Süddeutsche Zeitung

Fassatal:Grüne Ideen

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Nachhaltige Landwirtschaft, Wildkräuter und Elektrobusse: Im Fassatal macht man sich intensiv Gedanken über alternative Tourismuskonzepte. Vor allem junge Leute machen vor, wie es in Zukunft gehen könnte.

Von Ingrid Brunner

Wer nicht so recht weiß, wohin die Reise beruflich gehen soll, geht erst mal auf Reisen. Auch bei Sebastian Ghetta war das so: Er wollte erst Bildhauer werden, besuchte eine Kunstschule, wurde dann aber Schreiner. Dann fuhr er nach Südamerika, in die Karibik, nach Thailand. In das gute Essen, die Qualität der Erzeugnisse, habe er sich verliebt, erzählt er, "das wollte ich auch daheim haben". Aber zu Hause in Vigo di Fassa konnte ihm keiner sagen, wie man auf 1300 Meter Höhe einen Garten anlegt. Er befragte die alten Frauen des Ortes, doch die spritzten Gift, wenn ein Schädling ihre Kartoffeln befiel. Er aber wollte giftfreies Biogemüse. Auf einem anthroposophischen College in England erlernte er schließlich biodynamischen Landbau - nach den Ideen von Rudolf Steiner.

Aus East Sussex brachten der heute 31 Jahre alte Sebastian und seine Frau Laura neue Ideen ins Fassatal. Sie sind die ersten, die hier biodynamischen Landbau betreiben. Auf ihrem neu gebauten Hof, der von Wiesen und Wäldern umgeben ist, halten die Ghettas 40 Schafe, 40 Ziegen und einen Esel. Sie setzen auf Agriturismo, Urlaub auf dem Bauernhof. Agritur Soreie heißt ihr Hof, die Gästezimmer sind mit Massivholzmöbeln und Naturmaterialien eingerichtet. "Wir haben aber nicht nur Steiner-Fans zu Gast", sagt Ghetta, Anthroposophen, Veganer und Vegetarier seien sogar eher die Ausnahme. Den Gästen komme es vor allem auf gute Qualität, die schöne Landschaft und die klare Luft an.

Biologisch-dynamische Erdbeeren lassen sich im Tal gut verkaufen

Im Winter kommen Skifahrer und Skilangläufer; besonders im Januar, wenn im Fleimstal und im Fassatal der 70 Kilometer lange Skimarathon Marcialonga Tausende Besucher und Teilnehmer anlockt, denn das Rennen führt direkt am Hof der Ghettas vorbei. Im Sommer sind es Wanderer, die meisten kommen aus Oberitalien. Das Paar macht Käse, Joghurt, baut an den Hängen Kartoffeln, Gemüse und ein wenig Getreide an. Abends kochen sie nach Vorbestellung mit dem eigenen Gemüse und Fleisch. Zum Frühstück gibt es selbstgemachte Marmeladen. Die Früchte sind ebenfalls aus eigener Ernte: Die Ghettas bauen Erdbeeren, Himbeeren, Stachelbeeren, Johannisbeeren an. "Besonders die Erdbeeren sind einträglich, denn auf der Höhe reifen sie später als im Flachland", sagt Sebastian Ghetta. Wenn im Tal die Saison schon zu Ende sei, könne er seine Erdbeeren gut verkaufen.

Giftfreier Anbau macht natürlich viel mehr Arbeit. "Weniger Maschinen und viel mehr Hände" brauche man, sagt Ghetta. "Die Philosophie von Steiner sprach mich an, sie klang irgendwie vertraut", sagt er. Wenn ein Tier im Stall oder eine Pflanze auf dem Feld krank ist, dann gehe es darum, herauszufinden: Was ist das Ungleichgewicht in dieser Pflanze, in diesem Tier? "Man muss das ganze Bild sehen", wenn es einen Schädlingsbefall gebe, gelte es zu verstehen: Ist die Pflanze zu trocken, zu nass, ist es die Erde? Vieles, wovon Ghetta überzeugt ist, klingt für Außenstehende tatsächlich ein bisschen esoterisch, etwa wenn er sagt: "Jeder Garten, jedes Gemüse reflektiert den Bauern, es gibt immer eine Interaktion, eine Beziehung zwischen Boden und Bauer."

