Extremlauf über die Alpen:Bergwerk

'Zugspitze' - Mountain Sprint Extremlauf Alpen

"Wer sich auf sein Ziel konzentriert, muss sich um die Entfernung nicht kümmern", lautet eine Weisheit unter Läufern. Dass die Entfernungen so groß sind, halten viele für nicht mehr ganz normal. Aber der Körper passt sich der Belastung an. Und dann kann man sie genießen.

(Foto: Getty Images)

260 Kilometer, 16.000 Höhenmeter und jede Menge sportlicher Ehrgeiz: Der Transalpine Run in Oberstdorf führt jedes Jahr Hunderte Teilnehmer bis nach Italien. Sind Menschen, die über die Alpen rennen, verrückt? Eine Selbsterfahrung.

Von Jochen Temsch

Die Frau sagt es nicht laut, aber schon so, dass wir es hören können: "Für mich sind das lauter Verrückte!" Sie lehnt am Salami-Stand auf dem Bauernmarkt von Oberstdorf und beobachtet die Gestalten, die sich vor dem Gemeindehaus versammeln: schlanke Menschen mit entschlossenen Gesichtern, Männer wie Frauen, Mützen und Kopftücher auf, Sonnenbrillen mit orange getönten Panoramascheiben, Kompressionsstrümpfe bis zu den Knien, Rucksäcke, Trekkingstöcke.

Von einem Salami-Stand aus gesehen erscheint das Vorhaben dieser Leute wahrscheinlich in etwa so normal wie ihre schrillen Outfits: Sie wollen in acht Tagen 260 Kilometer durch Österreich und die Schweiz bis nach Italien laufen, dabei 16.000 Höhenmeter aufsteigen und genauso viele hinunterrennen. Durch die orangefarbenen Gläser einer Sonnenbrille betrachtet, sieht dieser Wahnsinn natürlich gleich viel gedämpfter aus.

Wer in Oberstdorf antritt, ist bereits seit vielen Jahren regelmäßig in Laufschuhen unterwegs, der hat seine Bänder und Muskeln auf ungezählten langen Läufen an hohe Belastungen gewöhnt. Der mag die Berge und den Ausdauersport - und findet die Idee gar nicht so abwegig, beides zu kombinieren, auch wenn es saumäßig anstrengend wird. Das nennt sich dann Transalpine Run.

"Viel Spaß mit den künstlichen Kniegelenken"

Seit 2005 wird dieses Rennen jährlich auf wechselnden Routen ausgetragen. Vor einer Woche hat die neunte Ausgabe stattgefunden. 700 Teilnehmer waren dabei, angereist aus 36 Ländern, aus halb Europa, den USA, aus Russland, Israel und Iran. Nur zu Hause überwog die Skepsis. Ein Kollege wünschte: "Viel Spaß mit den künstlichen Kniegelenken, die du hinterher brauchst." Die Kilometer und Höhenmeter des Transalpine Run übersteigen die Vorstellungskraft der meisten, die davon hören. Der Gedanke, dass so etwas Spaß machen kann, erst recht.

Nach dem Startschuss geht es zunächst zügig los, das liegt am Adrenalin im Blut, vor dem Rennen stecken sich die Läufer gegenseitig mit Aufregung an. So lange haben sie auf diesen Tag gewartet und darauf hintrainiert. Doch nach wenigen Kilometern drosseln die meisten das Tempo, um ihre Kräfte zu schonen. "Nicht gleich alle Körner verstreuen", heißt das im Bergläuferjargon. Und sobald die Steigung so steil wird, dass man schneller gehen kann als laufen, streut man gar nicht mehr, dann geht man eben ein Stück.

Über die Fidererscharte auf den Schrofenpass. "Schauen nicht vergessen, Leute!", ruft ein Wanderer, der dort gerade Pause macht. Er steckt sich seine Zigarette in den Mundwinkel, um Beifall zu klatschen. Als ob man die Aussicht nur genießen könnte, wenn man dabei stehen bleibt und an jedem Gänseblümchen schnuppert. Beim Laufen in den Bergen schaut man nur etwas schneller als ein Wanderer, den Genuss schmälert das nicht. Eine schöne Landschaft ist die beste Motivation. Die Weite, das Schattenspiel auf den Felsen, ein rauschender Bach hier, ein türkisfarbener See da unten - das wird nie langweilig, und Neugier ist eine treibende Kraft. Wie ist es hinter der nächsten Kurve? Wie wohl die Aussicht von dieser Kuppe dort oben sein wird?

