Serie: Traumreisen:Vierzehn Stufen bis in die Provence

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Während des Theaterfestivals in Avignon wird die ganze Stadt bespielt - besonders stimmungsvoll sind die Abende vor dem Papstpalast. In diesem Jahr fällt das Festival aus.

(Foto: AFP)

Unser Autor besucht seit 25 Jahren das Theaterfestival in Avignon. Diesmal fällt die Reise aus - dabei ist die Region voller Dinge, die er nicht mehr missen möchte.

Von Stefan Fischer

Vierzehn Stufen führen hinab in die Provence. Von dort, vom Ende eines kurzen Ganges am Fuß der Treppe, habe ich einige besondere südfranzösische Orte im Visier: Beaumes-de-Venise, Vacqueyras, Gigondas, Châteauneuf-du-Pape auf der linken Rhôneseite, Lirac, Domazan und Tavel auf der rechten, die offiziell nicht zur Provence zählt.

Halt, nein: Tavel ist aus. Das Dorf ist bekannt für besonders charakteristische Roséweine. Doch die letzte Flasche aus meinem Keller war an einem warmen Frühlingsabend im April irgendwann leer. Gewöhnlich würde ich im Juli Nachschub besorgen. Erst einmal aber schrumpfen die Vorräte weiter. Denn beim Gedanken, dass die Reise in die Provence heuer ausfällt, entsteht der dringende Wunsch, noch eine Flasche zu entkorken. Etwas Schweres, einen Rotwein aus Gigondas, da sind noch zwei, drei Flaschen da; oder gleich vom besonders guten aus Châteauneuf-du-Pape.

Serie Traumreisen

Vom Glück, unterwegs zu sein: Die Corona-Krise schränkt die Reisefreiheit massiv ein. Was bleibt, sind die Erinnerungen an die schönsten Touren. Und die Hoffnung, dass sie bald wieder möglich sind.

Seit 25 Jahren reise ich sommers für eine Woche nach Avignon, zum Theaterfestival. Gut, einmal habe ich das Festival ausgelassen und bin erst im September gefahren. Und 2012 bin ich tatsächlich gar nicht in Südfrankreich gewesen. Aber das war ein Ausnahmejahr: Mit einem Neugeborenen auf dem Arm nimmt man sogar ein verlorenes "Finale dahoam" mit einem Achselzucken hin; und auch die Provence geht einem nicht sonderlich ab.

In diesem Jahr wird sie mir abgehen, geht sie mir schon jetzt ab. Der Anlass der Reise, das Festival in Avignon, ist abgesagt. Storniert ist das abseits des Festival-Trubels gelegene Ferienhaus in Villeneuve-lès-Avignon, storniert ist der Mietwagen.

Ein gar nicht so kleiner Trost ist da das Konzentrat der Provence im Keller, auf Flaschen gezogen vor zwei oder drei, in einigen Fällen gar vor zehn Jahren. Es ist ein doppelter Trost: Die Weißweine und Rosés von der Rhône sind fruchtig, ohne süß zu sein, die Rotweine voll und kräftig. Und sie sind verknüpft mit besonderen Orten und Menschen, mit schönen Erlebnissen. Und weil ich dazu neige, immer zu viel zu kaufen, ist der Keller recht voll.

Gigondas und Vacqueyras werden ausgehen, das schon, am Ende des Sommers wohl auch die Weine vom Château de Coccinelles in Domazan. Karton für Karton wird verschwinden und mit ihnen das Provence-Panorama aus den Schriftzügen diverser Weingüter, stattdessen werde ich auf immer größere Teile der unverputzten Kellerwand blicken.

Es bliebe natürlich die Möglichkeit, sich die Weine liefern zu lassen. Aber um die Weine alleine geht es nicht. Es geht darum, die Winzer wiederzutreffen, ihr Angebot zu probieren und auszuwählen. Mit ihnen zu plaudern, nicht nur über die Weine. Im Château de Coccinelles etwa hängt der großformatige Abzug eines Familienfotos der Eigentümer. Eine alte Frau, die auf dem Bild als kleines Mädchen zu sehen ist, und eine ihrer Cousinen, deren Mutter mit ihr schwanger war, als das Foto entstand, leben noch, so erzählt es Jean-Baptiste Mangin, der Verwalter des Weingutes, das sehr früh, Ende der 1970er bereits, auf biologischen Weinbau umgestellt hat.

Rituale sind wichtig. Für die Winzer, für die Theaterleute, für den Reisenden

Inzwischen müsste ein zweites Foto daneben hängen, aufgenommen bei einer Hochzeit im vergangenen Jahr, bei der sich die Großfamilie Jahrzehnte später wieder fotografieren lassen wollte.

Traditionen und Rituale sind wichtig. Für die Winzer, für die Theaterleute, für den Reisenden, der jährlich wiederkehrt. Die Intendanten des Festival d'Avignon sind gekommen und gegangen, jeder von ihnen hat neue Ideen verwirklicht. Doch eines ist gleichgeblieben: die Fanfare, mit der die Zuschauer auf ihre Plätze geblasen werden, eine Reminiszenz ans Mittelalter, an die Jahrzehnte, in denen Avignon Papstsitz war und von der Stadt schon einmal eine große Strahlkraft ausgegangen ist.

