Die Beschreibung "Schwarz-Weiß-Fotografie" wird Robert Herrmanns Projekt 60'' slices of present nicht gerecht. Es sind luftige, sehr helle und manchmal fast durchsichtige Bilder, die er in bislang etwa einem Dutzend Metropolen aufgenommen hat. Oft enthalten sie Motive, die fast schon zu oft fotografiert wurden. Plötzlich aber wirken diese Orte wieder ganz frisch. Millennium Bridge, London, 2013
Herrmann fotografiert so unterschiedliche Städte wie Hanoi, London und Wien, doch am meisten beeindruckt hat ihn bislang Istanbul. Diese Stadt öffne sich schnell und gebe viel von sich preis. "Die Atmosphäre ist wunderbar: zum einen ruhig und poetisch, andererseits laut und chaotisch." Eminönü, İstanbul, 2014
Ganz bewusst konzentriert sich Herrmann mit seinem Projekt auf das Urbane. In Städten, so ist er überzeugt, zeigt sich am besten, wie Menschen die Umwelt beeinflussen. Architektur versteht er dabei "weniger als Gebäude, denn als Raum und insbesondere als den Raum zwischen den Dingen". Herrmann findet: "Zwischenräume und Leerräume bilden die Landschaft, die unsere Städte definiert." Hải Thượng Lãn Ông, Saigon, 2014
Um ein Gefühl für diese Stadtlandschaften zu bekommen, erkundet der Fotograf sie am liebsten zu Fuß. Erst nach zwei oder drei Tagen beginnt er normalerweise, Aufnahmen zu machen. Von bereits existierenden Bildern versucht er sich möglichst wenig beeinflussen zu lassen. Mit Erfolg, wie seine Aufnahmen gerade von Touristenmagneten zeigen. Piccadilly Circus, London, 2013
Viele Reisefotografen stellen am liebsten einprägsame Gesichter in den Mittelpunkt ihrer Arbeit. Ganz anders Herrmann, der in Berlin ein Büro für Architekturfotografie und -visualisierung betreibt. In seinen Bildern geht es ihm "nicht so sehr um die Menschen als Individuen, sondern eher um die Menschen als 'Spezies'", sagt er. Durch Langzeitbelichtung verwischt er ihre Bewegungen, die so einen Kontrast zu seinen starren gegenständlichen Motiven bilden. Tống Duy Tân, Saigon, 2014
Seit etwa fünf Jahren läuft Herrmanns Projekt 60" slices of present - mit offenem Ende. Am Anfang stand die Frage, "wie sich die Zeit in Bildern festhalten lässt", erklärt Herrmann. Daneben geht es ihm aber besonders um den "menschlichen Maßstab". Dieser Begriff aus der Stadtentwicklung bezieht sich auf das Größenverhältnis zwischen Mensch und Umgebung. Ist eine Stadt fußgängerfreundlich, wie groß und eng sind ihre Gebäude gebaut, gibt es Plätze, auf denen sich die Menschen versammeln können? Lustgarten & Humboldtforum, Berlin, 2014
Peking hat Herrmann nicht nur in dieser Hinsicht als besonders schwierig erlebt. Die Metropole sei für Autos angelegt, so Herrmann, ansonsten fühle man sich "hoffnungslos verloren". Die Weitläufigkeit Pekings wirke "beinahe so, als würde die Stadt einem das Flanieren verbieten wollen". 天安门 (Tian'anmen), Peking, 2014
Vorhersehbar sei das Fotografieren auf Reisen nie, jede Stadt sei in ihrer Realität immer ein wenig anders als in der Vorstellung, findet Herrmann. Vor Besuchen an neuen Orten bereitet er sich ausführlich mit Hilfe von Google Maps und Bildplattformen vor. Dabei sei die Herausforderung, gleichzeitig "einen möglichst 'sauberen' Blick zu bewahren". Via della Conciliazione, Rome, 2013
So unterschiedlich die Städte sind, die Herrmann fotografiert, so sehr verbindet er sie durch sein visuelles Konzept. Immer exakt eine Minute lang wird auf sehr niedrigempfindlichem (25 ASA) Schwarzweißfilm im 6x6-Mittelformat belichtet, mit der kleinsten Blendenöffnung für maximale Tiefenschärfe. So entsteht Unschärfe nur durch menschliche Bewegungen. Mit einer Normalbrennweite (80mm) stellt Herrmann zudem eine unverzerrte Perspektive dar, "die dem menschlichen Sehen am nächsten kommt". Donaucity, Wien, 2014
Herrmanns Bilder wirken extrem ruhig und doch lebendig. Starke Wechsel sucht er auch in den Städten, die er bereist. Mehr als einen speziellen Lieblingsort mag er das Gefühl der Abwechslung, etwa "wenn tosender Verkehr und lautes Chaos einer Art Wohnzimmeratmosphäre weichen", wie in manchen Vierteln von Istanbul. Sabuncu Hanı Sokak, İstanbul, 2014
Wer leidenschaftlich auf Reisen fotografiert, dem empfiehlt Herrmann, überall die Märkte zu besuchen. Hier seien der Puls und das Wesen einer Stadt am besten mit allen Sinnen wahrzunehmen. Chợ Bến Thành, Saigon, 2014
Auch leicht erhöhte Blickwinkel findet Herrmann interessant. Die Perspektive von oben mache es leichter, einen Ort im Kontext darzustellen. Metrostation "Centrum", Warschau, 2012
Im Rahmen von 60" slices of present will Herrmann noch viele Städte rund um den Globus dokumentieren. In jeder von ihnen stellt er sich die Frage, wie Menschen urbanen Raum schaffen, nutzen und mit anderen teilen. Parliament Square, London, 2013
In dieser Serie stellt SZ.de interessante Reisefotografen vor. Bislang ging es mit ihnen in die Metropolen der Welt, nach Vietnam, tief unter die Meeresoberfläche, zu indigenen Stämmen auf den Philippinen und mitten in die deutsche Städtelandschaft, an Vulkankrater sowie zur wahren Seele der Eisberge, nach Südamerika, Hongkong, nach Taiwan, Island, Bangladesch, in die US-Südstaaten, nach "Senegambia" und Rio de Janeiro sowie in den glühenden Sommer von Tadschikistan. Weitere Episoden zeigten bereits Reisen durch Schottland, Afrika, Armenien, Myanmar, Rumänien, Iran, Spitzbergen und Georgien sowie die Lieblingsorte eines Globetrotters, der alle Unesco-Welterbestätten abbilden will.