Erinnerungen an die erste Reise:Im Schatten der Agave

Lesezeit: 7 min

Verliebt, verwirrt, verrückt: Unser Autor erinnert sich an den ersten Urlaub mit seiner Freundin auf Sardinien. Er war siebzehn - und es war Sommer ...

Roger Willemsen

Eine Agave. Genau. Eine aus dem Strandsand aufstrebende, einzelne Agave mit fleischigen grau-grünen Blättern, das war's, mein erstes Reiseziel. Aber das wusste ich nicht, als ich aufbrach, in ihren Schatten zu reisen.

Roger Willemsen noch ohne Brille als 17-Jähriger auf Sardinien ... (Foto: Foto: privat)

Hinterher wusste ich es, stand auf, strich mir den Sand vom Körper und sah ihn hinter mir liegen: den Körper und den unvergesslichen Ort, samt den staubgetuschten Blättern der Agave, und den Schatten darunter, den zerwühlten Schatten.

Aber das ist nicht der Anfang. Der Anfang ist: Ich war siebzehn, verliebt und Internatsschüler an der Nordsee. Meine Geliebte war achtzehn, erfahren und Gymnasiastin im Rheinland. Telefonate waren zu teuer, Briefe schrieben wir fast täglich und in ihnen trug uns das Schmachten dauernd über alle Horizontlinien davon, weit weg.

Mein Internatszimmer teilte ich mit einem deutschen Pykniker, dessen Eltern sich ohne ihn in Marokko niedergelassen hatten. Ihn quälte Fernweh, mich Heimweh. Er sprach von Basaren in Marrakesch, ich von Parkbänken in Bonn.

Alles war gut, solange es fern war, und schmerzlich war es auch. Einmal saß er nachts an meinem Bett und weinte, während ich schlief. Ich schlief aber nicht, und weinte selbst, sobald er wieder im Bett war. Das alles wäre ganz schön gewesen, ohne die Liebe.

Meine Freundin hieß nicht Yvonne, ich nenne sie hier nur so, weil ich damals Namen am schönsten fand, wenn sie mit Y begannen. Sie nahm meine Träume in Empfang und träumte sie weiter, über die Landesgrenzen hinaus. Weiter. Weg.

In eine fiktive Fremde träumten wir, und diese Fremde korrespondierte mit dem, was uns aneinander vermutlich noch fremd war, so unerlöst, wie wir waren. Jede Reise zu dieser Zeit musste eine Entdeckungsreise sein, mit uns als unausweichlichem Ziel.

Also suchten wir das Weite, aber das erschwingliche. Über die Weltkarte gebeugt, entschieden wir, dass das erschwinglichste Weite ,,Sardinien'' hieß. In den Reiseführern raunte man von Banditen, von Wegelagerern und Straßenräubern, die von Eseln aus arbeiteten und in unwegsamen Gebieten hausten. Ein sehr literarisches Ganoventum, fanden wir.

Die Sarden, ein wildes Hirtenvolk, so lasen wir auch, seien Afrika eher zugewandt als Europa, liebten ihre Unabhängigkeit und zögen sich bei Bedarf in ihre hoch gelegenen Dörfer zurück, wo der Arm des Gesetzes sie kaum fassen könne usw. Im Grunde war nur ein kleiner Streifen Costa Smeralda ,,kultiviert'', so hätte man denken können.

Von einem Besuch der zentralen Provinz ,,Nuoro'' aber wurde sogar pauschal abgeraten. Denn hier, wo Entführungen, Überfälle, auch Morde an der Tagesordnung seien, könne man verschwinden, ohne je wiedergefunden zu werden. Also raunte Polyglott.

Verschwinden. Es war Sommer, und wir hatten sechs Wochen Zeit dazu. Yvonne war blond und das Trampen leicht. Schon auf der Höhe von Koblenz hielten zwei Autos, die ,,Kolonne fuhren'' Richtung Avignon.

Die Fahrer legten Jethro Tull auf, und so rasten wir zu ,,Thick as a Brick'' durch Zentral-Frankreich, ,,and you let your animals free'', war die glücklichste Zeile, die sangen wir mit. Wir reisten, und groß waren die Versprechen!

Außerdem waren die Fahrer komisch und überboten sich in Wortspielen. Der eine sagte ,,Tel Aviv'' für ,,c'est la vie'' und statt ,,nervös'' immer ,,porös''. Das war damals noch neu.

Manchmal hielten wir mit unserem Wagen auf einem Autobahnparkplatz, warteten auf den zweiten Wagen, vertraten uns die Beine, umarmten uns, aßen Kekse und fuhren wieder in das schmutzige Frühlicht hinein nach Süden.

... und heute (Foto: Foto: AP)

Ich weiß noch, wie ich in Avignon erwachte, als ein monströs hässlicher Halbwüchsiger die Straße überquerte. Eine Hitchcock-Szene: halbheller Frühmorgen, und in dem Zwielicht geht ein flammend rothaariger Junge, sommersprossig, nein, -fleckig, gebeugt und mit schwer hängender Unterlippe über den Zebrastreifen, und der eine der Fahrer sagt lakonisch: ,,Tja, Mäusepaul, du alter Eierdieb, da musste ganz allein mit fertig werden!'' Wörtlich.