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Ein Fotoprojekt zeigt frühere Bewohner von Vaison-la-Romaine.

(Foto: Stefan Fischer)

Während des Festivals ist die ganze Altstadt eine Bühne, mit einigen sehr besonderen theatralen Orten. Die Eröffnung findet stets im Ehrenhof des Papstpalastes statt. Der ist so groß, dass einmal ein See auf die Bühne gebaut worden ist, den ein Kahn befahren konnte. Am Ufer dieses Sees, der glaubhaft als das Meer durchging, das er darstellen sollte, stand Isabelle Huppert als Medea. Einige Kilometer rhôneabwärts der Stadt liegt ein Steinbruch. Von den felsigen Wänden des Carrière de Boulbon habe ich die Klänge koreanischer Saiteninstrumente widerhallen hören - eine akustische Scheußlichkeit ersten Ranges - und die basstiefe, lebensschrundige Stimme Jeanne Moreaus, die noch Tage danach angenehm durchs Ohr hallte.

Theater in Avignon ist vor allem ein Open-Air-Spektakel, mit Inszenierungen, die man so nur dort realisieren kann. Der gesamte Rosenkriegs-Zyklus von Shakespeare im Kreuzgang des ehemaligen Cölestinenklosters: Man wird, nach fünf, sechs Stunden, zusammen mit den Schauspielern müde, gegen vier Uhr morgens wird es obendrein kalt, der Mistral bläst kühl zwischen den beiden Platanen im Kreuzgang hindurch. Wenn die Sonne aufgeht, sind alle Schlachten geschlagen. Wer dabei war, für den beginnt nicht bloß ein neuer Tag, sondern ein neues Zeitalter. Mit diesem Gefühl jedenfalls verlässt man das Gemäuer, und es dauert, ehe man wieder in der Realität angekommen ist.

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Auf Plakaten, wie hier in der Rue de la Peyrolerie, werben die Ensembles in Avignon um Publikum.

(Foto: AFP)

Franzosen, die über Karl Valentin lachen, drei verschiedene Inszenierungen von Becketts "Endspiel" innerhalb von zwei Tagen, Theater aus Portugal, Russland, Argentinien, Algerien, der Elfenbeinküste. Spätabends, wenn es dunkel wird, öffnen sich Türen in faszinierende Welten, weiten sich das Denken und Empfinden.

Die Tage gehören unterdessen den profanen Schönheiten. Die Provence ist eine reiche Kulturlandschaft, geprägt nach wie vor von der Landwirtschaft. Entlang der Rhône dominiert der Weinbau, südlich der Alpilles, rund um Les Baux-de-Provence, sind es die Oliven. Fährt man nach Osten, durchquert man einen riesigen Obstgarten: Äpfel, Pfirsiche, Aprikosen, die Melonen von Cavaillon. Der Weg führt hinüber zu den schönen Dörfern des Luberon, nach Fontaine-de-Vaucluse, nach Gordes mit der Abtei von Senanque sowie Roussillon und seinen Ockerfelsen. Biegt man von dort in Richtung Norden ab, kommt man nach Sault, ins Zentrum der Lavendelproduktion.

Es dauert eine Zeit, bis man die besten Buchhandlungen und Restaurants ausfindig macht

Mitunter dauert es Jahre, ehe man entdeckt, was man von da an nicht mehr missen möchte: auf der Île de la Barthelasse, die die Rhône auf der Höhe von Avignon in zwei Flussarme teilt, den Hofladen eines Biobauern. Die besten Buchhandlungen sowie jene Restaurants, die nicht darauf aus sind, ein schnelles Geschäft mit den Touristen zu machen. Die "Bar à Vins"-Abende im Hof des "Syndicat des Vignerons des Côtes du Rhône", der Vereinigung der Rhône-Winzer. Aus all dem entwickeln sich Bekanntschaften, ergeben sich Gespräche, die es überhaupt erst ermöglichen, die Provence kennenzulernen, die Bewohner und ihre Lebensart.

Es gibt auch Enttäuschungen und triste Momente: Über die Jahre ist der Lieblingsbäcker verschwunden, werden Klamotten verkauft, wo ein gutes Café war. Sind die Einlasskontrollen streng aufgrund der Terrorgefahr - vom Attentat in Nizza 2016 habe ich erfahren während des Besuchs einer wahnwitzigen, elfstündigen Inszenierung des fulminanten Romans "2666" von Roberto Bolaño.

Als Frankreich Fußballweltmeister wurde, 1998 und 2018, war ich stets schon wieder zurück in München. Die für Frankreich verlorenen Finals der WM 2006 und der EM 2016 habe ich indessen in den Straßen von Avignon gesehen. Wäre das der Preis gewesen in diesem Jahr für ein dreiwöchiges Theater- und Straßenfest, dass Frankreich erneut ein EM-Finale verliert - die Theatergänger, die Winzer und Landwirte, die ihre Erzeugnisse auch an die Urlauber verkaufen, die Ferienhausbesitzer, sie hätten wohl eingewilligt. Ich ohnehin.

Korrektur: In einer früheren Version dieses Artikels haben wir zur Bebilderung der provenzalischen Gemeinde Roussillon fälschlicherweise ein Bild der Teufelsbrücke von Olargues (Pont du Diable) in der früheren südfranzösischen Region Languedoc-Roussillon verwendet.

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