Süddeutsche Zeitung

Fotografie:Sichtbare Zeit

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Mit der Berlin Art Week beginnt auch das "European Month of Photography". In den Retrospektiven wird deutlich, wie sich die Grenzen zwischen Gestern und Heute auflösen.

Von Fritz Göttler

James Stewart war in der Stadt, Berlin 1962 - im Wettbewerb der Berlinale (die damals noch im Sommer stattfand) lief sein Film "Mr. Hobbs macht Ferien". Der Star hat die Schultern zurückgezogen, in der vertrauten Jimmy-Stewart-Manier, und lächelt scheu in die Kamera, er wirkt ein bisschen unschlüssig und unsicher, fehl am Platze. Es ist der Ernst-Reuter-Platz, neben den Fontänen der Springbrunnen, vor dem Telefunken-Haus. Berlin ist grau, es ist die erste Berlinale nach dem Mauerbau.

Aber da liegt auch eine merkwürdige Spannung in dem Bild, Jimmy Stewart hat seine Hände in den Anzugtaschen vergraben, als wollte er signalisieren, dass seine Unschlüssigkeit auch ein bisschen Pose ist. Genau um diese Ambivalenz dreht sich die Ausstellung in der Deutschen Kinemathek. Sie heißt "Zwischen den Filmen" und zeigt die Arbeit der Pressefotografen der Berlinale - Gerhard Kassner, Heinz Köster (von ihm ist das Stewart-Bild), Mario Mach, Fumiko Matsuyama oder Erika Rabau, vor allem Fotos, die sie jenseits der roten Teppiche, außerhalb des Scheinwerferlichts geschossen haben. Diese Fotografen sind Teile der großen Berlinale-Familie, zu der man auch als Zuschauer gehört, man läuft ihnen über den Weg, sie sind unermüdlich im Einsatz, um die Zurschaustellung der Stars zu dokumentieren, aber auch um jene überraschenden Momente zu schnappen, wo diese sich unbeobachtet fühlen.

Die Schau in der Kinemathek gehört zum diesjährigen "European Month of Photography" (EMOP) in Berlin, wo zwischen 28. September und 31. Oktober 120 Retrospektiven gezeigt werden, 300 Veranstaltungen ablaufen, mit mehr als 500 Künstlern. Die Veranstaltung findet alle zwei Jahre statt, dies ist die achte seit 2004. Sie ist von einer überwältigenden Fülle, zeigt den Reichtum von Jahrzehnten internationaler Fotografiegeschichte in einer Dichte, die atemraubend ist. Ein wesentlicher Akzent liegt auf der Entwicklung in der Stadt Berlin, wahrgenommen von Berliner Künstlern und Fotostudenten. Die großen Etappen in der Geschichte der Stadt, Nachkriegszeit, Blockade, Mauerbau, dann die Wende, das neue Hauptstadtgefühl. Die Ansichten zwischen Ost und West will der Fotomarathon zum Beispiel vermitteln, unter dem Titel "Gestern war heute", vielen Fotos ist hier ihre eigene Entstehung eingeschrieben. Alle Perspektiven sind möglich, eine von draußen - die Argentinierin Lena Szankay - und eine von innen - Rolf Zöllner, in Ostberlin aufgewachsen -, beide dokumentieren in der gemeinsamen Schau "Auf der Suche nach der vorhandenen Zeit" das Berlin in den Jahren 1989 und 1990.

Immer wieder geht es um Städte in diesem Programm, Urbanität ist im Mittelpunkt der Fotografie, von Neapel bis New York. Jeanne Fredac, eine Französin, die seit Langem in Berlin lebt und arbeitet, hat seit 1999 Fotos von Neapel gemacht, viel von seiner brutalistischen Klotzerei in Bilder gefasst - das Wohnungsbauprojekt Vele di Scampia kennt man aus dem Film Gomorrha -, aber auch seine alten Märkte, seine Kirchen, seine Seele. Ihre Ausstellung heißt "Quando la felicità non la vedi, cerca la dentro". Serien scheinen überhaupt die Seele der Fotografie - und der EMOP insgesamt - zu sein, viele der Ausstellungen sind Langzeitbeobachtungen. Immer wieder kehren die Fotografen an die alten Plätze zurück, zu den Häusern und Bauwerken, registrieren die Veränderungen, die Risse und den Verfall, die Müdigkeit des Materials und der Menschen, die in diesen Gebäuden wohnen. "Mansilla" heißt eine Schau von Verónica Losantos, nach dem Dorf im Norden Spaniens, das 1960, in den Jahren des Franco-Regimes, für ein Staudamm-Projekt geräumt und geflutet wurde. Man sieht das Leben der umgesiedelten Menschen, die Häuser stehen nun direkt am Stausee, und wenn das Wasser einen niedrigen Stand hat, kann man die Umrisse des alten Dorfes unter der Oberfläche erkennen. Das ist eine gespenstische Vision, eine historische Überblendung. Die Zeitschichten überlagern sich, zwischen dem Gestern und dem Heute, es ist, als wäre die Zeit selbst sichtbar gemacht.

