein paar Jahrhunderte später kamen die Europäer. Von Kolumbus 1502 entdeckt, wurde Martinique im 17. Jahrhundert durch normannische Abenteurer kolonisiert - von Kardinal Richelieus Gnaden, der nach dem Vorbild der niederländisch-westindischen eine Ostindien-Handelskompanie gegründet hatte.
Mit den üblichen Folgen: Die Ureinwohner waren nach kurzer Zeit nahezu ausgerottet, dafür holte man Sklaven für die Kaffee-, Kakao- und Zuckerrohrplantagen. Man mag es verdrängen, aber das bunte kreolische Straßenbild in Martinique - nur fünf Prozent Weiße, sonst Dunkelhäutige in allen Tönungen von tiefschwarz bis zu sehr hellen Chabines, dazu 15 Prozent Araber und Inder, die man nach der endgültigen Abschaffung der Sklaverei 1848 als Billiglohn-Ersatz herbeiholte - ist das Produkt einer Sklavenhaltergesellschaft.
Solchen Geschichtsunterricht bekommt man en passant von den Fischern in der winzigen Baie de Mulets kurz vor Vauclin im Südosten der Insel. Ihre Haupteinnahmequelle ist schon lange nicht mehr der Fischfang, sondern die Bootsfahrt für Touristen. Mit starken Außenbordern geht es erst mal entlang des Béké-Lands. Die Békés, das sind die hier gebürtigen Weißen, zumeist Nachfahren der Plantagenbesitzer, die immer noch in den Schlüsselpositionen sitzen und denen die großen Importfirmen, Supermärkte und Rumdestillerien gehören. Hier, am schönsten und teuersten Küstenabschnitt, haben sie ihre Villen.
Hier steht auch das Fünf-Sterne-Hotel Cap Est, in dem die französische Prominenz aus Politik, Kultur und Finanzadel urlaubt. Und hier schaut auch schon mal Hollywood vorbei, um Szenen für "Fluch der Karibik" zu drehen. Unbehagen will aber nicht aufkommen angesichts der unbeschreiblichen Schönheit dieser Wasser- und Küstenwelt, des Humors der Fischer - und des Privilegs, anschließend selbst für ein paar Stunden Herr eines winzigen Inselchens zu sein, um mit gegrillten Langusten und Zouk-Musik verwöhnt zu werden.
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Anregende Gespräche sind dabei garantiert, denn hier trifft man normalerweise nur Individualtouristen. Wohlhabende Pauschaltouristen wie die Gäste des nicht weit entfernt an einem Traumstrand in St. Anne gelegenen Club Med (der zu den ersten des Konzerns überhaupt gehört) bleiben meist unter sich. Gegen diese Art All-inclusive-Urlaub wettert einer wie Léon Tisgra schon lange. Der energische Biobauer hat in Fonds-Saint-Denis im hügeligen Norden mit seinem öko-zertifizierten Hameau du Morne des Cadets eine kleine Plantage für zwölf Gäste aufgebaut, die mit thematischen Ausflügen zu Geschichte, Natur und Küche der Insel ganz der Idee des sanften Tourismus gewidmet ist.
Zusammen mit etwa fünfzig Hoteliers, Gastronomen, Künstlern und Gewerbetreibenden hat sich Tisgra schon 2009 in der Organisation Tak Tak zusammengeschlossen, um den strukturschwachen Norden ökotouristisch zu fördern. Diese Benachteiligung des Nordens liegt an einer anderen chronischen Bedrohung des Paradieses Martinique: am mächtigen Montagne Pelée. Am 8. Mai 1902 brach dieser 1400 Meter hohe Vulkan zuletzt aus und machte das am Fuße des Vulkans liegende Saint-Pierre, die als "Paris der Inseln" bezeichnete blühende Hauptstadt, dem Erdboden gleich. Von 28 000 Einwohnern überlebten nur drei, die Stadt hat sich bis heute nicht von der Katastrophe erholt.
Die Küche ist eine Fusion aus französischer Raffinesse und kreolischen Aromen
Doch seit einiger Zeit tut sich etwas. Neue Museen und Naturparks wie die Domaine d'Émeraude locken Ausflügler. In Saint-Pierre selbst gibt es seit einigen Jahren wieder ein Hotel - und was für eines. Der Korse André und seine Frau Maryse ließen sich vom morbiden Charme des Städtchens bezaubern und bauten die "Villa Saint-Pierre", ein Haus mit neun Zimmern, in dem von den Bädern bis zu den Stühlen im Speiseraum alles selbst designt ist. Was einen reizvollen Kontrast zu den Ruinen des Ortes und dem dunklen Sand der perfekt geschwungenen Bucht ergibt.
Auch anderswo sorgen Franzosen aus dem Mutterland für bunte Tupfer. In Trois-Ilets haben sich Gilles und Anna Duplan ihren Traum von einem Hotel erfüllt. Bis 2001 arbeitete Gilles im südfranzösischen Valence in der IT-Branche, seine Frau betrieb einen Friseursalon. Dann stiegen sie aus, besiegten die kreolisch-französische Bürokratie und erbauten das einzigartige "La Suite Villa".
In den über und über mit Blüten bedeckten Suiten des mit einheimischer Kunst vollgestopften Herrenhauses ragen Betten wie Throne empor, um genau wie die Jacuzzis auf den Terrassen einen einmaligen Blick auf die Bucht von Fort-de-France zu eröffnen. Gilles betreut jeden Gast selbst, und man merkt rasch, dass ihm humorvolle, tiefsinnige Unterhaltungen wohl das Wichtigste an seinem neuen Lebensentwurf sind. Die finden vorzugsweise im hauseigenen Restaurant "Le Zandoli" statt, in dem ein Drei-Sterne-Koch karibische Molekularküche zaubert.
Apropos Küche. Nirgends in der Karibik und weit darüber hinaus können Gourmets so auf ihre Kosten kommen wie auf Martinique. Mit dem besten Rum der Welt zum Beispiel. Wie er - inzwischen wie edle Whiskeys in Weinfässern verschiedenster Provenienz ausgebaut - gemacht wird, und welche die Insel prägende Geschichte dahintersteckt, kann man in zehn Destillerien besichtigen, die schönste ist die Habitation Clément nahe Le François. Und in vielen exzellenten Restaurants haben junge Chefs bei den Granden der Nouvelle Cuisine gelernt und die Raffinesse der französischen mit dem frugalen Reichtum der kreolischen und dem Feuer der asiatischen Küche vermählt. Eine Mischung, die generell für die "Créolité", die Gesellschaft Martiniques gilt: Nirgendwo ist das Europa der Regionen so bunt wie hier.