Süddeutsche Zeitung

Fotografie:Auf Geistergleisen

Der Lokführer Christian Jobst fotografiert stillgelegte Bahnstrecken in Frankreich, um sie in Erinnerung zu halten. Sein größter Gegner dabei ist die Natur.

Von Katja Schnitzler

Das Leben von Christian Jobst verläuft auf Gleisen, ohne geradlinig zu sein. Oder langweilig. Wenn er als Lokführer einen Zug von Bahnhof zu Bahnhof steuert, hört er das rhythmische Rattern der Räder. Wenn er aber zu Fuß unterwegs ist auf französischen Bahndämmen, auf denen schon lange kein Zug mehr fährt, hört er nur das Knirschen seiner Schuhe auf dem Schotter, ebenfalls gleichmäßig, aber noch meditativer. Wobei er immer wieder innehält.

Denn der 36-Jährige geht nicht nur stillgelegte Zugstrecken in der französischen Provinz ab, er fotografiert sie auch, Stück für Stück und detailversessen. Manchmal macht er 2000 Fotos am Tag: Eidechsen auf rostigen Schienen, Signallampen, die keine Zeichen mehr geben, verfallende Bahnhäuschen und Pflänzchen, die zwischen den Schwellen zu Sträuchern und Bäumen heranwachsen. "Es ist eine skurrile Freizeitbeschäftigung auf den wohl einsamsten Wanderwegen der Welt", sagt der Deutsche, dessen braun gebrannte Haut zeigt, dass er möglichst viel Zeit außerhalb des Führerstands verbringt. Diese Zeit braucht er auch, denn in Frankreich werden mehr Bahngleise stillgelegt, als Jobst abwandern und dokumentieren kann.

Früher hätten Frankreichs Verkehrspolitiker das Ziel verfolgt, dass selbst in dünn besiedelten Regionen jede Ortschaft per Bahn zu erreichen war, erklärt er. Doch die Instandhaltung kommt zu teuer, über sanierungsbedürftige Brücken kriechen die Züge mit gedrosselter Geschwindigkeit. Das langsame Fahren macht den Zug im Vergleich zum Auto unattraktiv, Passagiere bleiben weg, eine Sanierung lohnt noch weniger - "ein Teufelskreis", bedauert Jobst. So werden Strecken stillgelegt, Gleise unterbrochen und Schwellenkreuze signalisieren: Hier fährt nichts mehr.

Niemals würde der Deutsche auf noch aktiven Routen fotografieren, "das ist wirklich lebensgefährlich". Aber auf den verlassenen Gleisen zwischen kleinen Dörfern hat er sein Herzensthema gefunden. Seit 2010 reist er regelmäßig an, um möglichst viele Routen abzugehen, im steten Wettlauf mit der Natur. "Nach drei oder vier Jahren ist Schluss", sagt er. Dann blockieren nicht nur umgestürzte Bäume die Gleise, auch Büsche, Dornen und Brennnesseln machen eine Wanderung unmöglich. Manchmal stößt Christian Jobst aber auf ganz andere Hindernisse, etwa wenn Tunnel blockiert sind - oder er darin plötzlich vor einer Champignonzucht steht.

Dann sucht er sich mühsam einen Weg außen herum und setzt seine Reise genau auf der anderen Tunnelseite fort. So lässig er mit seinen Lachfalten und Dreadlocks wirkt, so akribisch ist er bei seinem Projekt: Er will die ganze Trasse für eine Nachwelt dokumentieren, die sich "vielleicht einmal fragt, wie es hier ausgesehen haben mag, als es noch eine Bahnstrecke gab". Umso mehr ärgert er sich, wenn er bei der Nachbearbeitung der Fotos an Winterabenden merkt, dass er wegen der dichten Vegetation eine Abzweigung übersehen hat.