Immer mehr möchte man sehen, immer tiefer in die Landschaft vordringen. Und ist man erst einmal oben auf einer Scharte oder einem Gipfel, wechselt die Perspektive abrupt. Ein neues Tal, neue Glücksgefühle. Dazu geht es auch noch abwärts! Das ist einfach schön, das macht Spaß und lenkt ab. So lässt man seine Gedanken im gleichmäßigen Rhythmus der Beine und des Atems schweifen.

Wer keuchen muss, ist zu schnell unterwegs

Es gibt jetzt keine Anrufe oder Termine, keinen Stress, keinen Alltag, nur noch die Beine, den Berg, das sanfte Schlackern des Rucksacks, das Klappern der Trekkingstöcke und die frische Luft in den Lungen. Beim Laufen genießt man das Panorama nicht nur, man saugt es in sich auf. Und dabei gerät man nicht einmal außer Puste. Wer keuchen muss, ist viel zu schnell unterwegs. Das passende Tempo lässt sich leicht bestimmen: Wenn man sich mit den Teilnehmern um einen herum noch unterhalten kann, ist alles genau richtig. Und schon sind die ersten 35 Kilometer geschafft.

Den Vorurteilen nach ist es anders: Wer auf Berge läuft, hat ein Problem. Der muss sich quälen, weil er sich in seinem eintönigen Bürojob nicht mehr spürt. Bestätigung suchen auf einem organisierten Abenteuer, um seine innere Leere zu füllen. Der muss vor etwas davonlaufen. Und wohl auch ein bisschen autistisch veranlagt sein, einer, der stur Kilometer um Kilometer herunterreißt, nur um ab und zu an einem trockenen Energieriegel zu nagen. Abgesehen davon, dass es unterwegs reichlich Leckereien gibt an Verpflegungsständen - Obst, Suppen, sogar Salamistücke! - und abends in den Dorfturnhallen rauschende Pastapartys stattfinden, darf bei diesem Rennen niemand alleine starten. Man meldet sich in Zweier-Teams an. Sie heißen "Gore-Tex Footwear Chicas", "Stiftung Wadentest" oder "Sons of Anarchy".

Extrem ist relativ

Das Laufen im Duo dient der Sicherheit. Und der guten Laune. Man kommt sofort mit jedem ins Gespräch. Die Themen sind allen vertraut. Die Berge! Das Sportliche! Was läufst du aktuell auf zehn Kilometern? Hast du etwas Hirschtalg übrig? Ich interessiere mich ja auch für den Ultra-Trail de Mont-Blanc. Ultra - das ist nicht nur ein Wort aus der Waschmittelwerbung. 160 Kilometer um den höchsten Berg Europas. 240 Kilometer durch den Amazonasdschungel, 230 durch die marokkanische Wüste - es gäbe ja noch einiges zu tun.

Mein Teampartner wohnt in Ostfriesland, direkt am Deich. Die mächtigste Erhebung dort misst ungefähr fünf Meter. Von 2000 Höhenmetern an ringt er mit seinem Atem, von 2500 an wird ihm schwindlig, wenn er nicht ganz langsam läuft. Auf die Frage, warum er sich trotzdem so einen Extremlauf antut, antwortet er: "Für mich ist das nicht extrem, sondern ein Genuss." Wie die meisten anderen hat er genug von Asphalt. Er sagt: "Von meinen Stadtläufen ist mir nichts Besonderes in Erinnerung geblieben, aber in der Natur merke ich mir jeden Kilometer." Das würde allerdings auch ein Gelegenheitsjogger im Stadtpark unterschreiben. Also, müssen es wirklich gleich so viele Kilometer sein - und so steile?

