Süddeutsche Zeitung

Einheimische und Overtourism:Wie geht's euch denn eigentlich?

Im Kampf gegen die Überfüllung der Urlaubsorte entdeckt die Reisebranche die Einheimischen neu. Deren Interessen mit jenen der Touristen in Einklang zu bringen, ist die Herausforderung schlechthin.

Von Jochen Temsch

An Ostern ist es mal wieder so weit: Feiertage, Urlaub, viele wollen nichts wie weg. Und das bedeutet für Urlauber gleichzeitig das Gegenteil des Fortkommens, nämlich Stillstand und Stau auf den Straßen. Auch für kommendes Wochenende haben Verkehrsexperten wieder enorme Geduldsproben für Autofahrer vorausgesagt, die in die Alpen und darüber hinaus wollen. Doch damit nicht genug. Die Stockung, die Verstopfung, die Überfüllung sind Phänomene, die von der Autobahn übergreifen auf den Urlaub selbst. Das große Thema der Reisebranche ist Overtourism, das Zuviel an Tourismus und daraus resultierende negative Folgen, die sich an klassischen Urlaubsorten rund ums Mittelmeer, in Metropolen, aber auch an deutschen Flusskreuzfahrtstationen wie Regensburg oder Passau zeigen.

Neu ist das Thema nicht. Die Diskussion darüber, wie viele Gäste ein Reiseziel aushält, wurde bereits Mitte der Siebzigerjahre geführt, vor allem mit Fokus auf den Umweltschutz. Vordenker eines sozial- und umweltverträglichen Fremdenverkehrs wie der Tourismusforscher Jost Krippendorf untersuchten die "Tragfähigkeit" von Orten - ein aus der Biologie entlehnter Begriff, der die maximale Anzahl von Organismen einer Art bezeichnet, die in einem Lebensraum existieren können, ohne diesen zu zerstören. Der Zukunftsforscher Robert Jungk plädierte 1980 in einem berühmten Aufsatz für sanften Urlaub und fragte: "Wie viel Touristen pro Hektar Strand?" Seine Antwort: 600 Menschen. Schon damals, wie heute, machten die Forscher immer schnellere und billigere Transportmittel, die Urlauber mal eben übers Wochenende überallhin bringen, als eine der Hauptursachen für die Misere aus.

Freilich reichte die Vorstellungskraft vor 40 Jahren noch nicht so weit, dass Flüge innerhalb Europas einmal so wenig kosten würden wie eine Pizza und ein Bier. Und dass mehrere Kreuzfahrtschiffe mit jeweils bis zu 6000 Passagieren an Bord gleichzeitig an Häfen anlegen würden, um die Altstädte mit Tagesausflüglern zu fluten. Seit 1995 gibt es eine 870-prozentige Steigerung der Gästezahl auf Urlaubsschiffen. Abgesehen davon konnte sich niemand ausmalen, dass Übernachtungen von Reisenden in Privatwohnungen einmal derart überhandnehmen würden. In Barcelona beispielsweise werden inzwischen 75 Prozent aller Unterkünfte über Airbnb vermittelt. In Berlin gab es im Jahr 2016 rund 23 000 Unterkünfte, die über das Portal vermittelt wurden. Touristen quartieren sich in Wohngebieten ein, die Mieten steigen, Geschäfte des täglichen Bedarfs weichen Souvenirshops und Franchiseketten, die Einheimischen werden vertrieben.

Neu am Thema Overtourism ist die Dramatik, die das Phänomen vielerorts angenommen hat. Neu ist auch, dass es nicht nur um die Umwelt und die physische Tragfähigkeit eines Ortes geht, also die Frage, von welcher Besuchermenge an etwa Höhlenmalereien in Frankreich oder Küstenwege in Cinque Terre zerstört werden oder wie viele Kreuzfahrtschiffe noch in die Lagune fahren und an den Fundamenten Venedigs rütteln können, bevor die ersten Häuser einstürzen. Aktuell ist die psychische Tragfähigkeit in den Mittelpunkt gerückt. Also die Wahrnehmung und das Gefühl der Einheimischen - und der Touristen selbst - dass es an einem Ort zu viele Touristen gibt. Aus Sicht des Urlaubers ähnelt das Gefühl der Beengung wiederum der Psychologie des Staus: Man beschwert sich darüber, zugleich ist man Teil davon.

Die negativen Folgen müssen alle tragen, auch diejenigen, die nicht am Tourismus mitverdienen

Die Langzeitstudie World Travel Monitor kam zum Ergebnis, dass im vergangenen Jahr 24 Prozent aller Auslandsreisenden weltweit den Eindruck hatten, ihr Reiseziel sei überfüllt. Die Grundungerechtigkeit für die Einheimischen ist dabei, dass die durch den Tourismus generierten Gewinne privat bleiben, also den Anbietern zufließen, die negativen Folgen dagegen vergesellschaftlicht werden: Umweltverschmutzung, Flächenfraß und Beeinträchtigungen im Alltag müssen alle tragen, auch diejenigen, die nicht mitverdienen.

