Faszination Freeriden:Trend im Abseits

Freeriden Lorraine Huber Lech

Mit der Natur verbunden sein und seine Limits ausloten: Lorraine Huber in Lech am Arlberg.

(Foto: Lisa Fail/Women's Progression Days by Lorraine Huber)

Skifahrer verlassen die präparierten Pisten und drängen ins Gelände. Auch wenn, wie in diesem Jahr, wenig Schnee liegt. Viele halten Freerider für Adrenalinjunkies, die sich leichtfertig in Gefahr begeben. Was macht das Freeriden so schön?

Eine Reportage von Carolin Gasteiger, Lech am Arlberg

Pünktlich lugt die Sonne durch den bedeckten Himmel über dem österreichischen Arlberg. Die Schneedecke in der Steilrinne liegt glatt und unberührt vor den sieben Skifahrern, links und rechts ragen Felsspitzen auf. Ob auf die überhaupt schon Schnee gefallen ist in diesem milden Winter? Im Hang sieht es dagegen gut aus, zumindest ragen keine Steine aus der Schneedecke. Es ist ganz schön lang bis nach unten, warum nicht einfach stehen bleiben?

"Los, fahr!", krakeelt eine Stimme von hinten. Einmal tief Luft holen, und mit einem Ruck geht es los, in die Tiefe. Der erste Schwung wird noch vorsichtig gesetzt, vielleicht trügt der Anblick und es ist holprig und uneben. Aber es geht, wie erhofft, gut. Richtig gut, die Schneedecke unberührt und tief genug. Bald schon fahren die Ski wie über eine frisch aufgeschüttelte Daunendecke, jeder Schwung gelingt ohne großen Aufwand, als würde der Hang zurückfedern. Weit weg von Piste und Skilift, allein und umgeben von Felsen, kommt das Gefühl von Abenteuer und Freiheit auf. Den leichten Anflug von Angst vor der Fahrt? Vergessen.

Auch als das Gelände schon flacher wird, bleibt das Daunendecken-Gefühl, die Ski laufen von allein, das Bremsen übernimmt der Schnee. Als alle unten angekommen sind, wenden sie den Blick zurück: "Schaut, das sind eure Lines. Cool, oder? Ein echter Genuss-Run", sagt Lorraine Huber. Sie weiß, wovon sie spricht.

Die 33-Jährige ist Professional Freeskier - gehört also zu denen, die auf der ganzen Welt nach unberührten Tiefschneehängen suchen. Mehrfach schon war sie in den actionreichen Warren-Miller-Skifilmen zu sehen, zuletzt erschien "Shades of Winter", ein Frauen-Freeride-Film. Darin rasen die Athletinnen, schon fast fallend, Steilrinnen in Alaska hinunter, unendlich lang wirkende Tiefschneepassagen. Allein das Anschauen macht schon Angst. Wenige Wochen, bevor die Freeride World Tour - der Contest für Freerider - in Chamonix beginnt, führt Lorraine Huber an einem Wochenende im Januar eine Gruppe von sieben Frauen durch ihr Heimat-Skigebiet Lech am Arlberg, an unverspurte Hänge wie diesen.

Viele halten Freerider für Adrenalinjunkies, die sich leichtfertig in Gefahr begeben. Aber spektakuläre Aufnahmen wie in "Shades of Winter", dazu Filmmusik und demonstrativ gute Laune täuschen darüber hinweg, dass sich die Athleten akribisch auf jeden "Run" vorbereiten und versuchen, die Gefahren so gut wie möglich einzuschätzen. Im Voraus, bevor sie ihre Spuren ziehen.

