Frankfurt am Main:Die Kulisse wartet auf den Alltag

Blick auf die rekonstruierte Altstadt von Frankfurt am Main

Sieht alt aus, ist es aber nicht: Die Häuserzeilen in der Frankfurter Altstadt wurden rekonstruiert.

(Foto: picture alliance / Arne Dedert)

Vor einem halben Jahr hat Frankfurt seine neue Altstadt eingeweiht. Ihr Bau war teuer, umstritten - und mutig. Ein Streifzug durch ein Viertel auf der Suche nach sich selbst.

Von Jan Willmroth

Zwischen Gestern und Heute ist an diesem Ort kein Platz. Hinter der Theke der Tagesbar "Anno 1881" steht Hendrik Korkuter, wie jeden Tag, legt ein Frankfurter Würstchen auf einen Emailleteller und schneidet es in kleine Scheiben. Ein Freitagmittag Anfang März, heute gibt es Wirsing-Eintopf, Linsensuppe, Tomatensuppe, die Variationen von den Frankfurter Würstchen hat er immer, als Empfehlung zum Apfelwein. Man weiß es nicht sicher, aber sehr wahrscheinlich wurden die Frankfurter genau hier erfunden. Gegenüber, sagt Korkuter, und zeigt durch die schmale Glasfront hinaus auf die Straße, haben die Fleischer bis weit hinein ins 20. Jahrhundert geschlachtet und gewurstet und verkauft, alles auf diesem engen Raum, das Blut der Schweine, Schafe und Rinder floss durch die Gassen.

Von Südwesten her bricht Sonnenlicht durch das Hellgrau, kühler Wind fegt über die blank geputzten Pflastersteine, auf der anderen Straßenseite sind die Bauarbeiter noch immer nicht fertig in der Metzgerei, die ihre Eröffnung seit Monaten immer wieder verschiebt. Im Frühling vor einem Jahr verschwanden die Bauzäune um Frankfurts neue Altstadt, Ende September war große Party, und wenn nun am Wochenende die Sonne scheint, quetschen sich Hunderte durch das Areal, die Köpfe im Nacken, die Blicke ratlos bis entzückt. 35 Häuser sind zwischen Dom und Römerberg entstanden, 20 Neubauten und 15 Rekonstruktionen, auf der Fläche von nur etwa einem Fußballfeld. Der Grundriss von früher ist weitgehend wiederhergestellt, Autos bleiben draußen. Wer dieser Tage durch die Altstadt flaniert, findet ein Viertel, das erst langsam zu sich kommt; ein Stück Stadt auf der Suche nach sich selbst.

Cafébesitzer Korkuter nimmt Platz auf einem der weißen Kunststoffstühle. Er war im Spätsommer einer der ersten, die hier eröffnet haben, innerhalb von sechs Wochen hatte er den Laden renoviert, er kennt sein Metier seit Jahrzehnten. Als die Stadt ihm die Fläche anbot, überlegte er nicht lange. Der Urahn von Korkuters Freund Peter Possmann, dem heutigen Inhaber und Chef der berühmtesten Frankfurter Apfelweinkelterei, besaß hier einst ein Wirtshaus und verkaufte seinen ersten Apfelwein. Daher der Name der Bar, daher die Possmann-Flaschen im Kühlschrank. Aus den Boxen läuft Loungemusik, die Empore über dem kompakten Erdgeschoss ist von Leuchttafeln eingerahmt, die in Neonfarben die Gäste anstrahlen.

Was macht den Reiz dieser Gegend aus, nach den ersten Monaten? Korkuter denkt nach. "Der Kontrast", sagt er. "Frankfurt lebt schon immer von seinen Kontrasten." Dort die Hektik des Frankfurter Berufsalltags, hier in der Altstadt die Entschleunigung. Dort die gläsernen Wolkenkratzer, hier der Römerberg, das Fachwerk, und jetzt eben die Altstadt, die einige wenige von Korkuters Gästen scheußlich finden und viele gelungen. Als er drüben in Sachsenhausen aufwuchs, direkt am Main, hatte er täglich das alte Technische Rathaus im Blick, das hier vorher stand, ein asbestverseuchtes Ungetüm der frühen Sechzigerjahre, eine städtebauliche Zumutung. "Das war Niemandsland", sagt er. "Ich fand das Gebäude schon als Kind furchtbar." Und die brutale Feuilleton-Kritik am neuen Altstadtareal? Korkuter schüttelt den Kopf. "Geschmackssache", sagt er.