Wer nun Witze macht, ob er denn auch seinen Namen tanzen kann, der kommt dem jungen Ghetta gerade recht. Er ruft einfach nach seiner Frau, und schon buchstabiert sie erst Laura, dann Sebastian nach dem Alphabet der Eurythmie.

Nur wenige Minuten entfernt lebt Nadia Pitto mit ihrer Familie. Auch ihre Leidenschaft ist es, Pflanzen zu verstehen, anzubauen, ihre Eigenschaften zu erkennen und daraus biozertifizierte Tees, Kräuterkosmetik und Sirup herzustellen. Ihr Holzhaus mit Gästezimmern, Kräutertrockenkammer und Labor nagelneu zu nennen, wäre nicht in Ordnung: Kein einziger Nagel steckt in dem Neubau, der, soweit möglich, ohne Metall errichtet wurde.

Nadia Pitto, 41, ist gelernte Architektin und stammt aus Genua. Ihre Familie kam jedes Jahr in den Sommerferien ins Fassatal. "Schon damals habe ich gesagt, ich will hier leben", erzählt sie, die Eltern lächelten, dachten, das wachse sich aus. "Aber ich bin immer wieder gekommen, habe hier meinen Mann kennengelernt."

Nach ihrem Studium ist sie hierher gekommen und hat bei der Gemeinde eine Stelle gefunden. Schon bald begann sie, sich für Kräuter zu interessieren. Carletto, ein alter Mann aus dem Dorf, habe ihr die Kräuter erklärt. "Er hat sein Wissen an mich weitergegeben, mir gezeigt, hier wächst Arnika, dort Enzian." Vor zwei Wochen sei er mit 94 Jahren gestorben, erzählt sie. Seine Mutter habe ihn als kleinen Jungen losgeschickt, um etwas aus dem Wald zu holen - zum Essen oder als Medizin. "Arznei gab es damals nicht, oder man konnte sie sich nicht leisten."

Ihren Job bei der Gemeinde hat Nadia Pitto, Mutter von drei kleinen Kindern, aufgegeben. Sie trocknet und verarbeitet Dutzende Wildkräuter und baut Kräuter für die kosmetische und phytopharmazeutische Industrie an. Wer sieht, mit welcher Energie sie ans Werk geht, fragt sich, welches Kraut dafür wohl verantwortlich ist - das möchte man glatt selbst mal probieren. Doch ihr Quell für immer neue Ideen ist die Liebe zur Natur. Im kurzen Sommer auf 1300 Meter muss alles schnell geerntet und verarbeitet werden. Deshalb beschäftigt sie gegen Kost und Logis freiwillige Helfer des Netzwerks WWOOF, in dem sich Biobauern zusammengetan haben. Der Deal: halbtags arbeiten, die andere Hälfte des Tages Urlaub auf dem Bauernhof machen.

Alternative Urlaubskonzepte sucht auch Andrea Weiss, der Direktor des Tourismusverbands Val di Fassa. Zwischen 55 000 und 60 000 Betten gebe es im Fassatal. Sorge bereitet ihm der Individualverkehr. Im Sommer stünden die Autos im Tal an manchen Tagen Stoßstange an Stoßstange. "Wir brauchen eine grüne Alternative für die Mobilität der Zukunft", sagt Weiss. Man diskutiere über drei Optionen: eine Zugverbindung ins Fassatal, eine horizontale Seilbahn oder Elektrobusse. Seit zehn Jahren sind die Dolomiten Weltnaturerbe. "Das gehört nicht nur uns, wir haben die Verantwortung für die Zukunft."

Das schwere Unwetter vom 29. Oktober vergangenen Jahres mit Starkregen, Murenabgängen und orkanartigen Böen hat in verheerendem Ausmaß alte Baumbestände zerstört, auch im Naturpark Paneveggio, wo die seltenen Klangfichten wachsen, aus deren Holz wertvolle Violinen gefertigt werden. Das, sagt Weiss, habe viele Menschen in den Tälern nachdenklich gemacht. Ein Menschenleben reicht nicht aus, damit die Wälder sich erholen. Die Erkenntnis, den Klimaschutz voranzubringen, kommt in den Köpfen an. Junge Unternehmer wie Sebastian Ghetta oder Nadia Pitto gehen voraus.

Informationen: Agritur Soreie, www.soreie.it; Azienda Agricola Fiores, www.fiores.it

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SZ vom 21.03.2019
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