Extrem ist relativ. Für jemanden, der noch nie vorher gelaufen ist, sind fünf Kilometer ohne Gehpausen unvorstellbar weit. Einer, der seit Jahren zweimal die Woche noch vor dem Frühstück 20 Kilometer trabt, hat keine Angst vor 50 Kilometern im Gebirge. Der Körper passt sich an. Man trainiert, erweitert seinen täglichen Radius, probiert mal einen kleinen Hügel aus, dann einen Berg - und am Ende hat man überhaupt keine Lust mehr, im Schneckentempo zu wandern.

"Und man hat einen Vogel", entgegnen darauf Leute, die Laktat für das Zeug halten, das sie nicht mehr im Cappuccinoschaum haben möchten. Dass ein Athlet seine Ziele höher setzt und dafür seine Trainingsumfänge steigert, wird in jeder Sportart akzeptiert. Beim Berglauf aber wird es gerne pathologisiert. Die Bilder vom Zugspitz-Extremberglauf 2008 sind noch vielen in Erinnerung. Damals starben zwei gut trainierte, aber zu leicht bekleidete Teilnehmer an Unterkühlung. Die Bilder halb nackter Läufer im Schneegestöber empörten die Öffentlichkeit. Das Gebirge ist kein Sportgerät - das hat sich inzwischen auch bei den Bergläufern herumgesprochen. Beim Transalpine darf man ohne Rucksack mit Regenschutz und warmer Wechselkleidung erst gar nicht starten.

Hier geht es nicht ums Gewinnen

Vielleicht sind die Bergläufer auch ein bisschen selbst mit schuld an ihrem Image, so verbissen zu sein. "Die Schmerzen sind für den Moment, der Ruhm für die Ewigkeit" ist ein typischer Spruch, der bei der Alpenüberquerung auf vielen T-Shirts steht. Die Betonung des Extremen, die Verklärung des Leidens, der Appell an die Selbstdisziplin sind für die Veranstalter weit wirkungsvollere Werbebotschaften als die Beschreibung der lieblichen Täler, in denen ihr Laufzirkus gastiert.

Natürlich gibt es diesen ganzen sportlichen Ehrgeiz tatsächlich. Läufer, die schon bei der Startaufstellung drängeln, die an unübersichtlichen Stellen überholen und maulen, sobald es auf den schmalen Single-Trails einen Stau gibt. Aber diese Zügellosen sind weit vor uns. Wenn man eine Packung Müsli schüttelt, rutschen die großen Beeren und Nüsse nach oben, die feineren Haferflocken rieseln nach unten. So ähnlich ist das auch mit dem Läuferfeld: Mit der Zeit ruckelt sich der Pulk zurecht, und wir landen immer in der Gesellschaft derjenigen, die in etwa gleich stark sind wie wir. Die zwei Kanadierinnen, die ganz in Blau laufen: Käppi, Trikot und Kniestrümpfe mit Totenköpfen drauf. Das Mädchen mit dem Rucksack, aus dem eine Gonzo-Puppe schaut - die lange Nase baumelt stundenlang vor uns her. Der Schweigsame, der immer eine Plastikflasche Bier einstecken hat - 71 Jahre alt, der älteste Teilnehmer, schon zum neunten Mal dabei.

Transalpine Run
(Foto: SZ Grafik)

Die Sieger erhalten einen Rucksack und eine Kiste Äpfel. Wir bekommen am Ende ein T-Shirt. Hier geht es nicht ums Gewinnen. Wir haben nichts zu verlieren. Und wir vertrauen auf die Weisheit von Heukemes. Der Name klingt nach antikem griechischen Philosoph. Aber Achim Heukemes stammt aus Wuppertal. Er ist unter anderem durch Australien gelaufen und hat die USA durchquert - zweimal, in beide Richtungen. Einer seiner Sprüche lautet: "Wer sich auf sein Ziel konzentriert, muss sich um die Entfernung nicht kümmern."

Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass wir Schuhdeo als Raumspray in unseren Hotelzimmern benutzen, weil überall verschwitzte Klamotten zum Trocknen hängen. Egal auch, dass die Waden schmerzen und die Oberschenkel immer steifer werden. Immer noch besser, als auszurutschen und mit dem Gesicht in einem Kuhfladen zu landen. Das ist tatsächlich einem Teilnehmer passiert. Die Rennleitung hat ihm zum Trost einen Gutschein für ein Paar neue Schuhe geschenkt.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: