Südfrankreich:So schmeckt es nur in Marseille

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Gemüse, Früchte, Gewürze: Im Viertel Noailles in Marseille sind auch exotische Zutaten zu haben. (Foto: Gamma-Rapho via Getty Images)

Edelrestaurant neben Schnellimbiss: In der französischen Hafenstadt ersetzt ein Streifzug durch das Viertel Noailles eine Weltreise - zumindest wenn es ums Essen geht.

Von Evelyn Pschak

Julien Diaz steht hinter der verglasten Ausgabe seiner Küche und arrangiert die purpurfarbenen Tentakel eines Oktopus, den er gerade aus dem Ofen gezogen hat, kreisförmig auf Tontellern. Die zehn Tische seines Restaurants sind zur Mittagszeit gut besetzt, ein Zwei-Gänge-Sterne-Menü für 24 Euro ist auch in Marseille ein Preisschlager. "In Marseille gab es die gehobene Küche nicht wirklich, es ist eine Stadt der Populärkultur", sagt der 37-jährige Küchenchef, dessen Restaurant Saisons im Viertel Castellane seit Anfang dieses Jahres einen Stern tragen darf. Edelgastronomie sei hier erst 2001 angekommen - mit der TGV-Verbindung nach Paris. Und mit den Ambitionen, die die Ernennung zur Kulturhauptstadt 2013 nach sich zog.

Das sieht 2019 ganz anders aus. Das kulinarische Festival MPG2019 - Marseille Provence Gastronomie 2019 - feiert das Jahr der Gastronomie in Marseille und in der gesamten Provence. Bis in den Dezember hinein werden kulinarische Events stattfinden, etwa Les Dîners insolites, die zu außergewöhnlichen Abendessen in der Schiffswerft von La Ciotat laden, an eine lange Tafel inmitten der Salzlandschaft der Camargue oder ins 2000-jährige Amphitheater von Arles. Aber auch zu rekordverdächtigen Großveranstaltungen: So dürfen sich Ende Juni beim "größten Kochkurs unter Anleitung eines Sternekochs" 1000 Freizeitköche um Lionel Levy scharen. Der Erfinder der "Milkshake-Bouillabaisse", die wie ein Milchmixgetränk aussieht, aber eine mit dem Handmixer aufgeschäumte Fischsuppe in drei Schichten ist, führt seit 2013 das Sternerestaurant Alcyone im Intercontinental. Direkt unterhalb des Hotels wird Levy in einem Open-Air-Atelier ein Rezept verraten - etwas mit Sardinen natürlich, schließlich befindet man sich direkt am alten Hafen.

Marianne Tiberghien ist Beauftragte der "Mission Centre-Ville" und repräsentiert als solche rund 1000 Ladenbesitzer des örtlichen Handels und Handwerks im historischen Herzen der Stadt. Bei der Année de la Gastronomie, sagt sie, wolle man den Reichtum zeigen, den die Provence auf den Tisch bringt. Zwar befinde sich die Veranstaltung unter der Schirmherrschaft von Marseilles einzigem Drei-Sterne-Koch Gérald Passedat, im Fokus stünden aber die Produzenten, die typische Zutaten wie Ziegenkäse, Honig, Thymiansirup oder Olivenöle liefern.

Da ist es also doch wieder, das populäre Marseille. Die Hafenstadt und Pforte zum Orient. Der Bauch von Marseille, erklärt Tiberghien, das sei auf jeden Fall Noailles. "Die aberwitzigsten Zutaten? In Noailles findet man sie." Dieses große kulinarische Reservoir rund um das orientalisch anmutende Gassengewirr des Marché des Capucins nutzt auch Alexandre Mazzia. Der von Gault & Millau gekürte Koch des Jahres 2019 ist im Kongo geboren und dort bis zum 15. Lebensjahr aufgewachsen. Für ihn sei es eine Freude, in Noailles Gewürze, Obst und Gemüse aus Nord- und Zentralafrika aufzuspüren. Das Restaurant des 41-Jährigen allerdings liegt in einem feinen Residenz- und Bankenviertel. Anfang des Jahres bekam er für seine aufsehenerregenden Kombinationen den zweiten Stern verliehen: etwa das in japanischem Reiswein marinierte Fleisch der Meerspinne, begleitet von mit Meerspinnenpanzersuppe übergossenem Grieß unter Wasabi-Pomade.