Architekten geißelten den Plan

Lange bevor überhaupt der erste Grundstein lag, war die Altstadt schon verurteilt. Hans Joachim Schulze, Stadtführer im Nebenberuf, erinnert sich noch an den siebenseitigen offenen Brief an Oberbürgermeisterin und Stadtparlament aus dem Jahr 2008. Frankfurter Architekten und Künstler, von denen einer später sogar leitender Architekt des ganzen Areals wurde, geißelten die Anmutung des geplanten Stadtkerns als "spätmittelalterlich". Der Plan zeuge von der Unfähigkeit, die heutige Architektur als kulturelle Leistung anzuerkennen. Zehn Jahre lang deklinierten Kritiker durch, was ihnen an der Idee missfiel, im Kern der Vorwurf, mit der Altstadt das Deutschland der Kaiserzeit als Kulisse auferstehen zu lassen, Wunden heilen zu wollen, die der Zweite Weltkrieg in der deutschen Seele hinterlassen habe. Die Altstadt, eine Ausgeburt deutschnationaler Heimatsehnsucht?

Schulze, in Funktionsjacke und Fahrradbrille, steuert auf den Friedrich-Stoltze-Brunnen zu, Blickfang und Treffpunkt auf dem Hühnermarkt, dem zentralen Platz der Altstadt. 17 Erwachsene und zwei Kinder sind heute gekommen, die meisten aus Frankfurt und Umgebung, so wie fast immer. Schulze unterrichtet Deutsch als Fremdsprache, seit vielen Jahren führt er nebenbei Menschen durch die Stadt. Momentan ist er damit ausgelastet, die Neugier der Frankfurter auf ihr neues Stück Innenstadt zu befriedigen. 800 bis 1000 Menschen habe er die neuen Häuser schon gezeigt, schätzt er, und mit jedem Termin ist er mehr davon überzeugt, dass die Bürger stolz seien auf das, was hier entsteht.

An diesem Tag sind wieder einige dabei, die nicken, als Schulze zur Einstimmung Bilder des Technischen Rathauses herumreicht. Wo 1944 die Altstadt in Schutt gelegen hatte, war nach dem Krieg ein Parkplatz, entstand später die Betonburg, die als Mahnmal im visuellen Gedächtnis der Frankfurter geblieben ist. Schulze zeigt auf das rote Haus ohne Erdgeschoss, das fast 600 Jahre lang auf Eichenpfählen stand und jetzt als Nachbau wieder errichtet wurde. Als dieser Straßenzug noch "Worschtquartier" hieß und sich die Metzger darin drängten, hingen hier Schweinehälften von der Decke, das "Neue Rote Haus" wurde regelmäßig mit Ochsenblut getüncht, es stank gewaltig. "Zum Wohnen war die Altstadt ein schrecklicher Ort", sagt Schulze, und man denkt an die gerade eingezogenen Anwohner, die sich jüngst bei der Stadt beschwerten, es sei wegen der Touristengruppen zu laut.

Eineinhalb Stunden dauert die Altstadtrunde mit Schulze, über das rollatorfreundlich flache Pflaster aus vietnamesischem Basalt, vorbei am ersten Leerstand, ein Dessousgeschäft, das vor wenigen Tagen zusperren musste mangels Umsatz. Das Café im bunten Haus mit der Waage ist noch nicht fertig, die Metzgerei eine Dauerbaustelle, ein Ladenlokal dient noch als Lagerplatz für Dämmstoffe, das Struwwelpeter-Museum hat noch geschlossen, viele Wohnungen stehen leer. Ein Kiosk fehlt, irgendwann soll ein Bäcker einziehen. "Die Leute sehen aber schon das Potenzial", sagt Schulze, nachdem er seine Gäste verabschiedet hat. Die Kulisse steht, sie wartet auf ihren Alltag.

Und Hendrik Korkuter wartet an vielen Tagen auf Gäste. Der Januar sei übel gewesen, sagt er, verregnet, an manchen Tagen habe er schon um 18 Uhr den Laden zugesperrt. Im Februar, als die Temperaturen an sonnigen Wochenenden schon zweistellig waren, hat er an manchen Samstagen mehr als 100 Portionen Eintopf verkauft. "Die Flut an Menschen hörte gar nicht mehr auf", sagt er, und ein bisschen klingt es, als gebe er damit einen Vorgeschmack auf den Sommer. Dann werden sich an den Wochenenden Tausende Touristen und Frankfurter in der neuen Altstadt drängen, während der nun bevorstehenden Phase, in der die Neugier allmählich der Gewohnheit weicht. "Das Neue stürzt und altes Leben blüht aus den Ruinen", steht zur Braubachstraße hin an einem der Häuser, ein verdrehtes Zitat aus Schillers "Wilhelm Tell". Wo Leben blühen soll, sind noch Knospen. Aber die Würste schmecken schon, ein wenig so wie früher, als Frankfurts Metzger hier deren Weltruhm begründeten.

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