Frankreich:Paris schafft Platz für Flaneure

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Die großen Plätze in Paris sollen lebenswerter werden. Dafür greifen die Bürger auch selbst zur Spitzhacke.

Von Georg Renöckl

Das Fernrohr steht am Rand der Place de la Bastille, genau dort, wo der Boulevard Richard Lenoir in den vielspurigen Kreisverkehr mündet. Man kennt die Geräte von Aussichtspunkten, dieses hier aber sieht eher aus wie eine künstlerische Intervention im öffentlichen Raum, die Passanten zum Nachdenken über den alltäglichen Verkehrswahnsinn anregen soll. Man wirft auch keine Münze ein, sondern bezahlt per Karte. Und wer in das Okular blickt, sieht den Kreisverkehr nicht etwa vergrößert, sondern gar nicht mehr. Er sieht stattdessen: die Place de la Bastille im Jahr 1416 oder 1789.

Timescope heißt das, was Basile Segalen "die erste funktionierende Zeitmaschine" nennt. Der 30-jährige Unternehmer ist einer der beiden Erfinder des Geräts, das mittlerweile an fünf Standorten in Frankreich aufgestellt wurde: in Paris an der Bastille, an der Seine und am Flughafen im Transitbereich. Zwei weitere stehen in Le Havre. Die Idee, das Stadterlebnis mittels moderner Technologie zu "revolutionieren", kam ihm und einem Schulfreund bei einer Reise nach Pompeji. "Wir fanden, dass die zweidimensionalen Darstellungen der Stadt vor dem Vulkanausbruch nicht mehr in unser Jahrhundert passten." Nun also: Die Welt in 3-D.

In Paris und Umgebung sind zahlreiche weitere Standorte geplant, auch mit anderen europäischen Städten gibt es Gespräche - darunter Pompeji. Die Pariser Stadtverwaltung will mit der Zeitmaschine allerdings nicht nur in die Vergangenheit reisen. Zehn Geräte werden demnächst dort aufgestellt, wo Bahnhöfe der neuen Metro-Linien geplant sind, die das langsam Gestalt annehmende "Grand Paris" erschließen werden. So sollen sich die Menschen bereits jetzt mit der nahen Zukunft der Metropole vertraut machen können, die 2024 die Olympischen Spiele austragen wird.

Paris wandelt sich gerade rapide. Die Stadt wächst nicht nur mit den sie umgebenden Gemeinden zusammen, auch "intra muros", wie Pariser ihr eigentliches Stadtgebiet nennen, verändert sich der öffentliche Raum. Es soll deutlich mehr Platz für Fußgänger und Radfahrer geschaffen werden. Die Champs-Élysées bekommen Fahrradwege. Mit der Umwidmung der Schnellstraße am rechten Seine-Ufer in eine Fußgängerzone setzte Bürgermeisterin Anne Hidalgo im April einen spektakulären, auch von wütenden Autofahrer-Protesten begleiteten Schritt, dem bereits weitere folgen: Sieben große Pariser Plätze, die derzeit von Verkehr umrauscht sind, werden komplett neu gestaltet. Die Place de la République machte im Jahr 2014 noch unter Hidalgos Vorgänger Bertrand Delanoë den Anfang. 24 Millionen Euro kostete die Umwandlung des vormaligen Verkehrsinfernos in ein städtisches Wohnzimmer. Sommers planschen nun Kleinkinder auf einer begehbaren Wasserfläche, die Eltern behalten sie von der Terrasse eines Cafés aus im Blick. Skater trainieren hier und man kann kostenlose Brettspiele ausleihen.

Als Nächstes ist die südlich des Friedhofs Père Lachaise gelegene Place de la Nation an der Reihe, über die einst Sonnenkönig Ludwig XIV. mit seiner frisch angetrauten Gemahlin Marie-Thérèse d'Autriche in die Stadt einzog. Ein gutes Jahrhundert später stand hier eine Guillotine. Seit Jahrzehnten kennt man den symbolträchtigen, von zwei erhöhten Königsstatuen und einem Denkmal der Republik geschmückten Platz vor allem als stressigen Kreisverkehr, den man möglichst schnell hinter sich bringen will. Nun gibt es hier rund um einen kleinen Park in der Mitte des Kreisverkehrs mehr Platz für die Anwohner. Mit Hilfe von Pollern hat man die vier inneren von acht Fahrspuren dem Verkehr abgetrotzt. Der Prozess, den Anwohner gemeinsam mit Landschaftsplanern gestaltet haben, erinnerte mitunter an revolutionäre Zeiten: Ähnlich wie anno 1789 zogen im Frühjahr 2017 Hunderte Pariserinnen und Pariser mit Spitzhacken bewaffnet auf den Platz. Sie errichteten aber keine Barrikaden, sondern entfernten Asphalt, verlegten Rollrasen, bepflanzten Blumenbeete.

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