Seit 2013 gibt es kulinarische Streifzüge durch das Viertel. "In Noailles führe ich mein Publikum von Valencia über Hanoi bis auf die Kapverden, von Dschibuti über Beirut und Oran bis Tunis", sagt die Theaterschauspielerin und Dokumentarfilmerin Bénédicte Sire, eine der Führerinnen. Eigentlich wurden die Streifzüge für Touristen auf Kulturhauptstadt-Besuch erdacht, doch am Ende fanden sich vor allem Einheimische in den Gruppen. "Die hatten sich vorher nicht nach Noailles getraut", sagt Marianne Tiberghien. Das Viertel hatte keinen guten Ruf. "Zu durchmischt für den Geschmack von einigen." Daher ist es für Bénédicte Sire wichtig, dass die Gäste nicht nur das Essen probieren, das die Zuwanderer hier zubereiten.

Sie bindet auch die Lebenswege der Händler in ihre schauspielerisch unterfütterten Erzählungen ein. "Ich will ein Gefühl, eine Verbindung zwischen meinem Publikum und unseren Gastgebern aufbauen", erklärt die Französin. Wer die Rue d'Aubagne im Herzen von Noailles hinunterlaufe, so schrieb auch schon der Kriminalschriftsteller Jean-Claude Izzo in den 90er-Jahren, befinde sich auf einer Reise mit Stopps in Italien, Griechenland, der Türkei, Libanon, Madagaskar, La Réunion, Thailand, Vietnam, Marokko, Tunesien und Algerien. Auch dank dieser Vielfalt kürte die Tageszeitung La Provence die Straße im vergangenen April zum kulinarischen Zentrum der Altstadt.

Dabei sind nur wenige Monate vergangen, seit es in der Rue d'Aubagne zu einem Unglück kam: Am 5. November 2018 stürzten um kurz nach neun Uhr morgens zwei baufällige Häuser ein, ein drittes wenig später. Fünf Männer und drei Frauen verloren dabei ihr Leben. Die verbliebenen Häuserlücken sind inzwischen frisch planiert, doch die Anrainer seien noch immer wie gelähmt, sagt Tiberghien: "Es fällt den Leuten schwer, in die Rue d'Aubagne zurückzukehren." Noch immer ist Wut auf der Straße. Sie lässt sich an plakatierten, kämpferischen Parolen ablesen und gilt den Stadtoberen, denen die Anwohner vorwerfen, dass sie mehr Interesse an Prestigeprojekten haben als am Sozialwohnungsbau. Diese Gleichgültigkeit spiele Hauseigentümern in die Hand, die auf notwendige Sanierungen verzichteten, weil sie unter den sozial Schwachen auch so genügend Mieter fänden.

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Die Rue d'Aubagne ist einer dieser Orte Marseilles, an denen man sich entscheiden muss, wie man die Stadt verschlagworten mag: chaotisch, schmutzig, arm - oder eben kosmopolitisch, bunt und großzügig. Die Rollläden der meisten Geschäfte sind mit wilden, fröhlichen Graffiti besprüht, auf den Straßen liegt der ewige Staub der Stadt, aus selbstgezimmerten, mit Erde gefüllten Kisten wachsen tapfer grüne Sträucher. Ein Mann rollt polternd seinen Lastenkarren voller Gemüsekisten in eine Querstraße hinein. Er schlängelt sich durch die Auslagen der Geschäfte, die große Flächen der Trottoirs besetzen mit Hirsesäcken, Perücken und den bunten Werbetafeln für Flechtfrisuren zentralafrikanischer Schönheitssalons. Auch findet man hier orientalisches Backwerk, Korbmacher, Gewürzstände. Und ganz weit oben, vor den Absperrgittern, wo die eingestürzten Häuser standen, beschallen zwei Jugendliche die Straße mit wütender Musik.

Dies ist die Straße, in der man seit 1943 Pizza aus dem Holzofen bei Chez Sauveur bekommt. Oder die tunesische Brotsuppe Leblebi im Schnellrestaurant Chez Yassine, wo der Strom der Hungrigen nie abzuebben scheint. Noailles verweigere sich der Gentrifizierung, vor allem seit diesem Drama, sagt Tiberghien. Aber selbst die Rue d'Aubagne wird schicker.

Die 26-Jährige Ella Aflalo aus Nizza hat Ende März ihr Restaurant Yima eröffnet. Die junge Frau mit der Ausbildung am Lyoner Institut Paul Bocuse bewies sich 2018 bei der französischen Fernsehsendung "Top Chef" vor einer Jury aus Sterneköchen, sie gehörte zu den letzten 15 Kandidaten von mehr als 10 000 Bewerbungen. Und seit 2016 betreibt die ehemalige Food-Journalistin Julia Sammut, Tochter einer der raren Sterneköchinnen Frankreichs, die Épicerie L'idéal, einen Feinkostladen, in dem man auch essen kann. Sie habe immer gewusst, dass, sollte sie einmal einen eigenen Laden eröffnen, es hier sein müsse, inmitten all dieser verschiedenen Essenskulturen. "In Noailles", sagt sie lachend, "ist nämlich sowieso das gesamte Jahr über Année de la Gastronomie."

© SZ vom 16.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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