Ess-Störung:Ganz schön ausgekocht

Für die EU müsste die Türkei ihre Leibgerichte verbieten. Ein Sturm der Entrüstung ist deshalb über dem Bosporus am Aufziehen.

Von Christiane Schlötzer

(SZ vom 26. 8. 2003 - ) Istanbul, im August - Es gibt Rituale, die haben sich so tief in den Alltag eines Volkes eingegraben, dass sie Teil des Nationalcharakters geworden sind. Auch Trink-Rituale gehören dazu.

Ess-Störung: Istanbul - die Stadt, in der Iskembe und Kokorec (noch) regieren

Istanbul - die Stadt, in der Iskembe und Kokorec (noch) regieren

(Foto: Foto: AP)

Wenn in Istanbul tief in der Nacht in den Bars am Bosporus das letzte Glas mit scharfem Raki-Schnaps ausgetrunken ist, dann treibt es die Zecher auf die Straße, aber noch lange nicht ins Bett. Ihr Ziel heißt Kuttelsuppe, türkisch Iskembe. Heiß und fettig ist das Leibgericht des Nachtvolks, gemacht aus kleingehackten Schafs- und Lämmermägen.

Geschnetzelte Lämmerdärme

Iskembe gibt es überall, wo es Bars gibt, in schmuddelig wirkenden Stehimbissen ebenso wie in blitzblanken Edelbistros. Und wo Iskembe gekocht wird, ist auch Kokorec nicht weit, gebraten aus geschnetzelten Lämmerdärmen, zwischen zwei Brotscheiben gepresst. Vom Barhocker bis zum Innereien-Mahl sind es immer nur ein paar Schritte. Aber das soll sich ändern.

Hüseyin Dogan kann es einfach nicht glauben. Der Kokorec-Koch klopft mit beiden Händen flach auf seinen ausladenden Bauch, den eine Schürze im schwarz-weißen Hahnentrittmuster bedeckt. "Jeden Tag esse ich zwei, drei Portionen und nie bin ich krank geworden", sagt er. Seine Liebe zu dem Leibgericht muss Hüseyin Dogan derzeit ziemlich oft versichern, weil sich die Kunde verbreitet hat, die Türkei wolle in ihrem Begehr, Mitglied der EU zu werden, die heiß geschätzten Schafsmagen- und darmspeisen verbieten, schon zum 1. Januar 2004.

"Konkurrenz zu McDonald's"

Einen Entrüstungssturm der Köche hat diese wie ein Lauffeuer verbreitete Botschaft ausgelöst. Und wie immer, wenn sich in der Türkei Empörung zeigt, wird auch eine Verschwörungstheorie angerührt. So vermutet Suat Kaya, der in der Nähe von Istanbuls europäischem Bahnhof Sirkeci Därme brät, "dass die Amerikaner unser Kokorec als Konkurrenz zu McDonald's fürchten".

Weshalb nicht Brüssel, sondern Washington der wirklich böse Bube sei. Das gefällt vielen Türken gut, weil Amerika seit dem Krieg gegen den Irak Sympathien verloren hat. Aber die Köche der scharf gewürzten Speisen haben noch Hoffnung, schließlich wird in ihrem Land selten etwas so heiß gegessen, wie es gekocht wird.

Das gilt auch für gesetzliche Vorschriften. "Die Polizei wird uns 15 oder 20 Tage kontrollieren, dann wird sie es wieder vergessen", glaubt Hüseyin Dogan, dessen Imbissbude den Namen "Golden Kokorec" trägt. Die Braterei dürfte tatsächlich eine Goldgrube sein, denn sie liegt im Hauptvergnügungsviertel Ortaköy und hat 24 Stunden offen, wie fast alle Kokorec- und Iskembe-Läden.

Polizisten als Kunden

Nach den Nachtschwärmern kommen um fünf Uhr früh die Straßenarbeiter. Tagsüber sitzen Polizisten im Hinterhof von Dogans Straßenverkauf. Die Beamten sind gute Kunden, sie verdienen nicht viel, und Kokorec ist billig. Im Zweifelsfall würden sie wohl ein Auge zudrücken.

Nur wenige Meter von der schmalen Imbissbude entfernt hat Osman Keles kürzlich das piekfeine Iskembe-Restaurant "Schah" eröffnet. Der kühle Charme des Design-Lokals erinnert an die Eingangshalle einer Großbank. "Die Därme werden stundenlang gekocht, die sind sauber wie ein Hemd", sagt Keles. "Ich glaube nicht, dass das türkische Volk diese Gerichte aufgibt."

Früher war's "eine schmutzige Sache"

Ob Restaurant oder Imbissbude, erst einmal warten die Köche ab. "So lange das Verbot nicht im Staatsanzeiger steht, tun wir nichts, aber dann werden wir eben Döner und Kebap verkaufen", sagt Necati Duba, dessen Familie eine ganze Korkorec-Kette aufgebaut hat. "Früher", gibt der 31-jährige Duba zu, sei die Darm-Speise häufig "eine schmutzige Sache" gewesen. Und wer Kokorec auf Holzkohle brate, begebe sich immer noch in Gefahr, weil die Kohle nicht heiß genug werde, um wie Gas bei 300 Grad alle Bakterien zu töten.

Dass sein Land Mitglied der EU wird, möchte Duba schon, aber warum sollte es dafür auf seine Leibspeisen verzichten, fragt er. Schließlich hätten dies auch die Griechen nicht getan. Tatsächlich sollte im Nachbarland für Europa einst der Schafsdarm von der Speisekarte verschwinden, aber längst füllt er wieder die Mägen der Hellenen.

Aufgeschreckt von den Protesten gegen ein Innereien-Verbot, versucht nun das Innenministerium in Ankara, die Esser zu beruhigen. Die Pläne, die Lizenzen der Köche einzuziehen, seien noch gar nicht fix, heißt es. Und ein Vertreter der Istanbuler Stadtverwaltung schimpft: "Die Europäer essen Schweinefleisch, das will ja auch niemand verbieten."

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