Man muss hier, draußen auf dem Wasser vor Port Camargue, einfach sagen: Das ist nicht das Südfrankreich aus dem Klischee. Kein Lavendelfeld, kein Weinstock, keine kleinen Steinhäuschen. Als schiefergrauer schmaler Streifen liegt das Land hinterm Meer. Nur weiter südlich an der Küste erhebt sich etwas Landschaftsartiges. Es ist kein Gebirge, es sind die weißen pyramidenartigen Hochhäuser aus dem Betonort La Grande Motte, die der Architekt und Oscar-Niemeyer-Verehrer Jean Balladur hier in die Landschaft geknallt hat. Krassester optimistischer Gestaltungswille der Sechziger und Siebziger, im cleanen Weiß des Funktionalismus, das seinen Platz neuerdings in den Designs aus Silicon Valley wiedergefunden hat.
Die Privatvillen haben hier Meerzugang. Direkt vor der Terrasse liegt das Schiff
Und weil der Optimismus so groß war und die Leute alle ans Meer wollten, erließ der französische Staat 1963 ein Dekret, um seine Mittelmeerküste für den Massentourismus der Mittelklasse zu rüsten. Die Mission Racine erlaubte, ach was, sie verlangte geradezu den Bau von Orten wie La Grande Motte, die sorglose Ferien in fortschrittlicher Architektur versprachen. Da Monsieur Balladur, ein Cousin des späteren Premierministers Édouard Balladur, schon dabei war, durfte er 1969 auch Port Camargue konstruieren, den bis heute größten Yachthafen nach San Diego - als neuen Ortsteil der Fischergemeinde Le Grau-du-Roi, künstlich aufgeschüttet im Niemandsland. Wobei das genau genommen nicht stimme, behaupten die Älteren. Da, wo heute die Yachten Mast an Mast schaukeln, habe es einmal Weinstöcke und auch einen Friedhof gegeben - aber wer weiß das noch?
Heute kann man sich hier ein weißes Reihenhäuschen zum Quadratmeterpreis von 3500 bis 8000 Euro kaufen; 5000 Bootsliegeplätze gibt es, davon 2242 vor einer Marina, einer Privatvilla mit Meerzugang. Statt eines Autos liegt das Boot vor der Terrasse. Leise tuckern Motoren mit den maximal im Hafen erlaubten fünf Knoten vorbei. Nirgendwo ist mehr Florida in Frankreich.
Fünf Knoten sind natürlich kein Leben, und sobald man die Hafeneinfahrt hinter sich lässt, flitzen Jetskis und zigarrenförmige Schnellboote über das Wasser. Da wundert es einen nicht, wenn plötzlich ein Raketenmensch im Neoprenanzug an einem dicken gelben Schlauch aus dem Wasser aufsteigt und in zwei Metern Höhe in der Luft steht. Es sieht aus, als ob er am Tentakel eines gelben Monsters hinge, dabei ist es der Rückstoß aus einem Jetski, der das Ganze antreibt. Erfunden hat das Flyboard ein Typ aus Marseille namens Franky Zapata, der nicht nur Tüftler, sondern auch Jetski-Weltmeister ist. Und natürlich hatten sie das Wunderding in Port Camargue zu allererst. Das behauptet jedenfalls Pierrot, der im Hafen so ziemlich alles vermietet, was auf dem Meer Tempo hergibt. Seine Mitarbeiter haben die vorgeschriebenen Hipster-Bärte und erklären Kunden, die in Bikinis und Badehosen warten, auf Englisch oder Französisch, wie die Sache läuft - nämlich so, wie sie es sagen. Was aber durchaus Sinn ergibt, weil sich der Jetski auf 80 Kilometer pro Stunde hochdrehen lässt.
Sorglose Ferien in fortschrittlicher Architektur: Das Versprechen des Architekten Jean Balladur, verwirklicht im einstigen Niemandsland.
Von oben wird deutlich, wie der Jachthafen den Ort dominiert.
Eine Stadt für Boote: 8400 Leute leben hier, aber im August sind bis zu 120 000 Menschen im Ort.
Bernard Suzzarini war 1969 der erste Angestellte in dieser Stadt aus Booten. Heute sitzt er im Verwaltungsrat, und er kann sich gut erinnern: Früher waren Wassersportler gern etwas elitär, und auf jeden Fall hatten sie ihr eigenes Boot. "Es hat sich demokratisiert", sagt Suzzarini und meint: Das kann heute jeder haben. Man kommt für ein Wochenende her, mietet die Ausrüstung und fährt am Sonntag wieder heim. "Man muss schließlich auch arbeiten, oder?" Den Bootsführerschein kann man deshalb übers Wochenende machen und vom Segelboot bis zur Kitesurfing-Ausstattung alles leihen.
