Es ist nur eine winzige Gasse, die neben dem Eingang zu Champagne Leclerc Briant den Hang hinaufführt. Doch wer ihr folgt, auch dann noch, wenn sie zu einem schmalen Feldweg zwischen grünen Hecken wird, der entdeckt einen Schatz: Einen kleinen Weinberg, wo Vögel zwitschern und die Betriebsamkeit des Champagnerstädtchens Épernay gleich vergessen ist. Im Sommer wachsen hier zwischen den Rebstöcken Klee und Rauke, Löwenzahn und Ringelblume, Schmetterlinge flattern umher. Auf diese kaum 0,6 Hektar ist Hervé Jestin, Kellermeister von Leclerc Briant, so stolz wie auf keine andere seiner Rebflächen. "In diesem Weinberg ist Leben", sagt er zufrieden.
"La Croisette", so der Name des kleinen Paradieses, ist für ihn das, was für Harry Potter der Bahnsteig 9 3/4 in King's Cross Station ist: das Tor zu einer anderen Welt, der Welt der biologisch-dynamischen Landwirtschaft. "Der Boden von La Croisette hat noch nie Chemie erlebt", sagt Jestin, "und das ist in der Champagne wie in jeder anderen Weinbauregion weltweit heute eine große Seltenheit." Schon in den Sechzigerjahren, als die Segnungen der chemischen Industrie in den Weinbergen rund um Épernay Einzug hielten, entschied sich die Familie Leclerc so weiterzumachen wie ihre Vorväter und setzte auf biologischen Anbau, seit 1990 sogar auf biodynamischen. Damals war das exotisch, heute gilt das kleine, feine Champagnerhaus als Vorreiter einer Bewegung, der sich immer mehr Winzer in der Region anschließen.
Die Champagne, jenes grüne, sanft gewellte Hügelland südlich von Reims, ist in den vergangenen Jahren gründlich in Bewegung geraten. Engagiert und persönlich geführte Betriebe wie Leclerc Briant setzen den Markenprodukten der großen Häuser ein neues Weinprofil entgegen: Champagner mit Persönlichkeit wie der facettenreiche La Croisette, von dem es nur 3000 Flaschen pro Jahr gibt. Immer mehr Weinbauern entschieden sich in den vergangenen Jahren, ihre wertvollen Trauben nicht mehr an die großen Häuser wie etwa Moët & Chandon (60 Millionen Flaschen im Jahr) abzugeben, sondern eigenen Wein auszubauen. "Champagne de Vigneron", Winzerchampagner, liegt im Trend. Von den 15 000 Weinbauern in der Region setzt inzwischen ein Drittel auf das Wagnis der eigenen Produktion, investiert in Kellertechnik und vertraut auf die Stärken einzelner Lagen.
Rund um das Weinbaustädtchen Épernay, wo seit Jahrhunderten jeder nur mögliche Quadratmeter für die Reben genutzt wird, tragen die Dörfer Namen, die Champagnerfreunden in den Ohren klingen, weil sie wertvolle Grand Cru-Lagen besitzen: Ambonnay und Avize, Bouzy und Cramant, Mesnil-sur-Oger und Verzy. Heute gilt: Einige der besten Tropfen finden sich nicht in schmucken Châteaux hinter schmiedeeisernen Toren, sondern oft an den unscheinbarsten Adressen. Das Schlagwort vom "Garagenwinzer" fällt einem ein, wenn man das Auto im 1000-Seelen-Weindorf Verzenay vor einem schlichten Wohnhaus parkt. Hier produziert David Pehu auf sechs Hektar, fast ausschließlich prestigeträchtige Grand-Cru-Lagen, einen Champagner, der Stefan Weiß, Chefeinkäufer im Münchner Feinkosthaus Dallmayr, bei einer Verkostung so faszinierte, dass er sich aus dem Stand die exklusive Vertretung für Deutschland sicherte. Pehu, ein bodenständiger Mann in Jeans und kariertem Hemd, ist kein Mann des Marketings, er hat nicht mal eine eigene Website. "Meine Weinberge sollen für sich sprechen", sagt er. Deshalb baut er jede Parzelle im Keller einzeln aus, um ihre Charakteristik bestmöglich zum Ausdruck zu bringen.
Für den Aufbruchsgeist in der Region stehen nicht nur hemdsärmelige Winzer, dafür steht auch ein neues Hotel, das im Sommer an einem geschichtsträchtigen Ort eröffnet hat: das "Royal Champagne Hotel & Spa". Schon Napoleon soll gerne auf dem Hügel oberhalb von Épernay übernachtet haben, wo sich damals eine Poststation befand. Mit dem jetzigen Neubau, des Ausblicks wegen wie ein Amphitheater gestaltet, zog der Geist des 21. Jahrhunderts ein, mit Spa und Gourmetrestaurant. Von der Panoramaterrasse schaut man auf das nahegelegene Dörfchen Hautvillers, einen echten Kultort der Champagne.