Daraus resultiert wachsender Widerstand der Besuchten gegen die Besucher, wie er sich im vergangenen Sommer etwa in Palma oder Barcelona gezeigt hat. Tausende Einwohner gingen auf die Straßen, demonstrierten gegen den Ausverkauf ihrer Heimat, bildeten Menschenketten am Strand. Diese friedlichen Proteste lassen sich als Notwehrmaßnahmen von Bürgern begreifen, die sich von Politikern ignoriert fühlen. Der Tourismus schafft Fakten, bevor darüber diskutiert und abgestimmt werden kann. In Barcelona gingen Militante noch weiter, griffen Urlaubercafés an, stoppten und demolierten einen Reisebus.

Rapide ist die Dynamik, mit der die Weltlage den Übertourismus verschärft: die Angst vor Terroranschlägen, die den Tourismus in relativ wenigen, als sicher geltenden Regionen konzentriert; dazu der wachsende Wohlstand insbesondere in Asien, der zu immer mehr internationalen Reisebewegungen führt. In China besitzen nur knapp neun Prozent der Bevölkerung einen Reisepass, aber das bedeutet 120 Millionen potenzielle Touristen. Jedes Jahr steigen 20 Millionen Chinesen und 20 Millionen Inder in die Mittelklasse auf. Das Problem wird also nicht so schnell aus den Schlagzeilen verschwinden, sondern sich im Gegenteil noch verschärfen.

Nun zeigt sich deutlicher als in den Jahren zuvor, wie intensiv diese Entwicklung die Urlaubsbranche bewegt. Bemerkenswert war diesbezüglich etwa die weltgrößte Reisemesse, die Internationale Tourismus-Börse (ITB) Anfang März in Berlin. Beim ITB-Kongress, einer Reihe von Diskussionsveranstaltungen, war Overtourism Thema Nummer eins. Viele Fachbesucher verfolgten die Gesprächsrunden im Stehen und auf dem Boden sitzend, die Hallen waren teils wegen Überfüllung geschlossen, die Statements wurden auf Bildschirmen in die Gänge übertragen.

Zum Beispiel den nur halb als Gag gemeinten Satz von Frans van der Avert, dem CEO von Amsterdam Marketing, der auf die Frage, was die beste Maßnahme gegen Overtourism sei, antwortete: "Baut keine Flughäfen!" Selbst in der für gewöhnlich von reinster Euphorie beflügelten jährlichen Verkündung der Branchenentwicklung - wieder einmal hieß es: "ein absolutes Rekordjahr!" -, ging der Präsident des Deutschen Reiseverbandes (DRV), Norbert Fiebig, ausführlich auf die Herausforderung Overtourism ein.

Es ist eindeutig bei allen angekommen, dass die Reiseindustrie mancherorts am eigenen Erfolg zu ersticken droht. "Klar ist auch, dass für die Bevölkerung in den Destinationen die Vorteile des Tourismus potenzielle Belastungen deutlich überwiegen müssen, sonst gehen uns ihr Wohlwollen und ihre Gastfreundschaft verloren", sagte Fiebig. Auch die Touristen selbst sind unzufrieden, wenn sie sich in Venedig oder Dubrovnik nur noch mit Tausenden anderen Besuchern durch die historischen Zentren quetschen und sich gegenseitig auf die Füße treten. Besucherfeindliche Proteste wirken auch nicht gerade als beste Werbung für unbeschwerte Urlaubstage.

Warum reisen immer noch so viele an die gleichen, überfüllten Orte? Weil es sie nicht stört

Doch die Anzahl der Touristen allein sagt noch nichts über die tatsächlichen negativen Auswirkungen aus. Tausend Badeurlauber in einer abseits der Wohnviertel liegenden Bettenburg an der Costa Brava werden von den Einheimischen als weniger störend empfunden als zwei übers Internet vermittelte Apartments in einem kleinen Wohnhaus im Barceloner Stadtteil Gràcia, wenn die Nachbarn unter Partylärm zu leiden haben und an keiner Tür mehr klingeln können, wenn sie eine Zitrone zum Backen borgen wollen.

Ein Patentrezept zur Entzerrung der Touristenmassen gibt es nicht. An jedem Ort zeigt sich Overtourism auf spezielle, andere Weise. Viele negative Erscheinungen sind räumlich und zeitlich begrenzt oder zu Stoßzeiten besonders gravierend. In Dubrovnik beispielsweise legen alle Kreuzfahrtschiffe bislang an drei bestimmten Tagen der Woche an. Pro Jahr treffen rund 800 000 Landgänger auf allein eine Million "Game-of-Thrones"-Fans, die die Stadt aus der Fernsehserie als Königsmund kennen. Diesen Sommer kommen zusätzlich die "Star-Wars"-Pilger, nachdem die Stadt auch in der jüngsten Episode dieser Kinoreihe als Kulisse diente. Und da es beim Overtourism um Wahrnehmungen geht, gibt es viele subjektive Wahrheiten dazu.

Beim Word Travel Monitor gaben von den 24 Prozent der Reisenden, die ihr Ziel überfüllt fanden, nur neun Prozent an, dass diese Überfüllung die Qualität ihres Aufenthalts tatsächlich beeinträchtigt habe. Das beantwortet auch die Frage, warum immer noch so viele an die gleichen, überfüllten Orte reisen. Es stört sie einfach nicht. Dabei spielen auch kulturelle Unterschiede eine Rolle.