Auf diese "Lines" im unberührten Pulverschnee haben es inzwischen immer mehr Skifahrer und Snowboarder abgesehen. Für das Daunendecken-Gefühl im frischen "Pow Pow" nehmen sie Querungen, Aufstiege und lange Wege zurück ins Skigebiet auf sich. "Freeriden gilt als cool und vermittelt einen Lifestyle von Freiheit", sagte Andreas König, Sicherheitsexperte des Deutschen Skiverbandes, der Süddeutschen Zeitung. Auf diesen Trend sind auch Sportartikelhersteller aufgesprungen: Die Outfits werden bunter, die Ski breiter. Die neuartige Rockertechnik erleichtert das Drehen im Tiefschnee, da die Schaufeln der Ski sehr breit sind und die Modelle unterschiedlich weit aufgebogen, damit sie im Pulverschnee aufschwimmen.

Bunt ist auch die Gruppe am Arlberg, die alle einen breiteren Ski als auf der Piste fahren: Da trifft ein Helm in Lila auf eine Skijacke in Gelb und eine Skihose in Pink. Jung, frisch und fröhlich soll das wirken - vor allem aber sind die Skifahrer damit besser zu sehen. Auch die Philosophie der Wintersportorte hat sich gewandelt: "Skigebiete werben damit, dass man in den Bergen Freiheit und Abenteuer erlebt - aber nicht mehr auf den bestens präparierten Pisten, sondern abseits", sagt Thomas Bucher vom DAV.

Aber was tun Skifahrer wie Lorraine Huber in diesem Winter, bei so wenig Schnee? "Freeriden heißt nicht nur Tiefschneefahren", erklärt die Lecherin, sondern bedeute allgemein, sich im Gelände zu bewegen. Das trifft auf diesen Winter schon eher zu: Weltcup-Abfahrten fallen aus, in vielen Skigebieten bleiben ganze Hänge kahl und das Skilaufen fühlt sich mitten im Winter an wie im Frühling. Auch am Arlberg, schon lange ein Mekka für Freerider, ragen viele kahle Stellen aus der Schneedecke. Trotz der schlechten Schneeverhältnisse gebe es immer wieder schöne Abseits-Routen, betont ein Ski-Guide.

Sorglos jenseits der Piste

Freeriden und Pisten-Fahren lassen sich schwer vergleichen. Beide Disziplinen gehören zum Risikosport Skifahren. "Auf der Piste passiert zwar mehr, aber gefährlicher ist es im Gelände", sagt DAV-Mann Bucher. Denn dort lauern sogenannte alpine Gefahren, also versteckte Steine oder Felsen oder bei ausreichend Schnee eben Lawinen. "Über diese Gefahren sollte jeder Bescheid wissen, der ins Gelände fährt", betont Robert Schilling, Hochgebirgsexperte des Deutschen Skiverbandes.

Vor der ersten Abfahrt am Morgen in Lech legen alle Teilnehmerinnen ihr Lawinensuchgerät an und fahren nahe an Lorraine Huber vorbei, sie überprüft das Signal. Wenn es piepst, ist alles in Ordnung. Eine wichtige Vorsichtsmaßnahme, die nicht lange dauert, in der Praxis aber oft vernachlässigt wird.

Viele lassen sich, gerade wenn es frisch geschneit hat, von der verlockenden Aussicht auf einen unverspurten Hang und die eigene Line verleiten und fahren ohne große Vorbereitung ins Abseits. Auch einigen aus der Gruppe am Arlberg wird das bewusst. Den "Pieps" hätten sie zwar an, aber sie überprüften sich nie gegenseitig, heißt es. "Konkurrenzsituationen und Zeitdruck verleiten oft zu falschen Entscheidungen", kritisieren DSV-Experten in der aktuellen Verbandszeitschrift. Oft geht es um sekundenschnelle Entscheidungen, die in Gruppen nicht ausreichend diskutiert werden. "Die Jungs fahren vor, wir hinterher", sagt eine Teilnehmerin in Lech.

Ein Grund, warum Lorraine Huber besonders Frauen mehr Verantwortungsbewusstsein und Sicherheit im Gelände beibringen will. "Irgendwann fiel mir auf, wie wenige Frauen im Gelände unterwegs sind. Und deren größte Angst sind nicht Lawinen, sondern dass ihre Gruppe auf sie warten muss", erklärt sie.