Dem Mönch Dom Pérignon glückte die Gärung perlenden Weins - der Legende nach
Der Legende nach entwickelte dort in der ehemaligen Benediktinerabtei der Mönch Dom Pérignon im 17. Jahrhundert die berühmten Bläschen: "Ich sehe Sterne", soll er ausgerufen haben, als ihm die Flaschengärung glückte und er das erste Glas des perlenden Weins probierte. An den Sonnenkönig Louis XIV. schrieb er: "Sire, ich schicke Euch hier einige Flaschen des besten Weins der Welt" - es war der Beginn des Mythos Champagner. Auch wenn man heute weiß, dass neben dem Mönch noch ein paar andere ihre Finger im Spiel hatten - ein Abstecher zur Abteikirche von Hautvillers, wo Dom Pérignons Grabstein steht, gehört zu einem Besuch.
Im "Le Royal", dem Restaurant des neuen Hotels, hat der berühmte Dom Pérignon natürlich seinen Platz auf der Weinkarte. Aber auch die junge Garde der Region ist bestens vertreten, rund 250 verschiedene Champagner stehen zur Wahl. "Gerade die charaktervollen Winzerchampagner eignen sich gut als Essensbegleiter", sagt Chefsommelier Daniel Pires. "Ein Winzer mit wenigen Hektar kann freier, flexibler und kreativer an die Sache herangehen als die großen Häuser, er kann die Stärken einzelner Lagen individuell herausarbeiten."
Im Gegensatz zu den großen Häusern verfügen die neuen Stars der Region nicht über millionenschwere Werbebudgets, dafür setzen sie dem Einheitsgeschmack Individualität entgegen. Anselme Selosse vom Weingut Jacques Selosse in Avize etwa, einer der Väter der Winzerchampagner-Bewegung, ist der Überzeugung: "Ein Champagner muss nach Wein schmecken." Deshalb baut er seine charakterstarken Schaumweine von jeher wie Burgunder aus - in großen Holzfässern von 228 bis 400 Litern Inhalt; die Produktion von 57 000 Flaschen ist jedes Jahr schnell ausverkauft. Winzer wie Selosse verzichten der Qualität zuliebe auf größere Erträge, setzen auf aufwendige Handarbeit im Weinberg und wirtschaften nachhaltig - deshalb sind die Winzerchampagner auch nicht unbedingt günstiger als die großen Marken. Das aufwendige Produktionsverfahren der traditionellen Flaschengärung und die teilweise jahrelange Lagerung auf der Hefe, damit der Wein seinen prickelnden Geschmack vollständig entfalten kann, hat eben seinen Preis.
Zu den bekannteren Namen zählt auch Erick De Sousa, dessen Weingut ebenfalls in Avize liegt, im Herzen der Côte des Blancs, wo vor allem Chardonnayreben gedeihen. Auch Pierre Larmandier vom Weingut Larmandier-Bernier in Vertus kann auf Rebstöcke zurückgreifen, die 48 bis 75 Jahre alt sind, sein Vieille Vigne de Cramant ist ein komplexer Wein mit Aromen von Vanille und Zitrone.
Die Winzer der neuen Generation können sich Eigenwilligkeit leisten, weil sie ohnehin für eine Nische produzieren, sie müssen nicht jedem gefallen. Sie haben die Freiheit zu experimentieren und bieten deshalb auch Spezialitäten an wie die Cuvée La Vigne d'Antan aus 100 Prozent Chardonnay von Jean-Mary und Benoît Tarlant im Dorf Oeuilly: Die Cuvée schmeckt wohl heute noch wie vor der Reblauskrise des 19. Jahrhunderts, die sämtliche Weinberge Frankreichs zerstörte. Wie durch ein Wunder wurde damals die Parzelle "Les Sables" der Familie Tarlant zwischen Epernay und Chatillon von den Schädlingen verschont.
Eric Coulon ist Winzer in achter Generation, er bewirtschaftet elf Hektar Weinberge und setzte schon vor Jahren durch, dass weder in Vrigny, noch in einer der Nachbargemeinden Insektizide versprüht werden. "Wir haben unser Land nur von unseren Kindern gepachtet, ich möchte es ihnen in bestmöglichem Zustand weitergeben", begründet er sein Bekenntnis zu nachhaltigem Anbau. Er fühlt sich dem Terroir verpflichtet, will Weine mit Charakter verkaufen, die von den Böden geprägt sind, auf denen sie wachsen. "Unsere Weine sind keine hochtechnologischen Produkte", sagt er. "Sie stecken voller Emotion und sie sollen den Menschen Glück bringen."