"Refuge du Montenvers" bei Chamonix:Zum Dahinschmelzen

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Der Felssporn Montenvers oberhalb von Chamonix ist seit dem 19. Jahrhundert ein Ausflugsziel am Gletscher Mer de Glace. Nun hat dort das Grand Hotel wiedereröffnet - doch der Ausblick auf die Berge hat sich verändert.

Von Florian Sanktjohanser

Ein bisschen arg streng gucken sie schon, die Edelgäste von einst. Von jeder Tür starren sie einen an: Charles Dickens, Franz Liszt, Marie Louise von Österreich, Lord Byron. Sie alle kamen hierher nach Montenvers, um wie Goethe den "Eisstrohm" zu sehen, der "stufenweis biss hinunter in's Thal dringt". Mary Shelley machte das Mer de Glace sogar zum Schauplatz einer Szene in ihrem "Frankenstein".

Jetzt sind sie, in Sepia auf dunklem Grund, Kronzeugen für die Geschichte des Grand Hotels, in dem zuletzt viel Altes für den Komfort von heute weichen musste. "Wir wollten die Atmosphäre erhalten", sagt Jérémy Brunet, "und es nur ein bisschen moderner machen." Brunet, 30 Jahre alt, ist der neue Chef des "Terminal Neige - Refuge du Montenvers", wie das Hotel über dem dahinschmelzenden Gletscher jetzt heißt. Er ähnelt ein bisschen Ryan Gosling, sein Nasenrücken ist verbrannt vom Berglaufen. Als er vor zehn Jahren nach Chamonix zog, kam er auch zum ersten Mal nach Montenvers. "Es war ein Traum für mich, hier zu arbeiten", sagt Brunet artig.

Seit 1880 steht das Grandhotel hier auf seinem Logenplatz in 1913 Metern Höhe, ein massiger Steinbau, vier Stockwerke, weiß-rote Fensterläden. Ende 2015 übernahm die französische Hotelkette Sibuet es von der Firma, die den historischen Zug nach Montenvers und die Seilbahnen in Chamonix betreibt. "Vor der Renovierung war es, nun ja, rustikal", sagt Brunet. Über Jahre wurde wenig investiert, langsam verblich der Glanz, verfiel die Grandezza.

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Als das Hotel im September 2016 schloss, wurde als Erstes das Dach abgerissen und erneuert, dann der Rest umgebaut. "Aus drei Zimmern wurden zwei", erklärt Brunet, um Platz für das jeweilige Bad zu schaffen. Vorher gab es nur Etagenbäder. Die Zahl der Zimmer blieb dennoch ungefähr gleich. Dafür wurde das Museum im ersten Stock geopfert.

Die Holzvertäfelung im Speisesaal und in den Zimmern durfte bleiben, wegen der Patina. Betten, Möbel und Dekoration sind neu - und sollen doch alt wirken, was hübsch ist, aber manchmal unfreiwillig komisch. Lederkoffer auf Holzbeinen dienen als Nachttische, das tiefe Waschbecken hat altmodische Armaturen. Der Boden ist mit braunem Teppich in Holzdielen-Optik ausgelegt. Die echten Dielen hätten zu laut geknarzt, sagt Brunet.

Auch im Foyer wird kräftig historisiert. Die neue Bar ist aus alten Möbeln gezimmert, auf einer Anrichte steht eine uralte Registrierkasse, daneben ein geschnitzter Kleiderständer mit Panamahut. Als Lampen hängen Milchglaskugeln an Lederriemen. Dazu ist Jazziges wie Dixieland und Bigband-Musik zu hören.

Französische Alpen
:Im "Refuge du Montenvers"

Zwischen den Welten: In Hotel und Panoramarestaurant am Felssporn Montenvers achtet der Gast auf Details, draußen sieht er den Wandel der Natur.

Wie es hier in den ersten Jahrzehnten des Alpintourismus zuging, lassen die Zeichnungen und Schwarz-Weiß-Fotos an den Wänden ahnen. Bilder von Bergsteigern, die auf Holzleitern über Gletscherspalten kraxeln, von Herren in Anzug und Zylinder, von Damen, die in langen Röcken und mit breiten Hüten übers Eis spazieren - oder sich in Sänften tragen lassen.

