Regeln bei der Evakuierung von Schiffen:"Frauen und Kinder zuerst" - ein Mythos

Von der "Costa Concordia" gerettete Passagiere berichten, dass sie um die Plätze in den Rettungsbooten regelrecht hätten kämpfen müssen. Der Grundsatz "Frauen und Kinder zuerst" sei vielfach ignoriert worden. Doch diese Regel war niemals rechtlich verbindlich.

Daniela Dau

Dramatische Szenen müssen sich bei der Evakuierung der Costa Concordia abgespielt haben. "Jeder wollte in die Rettungsboote rein", erzählt eine gerettete Passagierin. "Es wurde geschubst und Ellenbogen eingesetzt." Jeder sei sich selbst der Nächste gewesen und von der Crew habe es widersprüchliche Informationen und wenig Hilfestellung gegeben.

Dass Frauen und Kinder als Erste gerettet werden sollen, geht auf den Untergang der HMS Birkenhead aus dem Jahr 1852 zurück. Der Truppentransporter der britischen Marine sank vor der Küste Südafrikas, nachdem er einen nicht in den Seekarten verzeichneten Felsen gerammt hatte. Oberstleutnant Alexander Seton gab das Kommando, die an Bord befindlichen Frauen und Kinder zuerst in die viel zu wenigen Rettungsboote zu lassen. Alle überlebten, viele der Soldaten dagegen starben.

Alle Passagiere sollen gerettet werden

Auch beim Untergang der Titanic 1912 hielten sich viele mit der Evakuierung betraute Offiziere an die Birkenhead-Regel. Deutlich mehr Frauen und Kinder als Männer überlebten. In den internationalen Statuten über die Sicherheit des menschlichen Lebens auf See (SOLAS), die daraufhin erstmals 1914 formuliert wurden, geht es um die Mindestanforderungen, die Schiffe hinsichtlich Bauweise, Ausrüstung, Betrieb und Sicherheit erfüllen müssen. Mehrfach modifiziert ist in der seit 1980 geltenden Fassung zum Beispiel genau vorgeschrieben, dass jedes Schiff über eine Rettungsboot-Kapazität von 125 Prozent verfügen muss. Das heißt, es muss mindestens fünf Plätze für vier Passagiere geben. Von der Regel "Frauen und Kinder zuerst" steht dort allerdings nichts. Die von der International Maritime Organization erlassenen Bestimmungen sind darauf ausgerichtet, dass möglichst alle Passagiere ein Schiffsunglück überleben.

Robert Ashdown, technischer Direktor des Europäischen Kreuzfahrt-Verbandes (European Cruise Council) erklärte in der britischen Tageszeitung Guardian, dass die Birkenhead-Regel immer eine ungeschriebene, niemals aber eine rechtlich verbindliche Regel gewesen sei. Die einzige Passagiergruppe, die bei der Evakuierung nach den SOLAS-Bestimmungen bevorzugt wird, sind Passagiere mit Behinderungen. Für sie muss es speziell angepasste Rettungsboote geben. Sobald diese Kreuzfahrt-Gäste an Bord gekommen sind, wird ihnen ihr Rettungsweg und das ihnen nächstgelegene Rettungsboot gezeigt. Dort enden die rechtlichen Bestimmungen für behinderte Passagiere - um tatsächlich ins Boot zu gelangen, seien sie auf die Hilfe der Crew oder anderer Passagiere angewiesen. "Anderen in einer dramatischen Krisensituation zu helfen oder den Vortritt zu lassen, ist kein Verhalten, das man rechtlich vorschreiben kann", so Ashdown.

Nicht einfach von Bord springen

Ed Galea, ein Evakuierungs-Spezialist von der University of Greenwich, beschäftigt sich mit dem Verhalten von Menschen in Katastrophensituationen. Er bezeichnet das Prinzip "Frauen und Kinder zuerst" im Guardian als eine "Hollywood-Vorstellung". Galea hat mehrere Studien zum Verhalten bei Flugzeugabstürzen und Schiffsunglücken erstellt, sowie 300 Überlebende der Anschläge des 11. Septembers interviewt und kommt zu dem Schluss: "In den meisten Fällen handeln Menschen selbstlos und helfen denen, die Hilfe benötigen - auch in einer Extremsituation."

Rettungsübung innerhalb von 24 Stunden nach dem Auslaufen

Die scheint auf der havarierten Costa Concordia in jedem Fall geherrscht zu haben. Alle Experten raten, sich im Falle eines Unfalls auf See an den zu Beginn jeder Seereise eingeübten Rettungsablauf zu halten. Nach den internationalen Bestimmungen sind Reedereien verpflichtet, innerhalb von 24 Stunden nach dem Auslaufen auf ihren Kreuzfahrtschiffen eine Rettungsübung abzuhalten. Die Crew spielt mit den Passagieren den Ablauf einer Evakuierung durch, erklärt den Gebrauch der Schwimmwesten und das Einsteigen in die Rettungsboote.

Manche Reedereien halten diese Übungen bereits vor dem Verlassen des Hafens ab, erklärt Stefan Jaeger, Präsident des Kreuzfahrt-Passagier-Verbandes Eucras. "Dann werden die Passagiere noch nicht aus irgendwelchen Aktivitäten herausgerissen." Auf der Costa Concordia, die um 19 Uhr den Hafen von Civitavecchia verlassen hatte und etwa um 21:30 Uhr mit dem Felsen vor der Insel Giglio kollidiert war, habe es bis zu diesem Zeitpunkt keine Rettungsübung gegeben, berichtet der französische Passagier Olivier Carrasco der Zeitung Sud Ouest aus Bordeaux. Er will die Reederei Costa Crociere nun verklagen. Die verspätete Rettungsübung scheint jedoch üblich zu sein: "Wenn das Schiff abends ausläuft, wird diese Übung meist am nächsten Morgen gemacht, sagt Ulrich Schmidt, Leiter der Dienststelle Schiffssicherheit bei der Berufsgenossenschaft Verkehr in Hamburg.

Ablauf einer Evakuierung

Im Ernstfall würden die Passagiere überall auf dem Schiff durch Signaltöne alarmiert und per Durchsage aufgefordert, sich zu festgelegten Sammelplätzen zu begeben, erläutert Schmidt. Auf Rettungsplänen in den Kabinen sollten sie sich vorab über den kürzesten Weg zum Sammelpunkt informieren. Dort teile die Besatzung die Menschen auf die Rettungsboote auf und verteile Schwimmwesten. "Dieser Ablauf ist auf jedem Kreuzfahrtschiff gleich, lediglich die Rettungswege unterscheiden sich."

Passagiere sollten niemals einfach von Bord springen. Eine Ausnahme sei höchstens, wenn es direkt hinter ihnen brenne und alle Fluchtwege versperrt seien, sagt Schmidt. Im kalten Wasser müssten die Schiffbrüchigen sofort gerettet werden. Das halte die Crew beim Evakuieren der übrigen Passagiere auf.

In jedem Fall gelte: Nerven behalten und nicht in Panik geraten. "Das ist leicht gesagt, aber das einzig Vernünftige." Moderne Kreuzfahrtschiffe seien so gebaut, dass sie auch bei einem Leck - wenn überhaupt - nur sehr langsam sinken. Ab und zu könne es passieren, dass eine einzelne Aussetzvorrichtung für die Rettungsboote versagt, erklärt der Schiffssicherheitsfachmann. Die Boote könnten dann darüber nicht zu Wasser gelassen werden. "Dann muss die Besatzung umorganisieren. Je größer ein Schiff ist und je mehr Gäste an Bord sind, umso schwieriger wird das."

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