Süddeutsche Zeitung

Reise:Urlaubstage zu verschenken

Freiwillig auf Ferienzeit verzichten - das macht doch niemand? Von wegen. Statt auch An- und Abreise zu genießen, warten die meisten schlecht gelaunt, bis sie endlich am Ziel sind. Und vergeuden so kostbare Lebenszeit.

Von Katja Schnitzler

Früher war nicht alles besser, aber schicker. Wer verreiste, tat dies mit Stil und einer kleinen Auswahl von drei bis zehn Schrankkoffern. Damen im Reifrock und Herren mit Zylinder ließen die Blicke schweifen über die Reling des Dampfers oder aus dem Fenster im Orient Express und waren dabei selbst eine sehenswerte Erscheinung. Und heute?

Unterscheiden sich Frauen und Männer vielleicht noch in der Farbe der gemütlichen Hose, gerne Jogging, und ihr Rollköfferchen wuchten sie selbst ins Handgepäckfach. Das Reisen hat den Zauber des Exklusiven verloren, was gut ist, denn damit verschwand auch das Elitäre: Früher sahen nur Betuchte ferne Länder, heute reist das Volk. Leider versäumt es dabei, den ganzen Urlaub zu genießen. Wie bitte, das machen wir doch, rufen nun entrüstet die Viel- und Weniger-oft-Reisenden.

Aber auch Anfang und Ende? Neben dem Wegfall des Elitären ist dies der zweite große Unterschied, und darum ist es nun wirklich schade: Einst gehörte der Weg eindeutig zum Ziel, Anreise und Abfahrt wurden zelebriert. Heute fiebern alle dem Ankommen entgegen, davor ist ödes Warten: Dass die Autofahrt von A nach B möglichst staufrei zu Ende geht. Dass das Flugzeug endlich abhebt. Dass es wieder landet. Dass der Zug einfährt. Viele sind genervt, gereizt, gelangweilt - wären sie nur schon da! Doch was sie als vergeudete Lebenszeit empfinden, sind eigentlich verschenkte Ferienstunden.

Öde warten oder lieber Spaß haben

Würde man sie auffordern, zwei Tage ihres Jahresurlaubs ohne Gegenleistung abzutreten, die Empörung wäre groß. Dabei machen das die meisten freiwillig. Für sie beginnt Urlaub erst am Ziel. Doch mit einer Prise Gelassenheit und einer großen Portion Humor fängt der Urlaub an der Haustür an - und endet erst dort wieder. Wir wissen ja in etwa, was auf uns zukommt; also machen wir etwas draus, möglichst das Beste.

Das funktioniert wie im Job: Angestellte, die nichts selbst entscheiden dürfen, fühlen sich äußeren Zwängen - manche nennen sie "Chef" - ausgeliefert und machen wenn überhaupt Dienst nach Vorschrift. Diejenigen aber, die möglichst viel Verantwortung übernehmen und entscheiden dürfen, sind zufriedener. Also lassen wir uns auch auf Reisen nicht von äußeren Umständen die gute Laune verderben.

Schließlich singen wir alle das tägliche Klagelied, wie wenig Zeit für uns selbst bleibt. Statt also zu jammern, nur weil wir noch nicht am Ziel sind, gönnen wir uns doch lieber selbst die Wahl: Soll mir der Masseur während der Wartezeit am Airport schon mal die verspannten Schultern lockern? Fange ich endlich mit den ersten Lektionen in meiner Lieblings-Fremdsprache an? Vertiefe ich mich in Reisetipps und erhöhe so die Vorfreude?

Und einen Stau oder eine allzu lange Fahrt verkürzen Hörbücher und Entdeckerfreude: Wer sagt denn (außer Österreicher), dass man auf der Autobahn ausharren muss, solange es keine Vollsperre ist - unterwegs kann man Sehenswürdigkeiten am Rande mitnehmen und so die Fahrt mit Etappenzielen verschönern. Genauso wenig ist es verboten (außer vielleicht in Österreich), sich in der Pause von der Hauptroute zu entfernen: Ein schönes Spiel mit Raum für Entdeckungen ist es, von der Autobahn abzufahren, wenn ein Ort ausgeschildert ist, dessen Name gefällt. Hat dieser zu viel versprochen, bekommt das nächste Dorf eine Chance.

Zeit für Entdecker

Nur so stießen wir einmal auf der Fahrt Richtung Alpen nahe der A8 auf ein Naturschauspiel in Blaubeuren mit dem märchenhaft-prosaischen Namen "Blautopf": Ein kreisrunder Tümpel in Türkis, das an Karibik denken lässt mitten in der Schwäbischen Alb. Gespeist wird die Karstquelle durch Wasser, das durch ein enormes Höhlensystem rinnt und in der Steinzeit Schutz bot: Schon vor 40 000 Jahren schnitzten hier Menschen Figuren aus Mammutelfenbein - heute die ältesten bekannten Kunstwerke. Seit dem Sommer 2017 gehört das Höhlensystem zum Welterbe der Unesco, was wohl nicht kausal mit unserem Besuch zusammenhängt, aber doch eine schöne Bestätigung ist. Wären wir auf der Autobahn geblieben, die Tank&Rast-Gaststätte hätte keinen bleibenden Eindruck hinterlassen.

Es lohnt also, den Entdecker in sich nicht erst am Ziel rauszulassen. Und irgendwann muss man die mühsam erlernte Achtsamkeit ja anwenden. Wir haben keine Zeit zu verschenken, also zelebrieren wir sie!

Vielleicht ziehen wir dabei sogar etwas Schönes an.

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