Trotz des Abseits-Booms in den vergangenen Jahren ist die Zahl der tödlichen Lawinenunfälle dem Deutschen Alpenverein zufolge nahezu gleich geblieben. Ein Widerspruch? Oder eher ein Indiz dafür, dass sich diejenigen, die sich ins Abseits wagen, besser auskennen? "Eher nicht", sagt Thomas Bucher. Besonders bei den Freeridern gebe es viele junge Leute, die nicht genügend ausgerüstet seien.

Schuld an den dennoch niedrigen Lawinenunfall-Zahlen sei der Effekt, dass Abseits-Hänge in der Nähe von Skigebieten immer wieder zerfahren würden und sich der Schnee dadurch besser verbinde, meint Bucher. Was nicht heiße, dass Freeriden damit sicher werde. Zudem sei die Ausrüstung präziser geworden. "Die Leute können sich heute besser mit der Materie auseinandersetzen - allein schon aufgrund der besseren Fachliteratur", sagt DSV-Mann Schilling. Auch Lorraine Huber bemerkt, dass die Leute inzwischen besser Bescheid wüssten über die Gefahren und auch über die Kameradenrettung.

Zurück im Gelände am Arlberg. "Hierhin hat es alles verblasen", erklärt Lorraine Huber und deutet auf eine Hangkante neben der Piste. Darunter hat sich gefährlicher Triebschnee gesammelt - Schnee also, der vom Wind zusammengeweht wurde und leicht ins Rutschen kommt. Wer dort abfährt, riskiert, ein Schneebrett auszulösen. Also passiert die Gruppe die riskante Stelle und gleitet weiter in den Hang hinein, wo eine unverspurte Abfahrt wartet - und die Hoffnung auf Pulverschnee. Lorraine Huber fährt als Erste und zieht scheinbar mühelos gleichmäßige Linien in den Hang.

Freeriden bedeutet auch, schwierige Entscheidungen zu treffen, erklärt sie. Diese zeigen sich schon bei der nächsten Abfahrt: Aus welcher Richtung kam der Wind? Wie steil ist der Hang? Wo könnten Steine liegen? Wo könnte man am besten die Schwünge setzen? Vornehmen ist das eine, aber schon nach den ersten Schwüngen scheitert der Plan: Aus der Schneedecke ragen immer wieder Felsen, die Kurven werden kürzer, die Oberschenkel brennen.

Auf der letzten Abfahrt schließlich ist das angenehme Daunendecken-Gefühl weit weg. Der Untergrund auf dem Nordhang ist hart und bucklig. Es hat angefangen, leicht zu schneien, und das Licht ist inzwischen diffus, die Sicht getrübt. An vielen Stellen ragen Steine hervor. Statt weite Schwünge zu genießen, heißt es, schnell und mit kleineren Kurven auszuweichen.

Beim Freeriden ist es lebenswichtig, vorausschauend zu fahren, auf Unebenheiten und unerwartete Steine oder Mulden reagieren zu können - und an entscheidenden Stellen schnell genug zu sein. Sonst bleibt man stecken oder es wird anstrengend und kräftezehrend. Und dadurch gefährlich.

"Freeriden bedeutet, die eigenen Grenzen und Fähigkeiten einschätzen zu können und trotzdem Limits auszuloten", sagt Lorraine Huber. Aber auch, sich mit der Natur verbunden zu fühlen - und frei. "Freiheit ist einer der wichtigsten Werte in meinem Leben", sagt sie - und Freeriden passe perfekt dazu. Sagt's, stößt sich ab und springt über eine Kuppe. Alle anderen folgen, ein "Juhu" schallt durch die Luft. Mit einem Ski-Guide, der den Hang kennt, kann sogar der Sprung ins Off richtig Spaß machen.

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