Wann ein Moment zur Ewigkeit wird - das weiß niemand so genau

Diese Sichtbarmachung der Zeit, diese Markierung der Vergänglichkeit erforscht Christa Mayer, die unter dem Titel "Das Fremde im Eigenen und das Eigene im Fremden" ihre Arbeiten zwischen 1990 und 2010 zeigt. Sie ist Psychologin, und die Landschaften und Bauten ihrer Bilder lassen das Innen und das Außen, das Dahinter und das Davor ineinander übergehen, werden zu Bühnen einer unbewussten Darstellung.

Der große Henri Cartier-Bresson hat das Geheimnis, die Magie der Fotografie in dem Begriff des "dezisiven", des entscheidenden und entschiedenen Moments zusammengefasst - es gelte in genau dem richtigen Augenblick auf den Auslöser der Kamera zu drücken. Solche Spontaneität ist natürlich das Gegenstück zu den aufwendigen, bis in die letzten Winkel ausgeleuchteten, exakt inszenierten Aufnahmen, wie sie die Kunst- oder Modefotografen schaffen müssen. Aber irgendwie kann Cartier-Bressons Moment, wen man ihn ein wenig weiterdenkt, das Geheimnis der Fotografie nicht restlos entwirren, kann die Trennung zwischen den verschiedenen Sparten der Fotografie nie eindeutig sein. Irgendwie scheint in den leichtesten Momentaufnahmen ein Element der Inszenierung zu stecken. Andererseits: Kann man den berühmten Sprung des Mannes über die Regenpfütze inszenieren?

Die Fotogeschichte kreist immer aufs Neue um diese ewige ungelöste Frage, sie treibt auch die Fotos aus der berühmten Sammlung Olbricht voran, die in der Ausstellung "The Moment is Eternity" gezeigt werden - der Titel reflektiert wunderschön, was die Fotografie mit der Zeit macht. Sie erstreckt sich von den dezisiven Momenten von Cartier-Bresson oder Robert Doisneau bis zu den Models von Helmut Newton und den Selbstinszenierungen von Cindy Sherman. Wenn Sherman vor dem Spiegel posiert, ist wohl der kleinste Fingerzeig in dieser Pose bedacht, aber ein Eindruck von Spontaneität und Offenheit ist nicht zu übersehen. Cindy Sherman nimmt die Wahrheit auf, ihre eigene Wahrheit.

Die Faszination vieler dieser Retrospektiven liegt darin, dass sie sich auf die klassische, das heißt analoge Fotografie konzentrieren, und am schönsten sind hier, immer wieder, die Schwarz-Weiß-Aufnahmen mit ihrer dichten Materialität. Das Gegenstück liefert die Ausstellung zum Fünfzigsten von Hipgnosis, der Firma, die seit den Siebzigern die Plattencover für viele der größten Bands gestaltete, von Pink Floyd bis Genesis. Ihr digitaler Surrealismus treibt die sterile Künstlichkeit auf die Spitze.

In den analogen Arbeiten ist dagegen immer die Arbeit des Lichts zu spüren - Roland Barthes hat darauf insistiert in seinem berühmten Buch "Die helle Kammer", wo er die geheimnisvolle Beziehung zwischen dem abgebildeten Objekt und dem Blick des Fotografen und dann dem des Betrachters umschreibt, mit einem Rest Ratlosigkeit, den er einfach nicht auflösen kann. "Von einem realen Objekt, das einmal da war, sind Strahlen ausgegangen, die mich erreichen, der ich hier bin ... Eine Art Nabelschnur verbindet den Körper des photographierten Gegenstands mit meinem Blick: das Licht ist hier, obschon ungreifbar, doch ein körperliches Medium."

Die Körperlichkeit des Lichts macht der New Yorker Fotograf Richard Renaldi sichtbar. In seiner Serie "Manhattan Sunday" hat er eine Samstagnacht und einen Sonntagmorgen in einzelne Fotos zerlegt, sie haben keine Titel mehr, nur noch die Uhrzeit der Aufnahme. Das Bild von 6.50 Uhr zeigt einen Mann allein auf einer Straße, mit scharfgeschnittenen Gesichtszügen und nacktem Oberkörper, er steht mit leicht gespreizten Beinen da, in Stiefeletten mit hohen Absätzen. New York scheint immer noch die Hauptstadt der Fotografie zu sein und die Dämmerung ihr das natürliche Licht zu liefern. Man meint eine Gestalt aus der Vergangenheit zu sehen, einen antiken Faun.

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Quelle:
SZ vom 15.09.2018
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