Eigentlich ist ein Thriller aus dem Jahr 1976 schuld daran, dass Christian Jobst Monate allein auf verlassenen Bahnstrecken verbringt, "wobei mir die Einsamkeit gefällt, das entspricht meinem Naturell". In dem Film "Treffpunkt Todesbrücke" stürzt ein Zug mitsamt der "Kassandrabrücke" in die Tiefe - in Wirklichkeit das noch immer intakte Garabit-Viadukt von Gustave Eiffel. Vor einer Reise nach Frankreich stöberte Jobst im Internet, stieß auf den Film, die Brücke und ein paar Links weiter auf das höchste Eisenbahnviadukt des Landes, das Viaduc des Fades in der Auvergne - inzwischen Teil einer stillgelegten Linie. Jobst schmiss seine Pläne um und wanderte knapp 60 Kilometer zum Viaduc des Fades, vorbei an verwaisten Bahnhöfen. Mit einer viel zu schwachen Taschenlampe tastete er sich durch einen 400 Meter langen Tunnel. Als er danach wieder ins Licht trat, öffnete sich vor ihm ein Tal, darüber das mächtige Viadukt mit den höchsten Brückenpfeilern der Welt. Eine Sehenswürdigkeit, die Jobst ganz für sich allein hatte, "ein königliches Gefühl". Zugleich machte es ihn wehmütig, dass diese schönen Strecken verschwinden sollten.

Also kehrte er im nächsten Jahr nach Südfrankreich zurück und ging sieben stillgelegte Bahnlinien ab - keine Strecken, die nun als Radwege beliebt sind, sondern Trassen, die sich selbst überlassen wurden. Die Fotos teilt er auf seinem Blog railwalker.de und mit französischen Eisenbahnliebhabern, manchmal gibt es Ausstellungen in kleinen Bahnhöfen.

Er selbst erregt wenig Aufsehen. "Bemerken die Leute meine Kamera, sind sie beruhigt, dass ich kein Metalldieb bin." Jobst schlägt sein Zelt direkt an den Gleisen auf, um am Morgen gleich weiterziehen zu können mit seinem leichten Gepäck. Wie man in einen Zehn-Kilo-Rucksack alles für wochenlange Touren packt, lernte er auf dem Appalachian Trail, dem 3500 Kilometer langen US-Fernwanderweg. Sein Trekkingstock erleichtert das Gehen, hält aufdringliche Hunde auf Abstand und wird abends zur Zeltstange.

Monatelang ist es sein Ziel, die Strecken nicht nur detail-, sondern auch abwechslungsreich zu fotografieren, er setzt Vogeljunge auf den Gleisen in Szene und eingeprägte Jahreszahlen im Stahl, "aber dann wird es langsam monoton". Doch beim Sichten in der kalten Jahreszeit bekommt er wieder Lust auf die nächste Tour. Und schließlich hat er Zeit nachzuholen.

2013 ließ er München hinter sich, um bis 2017 gigantische Güterzüge durch die Wüste Abu Dhabis zu lenken. In der Ferne musste Jobst ertragen, wie viele Bahnstrecken in dieser Zeit in Frankreich geschlossen wurden und sich die Natur an die Rückeroberung machte, ohne dass er nur einen Meter dokumentieren konnte. Inzwischen arbeitet er in Blockteilzeit auf Wangerooge, im Winterhalbjahr fährt er dort die Inselbahn. Die Strecke auf dem Eiland in der Nordsee ist mit knapp sechs Kilometern nur etwas mehr als dreimal so lang wie die Züge, die Jobst in Abu Dhabi bewegte.

So bleibt Christian Jobst Zeit für das Erkunden der "Lost Spaces" von Frankreich. Ein Wanderweg de luxe, findet er: "Nicht nur ein Fußpfad, sondern eine Route mit Überblick auf einem Damm, durch Felseinschnitte, über weite Täler." Er fühlt sich unterwegs noch immer wie ein König, leider ohne dessen Salär. Das würde er in seinen Traum investieren: Die aufgegebenen Schienenwege als riesiges Rad- und Wanderwegenetz wiederzubeleben. Auch auf die Gefahr hin, dass es dann vorbei wäre mit der Einsamkeit.

Mehr Motive von Christian Jobst auf der Website www.railwalker.de sowie online auf www.sz.de/thema/Reisefotografen: Dort stellt SZ.de reisende Fotografen vor, die sich ihre eigenen Bilder von der Welt machen.

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Quelle:
SZ vom 07.09.2019
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