Wenn die Bilder nicht lügen, floss der Gletscher damals nahe am Hotel vorbei. Mer de Glace nannte ihn der britische Bergsteiger William Windham bereits im Jahr 1741, Eismeer. Heute wäre freilich der Name Rivière de Glace passender, Eisfluss. Die blanken Felsufer zeigen klar, wie stark der Eisstrom geschrumpft ist. Der längste Gletscher Frankreichs bleibt er trotzdem.

Wer das Mer de Glace heute in all seiner Pracht sehen will, geht vorbei am kleinen Bahnhof, an dem alle 20 Minuten der rote Zug aus Chamonix neue Tagesgäste auslädt, vorbei an der Seilbahn, die zur bunt ausgeleuchteten Gletscherhöhle hinabfährt, bis zum Restaurant Le Panoramique, das ebenfalls zum Hotel gehört. Seinen Namen verdient es sich durch die weite Terrasse in Form eines Schiffsbugs. Der Ausblick ist fantastisch: Rechts stoßen Granitnadeln ins Himmelblau, links ragt der geriffelte Felsdorn der Aiguille du Dru auf, in der Ferne leuchten schneeweiß die Bergspitzen der Grandes Jorasses. Und dazwischen windet sich der graue Eisstrom.

Auch die Terrasse wurde im Zuge der Renovierung abgerissen und neu gebaut, mit hellem Holzboden und Glasbrüstung. Vom Restaurant blieben nur die Wände stehen. Mit den runden Marmortischen, den minimalistischen Holzstühlen und den Vorspeisen in Einmachgläsern wirkt es wie eine Cafeteria. Muße für ungestörten Naturgenuss findet man zwischen den Zugladungen von Tagesausflüglern natürlich eher schwer. Wer zumindest ein bisschen Ruhe haben will, steigt eine halbe Stunde hinauf zum Aussichtspunkt Le Signal, markiert durch einen Wald von Steinmanderln. Hier endet auch der Höhenweg, der von der Mittelstation der Aiguille du Midi herüberführt, zu Recht Grand Balcon Nord genannt. Der Balkonweg ist weit davon entfernt, ein Geheimtipp zu sein. Familien, Bergläufer und Reisegruppen aus Ostasien in Handschuhen und Riesenschirmmützen sind unterwegs, immer wieder muss man ausweichen. Oder warten. Aber was macht das schon bei dieser Aussicht? Über den Wiesenhängen, gesprenkelt mit Felsen und Büschen, erheben sich Felsnadeln so scharf wie Haifischzähne, zwischen ihnen hängen Gletscherzungen herab.

Der Balkonweg ist leicht, aber kein Spaziergang im Park. Jérémy Brunet sagt, es passiere immer wieder, dass Wanderer hier ankommen - manche in Flip-Flops - und feststellen, dass sie den letzten Zug verpasst haben. "Sie schauen sich die Zimmer an, hören den Preis und sagen: Okay, wir bleiben trotzdem."

Bereuen werden es die wenigsten. Wenn am Abend der letzte Zug ins Tal gefahren ist, wird es ruhig und familiär im Hotel. Die wenigen Übernachtungsgäste versammeln sich zum Dinner im Wintergarten. Bei gutem Wetter sehe man durch die neue Glashülle den Sonnenuntergang, sagt Brunet, und manchmal kämen Hirsche aus dem Wald. Vor allem im Nebel bleibt das Gefühl, an einem entrückten Ort zu speisen. Den Salat mit Bergkäse und Nüssen, die Kalbspastete und das Tartiflette, einen Savoyer Kartoffel-Käse-Auflauf würde man auf einer normalen Alpenhütte eher nicht bekommen. Wer will, kann sich dazu eine Flasche Château Mouton-Rothschild von 2003 für 530 Euro bestellen. Steif und manieriert geht es trotzdem nicht zu. Die Kellner sind jetzt, da der Tagestrubel vorbei ist, locker und witzig, die Gäste leger angezogen und ebenso entspannt.

Wie sagte Jérémy Brunet über sein Hotel? "Es ist eigentlich nicht Luxus. Aber an diesem Ort schon."

© SZ vom 28.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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