Eines aber hat Bestand, und das sei die Hafen-Konstruktion von Balladur, lobt Suzzarini, der nicht mit der Wimper zuckt, wenn man ihm mit dem Stichwort Venedig den Untergang aller Lagunen prophezeit. Auch die Wasserqualität sei gut, sagt er, und erklärt das damit, dass das Wasser hier durch spezielle Schächte geführt wird, die sogenannten Buses. Tatsächlich verzeichnet der Geschäftsbericht genau, wenn sich schlechtere Werte häufen, was schon mal vorkommt. Der Hafen hat hier nicht festes Land im Rücken, sondern eine riesige, miteinander verbundene Seenlandschaft, die berühmten halbsalzigen Étangs der Camargue. Mit dem Hinterland ist das Hafenbecken verbunden. Bis aus Korea und Dubai seien sie angereist, sagt Suzzarini, um zu sehen, wie man das hier macht: einen Hafen ohne brackiges Wasser.
Es gibt noch ein anderes Le Grau-du-Roi, das alte, und deshalb muss noch eine andere Geschichte erzählt werden. Sie beginnt mit den Vögeln. Die Vögel kommen jeden Tag um fünf Uhr abends. Ein flatternder grauer Knäuel, der übers Meer heranzieht. Dann erst sieht man die Kutter, denen der Schwarm folgt. Wenn sie in Sichtweite sind und in den Canal du Midi einfahren, der hier mündet und das Dorf teilt, gehen die Ampeln auf Rot, Schranken senken sich. Die Eisenbrücke dreht sich zur Seite und gewährt Durchfahrt in den Hafen weiter oben. Und die Leute ärgern sich wie jeden Tag, dass sie in den Stau geraten sind. Man hängt fest, kann nichts tun, außer aus dem Auto auszusteigen, die Auslage des Pâtissiers zu betrachten, in Richtung alter Leuchtturm zu schlendern oder einfach den Kuttern zuzusehen. Der Kanal teilt den Ort für eine Viertelstunde so wie einst, als es keine Brücke gab, sondern nur eine Seilfähre.
Le Grau-du-Roi wird kurz nach fünf verlässlich wiedervereinigt. Nach dem letzten Kutter schiebt sich die Brücke zurück, die Schranken gehen hoch, Fußgänger, Radfahrer, Autos starten und bilden in der Mitte der Brücke einen neuen Knäuel, ungefähr so wie vorhin die Möwen. Einheimische sagen, man müsse drei Generationen auf dem Friedhof liegen haben, erst dann sei man wirklich von hier. Denis-Pierre Gozioso erzählt das, ein pensionierter Feuerwehrmann, der sich um die Ortschronik kümmert. Er ist von hier, er darf witzeln. Es soll auch Familien geben, die seit Generationen verfeindet sind und ganz vergessen haben, warum.
Vielleicht sind die Gründe im Gewimmel untergegangen. 8400 Leute leben hier, aber im August sind bis zu 120 000 Menschen im Ort. Sie bevölkern die Hotels, die direkt am Strand fünfstöckig sind, und die Ferienanlagen, die sich im September leeren und den Winter über oft zugesperrt dastehen. Sie schieben sich durch die grelle und etwas ordinäre Vergnügungsmeile, wo es Souvenirs gibt und Eis und Badesachen. Und deshalb sitzt der Bürgermeister Robert Crauste in einer nagelneuen Kommunal-Architektur, Kubus schiefergrau mit Wasserspielen auf dem Vorplatz, und sagt, dass er seinen Bürgern helfen müsse, zwei Mal im Jahr einen Schock zu ertragen: den, wenn die Touristen kommen, und den zweiten, wenn sie plötzlich zu Schulanfang wieder weg sind.
Robert Crauste ist kein Konservativer, sondern ein Linker. Der Allgemeinmediziner trägt das Hemd über der Jeans. Er hat die Steuern erhöht, weil die Gemeinde Schulden hat, aber er es wichtig findet, trotzdem zu investieren. Er spricht davon, Dinge zu fördern, die den Einheimischen genauso nutzen wie den Touristen, Radwege zum Beispiel. Die Instandsetzung des alten Leuchtturms. Robert Crauste kann vom Rathaus aufs Meer blicken, oder nach rechts auf das alte Dorf, oder nach links zum Yachthafen, der der Gemeinde im vorigen Jahr 920 000 Euro Steuereinnahmen gebracht hat, und der auch sonst für die Wirtschaftskraft unersetzlich ist. Sein Rathaus steht nicht mehr am Kanal mit der Drehbrücke, wie es früher war. Es steht zwischen dem Dorf und Port Camargue. Eine neue Mitte könnte man das nennen.
Die Radwege des Monsieur Crauste aber führt über 16 Kilometer entlang der Küste, hinter den Dünen. Es gibt hier nichts außer Sand, Gräsern, Wasser und ein paar Nackten. Man kann sich auch ein Kajak mieten - die Kommune unterhält den Verleih - und auf einem Lehrparcours durch die Étangs fahren. Da ist man schnell unter der letzten Straßenbrücke durch und paddelt auf kleinen Seen durch die Landschaft, biegt in einen Kanal ein, der sich wieder öffnet, schaut seltenen Vögeln zu oder in den Himmel. Es ist vollkommen still. Keine Straßen, keine Menschen. Keine Motorboote.
Nicht weit von hier muss eine weiße Welt liegen, gebaut aus Beton und Tempo. Vielleicht gibt es sie aber auch gar nicht.