So gilt für die meisten deutschen Urlauber der einsame Strand als idealer Schauplatz eines Traumurlaubs - Brasilianer dagegen empfänden so einen menschenleeren Ort am Meer eher als befremdlich. Auf Chinesen wirkt der Herdentrieb in Venedig relativ entspannt im Vergleich zu den Massenaufläufen, die sie etwa auf Urlaub während ihres Neujahrsfestes im eigenen Land gewohnt sind. Man muss also schon genau hinschauen, wo und wie Tourismus als problematisch empfunden wird. Am besten ist: Man fragt die Einheimischen selbst und lässt sie am Geschäft partizipieren. An Orten, die ihren Tourismus gerade erst entwickeln, zeigt sich, wie das funktionieren kann.

Entwicklungsorganisationen arbeiten etwa in den Dörfern Myanmars oder auf indonesischen Inseln, um gemeinsam mit den Einheimischen Besuche von Touristen so zu gestalten, dass viele etwas davon haben und sich die negativen Folgen in Grenzen halten. Der ideale Urlauber ist in kleinen Gruppen respektvoller Gäste von einer familiengeführten Pension zur nächsten wandernd unterwegs und kauft lokale Produkte. Dabei geht es allerdings um kleinteiligen, gemeindebasierten Tourismus, der sich überschauen lässt. Auch in den Alpen gibt es ähnliche Foren für Einheimische, etwa in der Ferienregion Wilder Kaiser in Tirol, wo eine Million Übernachtungen auf 10 000 Einwohner in den Dörfern kommen. Der Tourismusverband hat einen runden Tisch gegründet, an dem die Sorgen der Leute über zu viele Besucher gehört und Lösungen diskutiert werden.

Auf der anderen Seite der Tourismus-Skala stehen die überlaufenen Großstädte. In Barcelona gelten die Limitierung der Bettenzahl durch Baustopps für Hotels und eine strengere Lizenzierung privater Ferienapartments sowie der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs als wichtige Maßnahmen. Der Transport soll schneller und effizienter werden. Man könne die Einheimischen auf der Straße nicht von den Touristen unterscheiden, wenn es darum gehe, die Überfüllung der Stadt zu vermeiden, sagte Joan Torrella, der Tourismuschef im Rathaus Barcelonas, auf der ITB. Generell gilt die bessere Steuerung der Touristenströme, sprich ihre räumliche und zeitliche Entzerrung, in der Branche als beste Strategie. Weniger Umsätze will deshalb allerdings keiner machen. Weniger Menschen sind dadurch natürlich auch nicht unterwegs.

Reiseveranstalter sollen ihre Gästegruppen abseits der Stoßzeiten an Sehenswürdigkeiten führen, der Aufenthalt in Stadtzentren soll verkürzt, das Umland einbezogen werden. Als weitere probate Mittel gelten flexible Öffnungszeiten etwa von Museen, die Aufwertung der Nebensaison sowie Apps, die über aktuelle Besucherzahlen und Wartezeiten an Sehenswürdigkeiten informieren und alternative Ausflugsziele anbieten. Es zeichnet sich ein Paradigmenwechsel ab: Aus dem Marketing für eine Destination, das auf das Anlocken von immer mehr Touristen zielt, wird ein Management der Destination, das sich auch um ein gutes Verhältnis zwischen Besuchern und Besuchten kümmert.

Dazu gehören auch veränderte Routen und Fahrpläne. Der Bürgermeister von Dubrovnik, Mato Franković, sagte auf der ITB, er verhandele derzeit mit den Reedereien. Sie sollen sich künftig so untereinander abstimmen, dass die Schiffe nicht mehr alle gleichzeitig anlegen. Bereits im vergangenen Sommer hat Frankokvić die Anzahl der Altstadt-Besucher auf unter 8000 zur gleichen Zeit limitiert. Wachposten an den Stadttoren sollen den Gästezufluss notfalls verlangsamen. Ganz freiwillig wurde der Politiker allerdings nicht aktiv. Die Unesco hatte zuvor mit der Aberkennung des Welterbestatus' für Dubrovnik gedroht, sollte es weiterhin derart niedergetrampelt werden. Die Stadt Barcelona wiederum kann die Kreuzfahrtschiffe in ihrem Hafen nicht limitieren - das ist in Spanien Sache der Zentralregierung.

Falls Destinationen, Reiseveranstalter und Reedereien die Entlastung der Urlaubsorte nicht selbst hinbekommen, könnten Regierungen in Zukunft vermehrt vorgeben, wo und wann wie viele Besucher sein dürfen. Solche Restriktionen gelten in der Branche als Worst-Case-Szenario. Staatliche Eingriffe, so das Argument der Geschäftsleute, würden der freiheitlichen Gesellschaftsordnung Europas widersprechen, zu der die Reisefreiheit gehört - aber natürlich auch ihre blendend laufenden Geschäfte stören.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3921713
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 29.03.2018/ihe
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.