Deutschland steht auf der Kippe. Kann sich nicht so recht entscheiden, wie es weitergehen soll. Eher mit dem guten alten Handschlag? Oder doch lieber Bussi-Bussi-Gesellschaft? Glaubt man Umfragen, dann ist das hingehauchte Wangenküsschen auf dem besten Weg, den (hoffentlich kräftigen und nicht waschlappenweichen) Händedruck zumindest im Familien- und Freundeskreis als Begrüßungsritual abzulösen.
Ob man sich damit einen Gefallen tut? Denn die Sache mit dem Küssen ist kompliziert, das erleben alle, die auf Reisen bereit sind, Land und vor allem Leute kennenzulernen. Man muss dafür gar nicht in alle Welt ausschwärmen, es reicht, in Europa unterwegs zu sein.
Meister des Küssens sind, bien sûr, die Französinnen und Franzosen – man denke nur an Emmanuel Macrons innige Begrüßungsszenen mit der Kanzlerin Angela Merkel. Aber Achtung: Une bise rechts, une bise links – das mag bei einem Besuch in der Olympiastadt Paris funktionieren. In anderen Regionen im Land ist die Angelegenheit damit noch längst nicht erledigt. Im Süden dürfen es auch mal drei Küsschen sein, in der Normandie im Norden sogar vier. Im äußersten Westen der Bretagne dagegen, im Département Finistère, wäre das ganz klar zu viel der Knutscherei: Gerade mal ein magerer Luftkuss ist dort üblich. Und während der Mensch gegenüber längst fertig ist mit dem Begrüßungsritual, wird man mit gespitzten Lippen hilflos schräg in der Luft hängend als interkultureller Ignorant enttarnt.
Immerhin, es gibt die Website „Combien de bises?“ (Wie viele Küsse?) mit einer Frankreich-Karte, die verraten soll, wer wo wie viel küsst. Wissenschaftlich fundierte Daten sollte man allerdings nicht erwarten: Die Informationen beruhen darauf, dass User – hoffentlich wahrheitsgemäß – die Kussgewohnheiten ihrer Heimatregion online melden. Und geklärt ist damit ohnehin längst nicht alles, denn es bleibt immer noch die Frage, mit wem das Küsschen überhaupt angemessen ist. Bei jedermann? Nur unter Freunden? Nur zwischen Frauen? Und wo anfangen, links oder rechts? Einmal falsch abgebogen, und zack, gibt’s eins auf die Nase.
Nicht nur Frankreich, sondern halb Europa ist ein Flickenteppich der Wangenkuss-Rituale. In Italien und Spanien ist die Angelegenheit mit zwei baci respektive besos in aller Regel erledigt, in der Schweiz, in den Niederlanden und in Belgien müssen es drei Küsschen sein. Nur die Skandinavier ziehen nicht so recht mit, aber vom dänischen Philosophen Søren Kierkegaard stammt ja auch die Weisheit: „Der Kuss ist eine symbolische Handlung, die nichts zu bedeuten hat, wenn das Gefühl, das sie bezeichnen soll, nicht vorhanden ist.“
Schwer auszuhalten, diese Unsicherheit, wie man es denn nun richtig macht als aufmerksamer Reisender, vor allem in einer Zeit, in der moderne Technik in Form von Übersetzungsapps das Gefühl vermittelt, dass Verständigung immer und überall möglich ist. Aber vielleicht kommt ja irgendwann auch das Navi für die korrekte nonverbale Kommunikation. Den Aufenthaltsort eingeben, den Menschen gegenüber fixieren und schon flüstert ein Stimmchen heimlich ins Ohr: „Und jetzt die Lippen spitzen. Und den Kopf nach rechts neigen. Und nach links. Sie haben Ihr Ziel erreicht.“