Wieder ausgesetzt an der Straße, kostete uns die Strecke bis Marseille einen ganzen Tag. Aber am dortigen Hafen brausten in der Abenddämmerung Europa und Maghreb ineinander. Wir stellten uns in die duftenden Marihuana-Wolken, tranken frisch gepresste Säfte, aßen Bratfischchen und liefen in das interessanteste Viertel hinein.

Bald wurden hier die Gassen so eng, dass die Wäscheleinen sie ganz überspannten und sich die Nachbarn von Fenster zu Fenster die Hände reichen konnten. Wir bewegten uns mit unseren Rucksäcken durch den Slum, tranken kurzen schwarzen Kaffee auf dem Bürgersteig und schafften es wieder unversehrt ins Freie.

Da war die Nacht schon runtergekommen, einen Schlafplatz gab es nicht, doch da die Luft lau und der Morgen nicht weit waren, schlichen wir uns durch einen Torbogen in einen begrünten Innenhof zwischen martialische Fassaden.

Auf der kleinen, von Rabatten gesäumten Rasenfläche schlugen wir sogar unser Zelt auf, küssten uns zur Nacht und schliefen, bis in der Morgendämmerung zwei Stiefel durch die Zeltwand traten, einfach nach uns traten.

Dieselben Stiefel traten auch unsere Zeltstangen ein, überhaupt hörten sie nicht auf zu treten, und als wir alles entwirrt, uns notdürftig bekleidet und den äußeren Reißverschluss geöffnet hatten, standen wir in einer Kohorte hoch gerüsteter französischer Soldaten.

Offenbar waren wir nachts unbemerkt in ein Kasernengelände eingedrungen, und das mickrige Zelt, die blonde Yvonne mit ihren nackten Beinen, meine langen Haare, all das blamierte den Gedanken der militärischen Abschreckung. Mit Schlägen und Tritten wurden wir vom Hof gejagt, und unserer Sachen schmiss man uns draußen auf dem Bürgersteig nach.

Auf der Fähre nach Olbia, Sardinien, haben wir uns geküsst, Rußflocken flogen aus dem Schornstein in Yvonnes Haar, nach Salz und Asche schmeckte, was wir atmeten, und unsere albernen Segeltuch-Sonnenhüte hatten uns, als der Abend kam, vor dem Sonnenbrand nicht geschützt.

,,Viva, la Sardegna!'' riefen wir, als wir die Fäuste in den Sand der Insel ballten. Immerhin waren wir am Ort unserer Sehnsucht angekommen, nach immerwährender Reise: allein, verliebt und uns selbst überlassen an einem wilden Ort.

In der ersten Nacht schafften wir es gerade noch zum Strand, wo wir unsere Schlafsäcke ausrollten, hergestellt und mit entsprechenden Etiketten versehen von ,,Tittel Lengenfeld''. Ich weiß nicht, warum ich das noch weiß. Am nächsten Morgen waren wir selig wie nie und von Sandflöhen gebissen.

Die Landschaft bestand aus aufgetürmtem Schmirgelpapier. Auch an Ginster und die schmalen Rispen der Pinien kann ich mich erinnern. Bauern mit holzgeschnitzten Gesichtern standen in den Feldern, saßen auf den Plätzen in Palaver-Runden, und aus Wurzelholz waren die Hirten-Gnomen auf den Eselsrücken, die hinter ihrer Herde her ritten, während die schwankende Gerte nur über den Hintern dahin strich.

Die Sardinnen waren starkknochige, massive Räuberhauptmannsfrauen mit Damenbärten, schwarzen Kopftüchern und Reibeisen-Stimmen. Ihre Hände waren raue Pratzen, rissig von der Feldarbeit und zupackend.

Manchmal baten uns die Frauen ins Haus, wärmten Wasser über dem Feuer, um unsere Hände vor Tisch damit zu übergießen; man trank den gold-öligen, hochprozentigen Wein Sardiniens aus kleinen Pressglas-Gläsern.

Die Männer versuchten währenddessen, weltläufig zu erscheinen, Konversation zu machen und die Kultur ihres Landes zu verherrlichen.

Die Kultur bestand vor allem aus runden Steinhaufen, so genannten Nuraghen, die wie Brustwarzen auf den Hügeln saßen, steinerne Turmbauten, die hier in größter Dichte, aber mit ungewisser Funktion errichtet wurden. Kultstätten? Gräber? Wohnbauten? Die beigeordneten Bronzeskulpturen wirkten jedenfalls leptosom und nervös, und alles Deuten und Arme-Ausbreiten schien unerklärlich.

Einmal, wir waren inzwischen tief in die Provinz Nuoro eingedrungen, nahm uns eine Bauernfamilie bei sich auf. Wir saßen schon am langen Tisch, als die Kinder von der Feldarbeit heimkehrten. Niemand staunte über die Fremden, und nachdem ich Yvonne sicherheitshalber als meine Frau ausgegeben hatte, waren die letzten Bedenken zerstreut.

Wir aßen Spaghetti aglio e olio, aber mit Oliven, Kapern und geräuchertem Käse, und nach Mitternacht, der Dessert war eben vorüber, nahm der Familienvater meine Hand, sagte, die Frauen müsse man jetzt sich selbst überlassen, und fuhr mich auf dem Moped auf die Piazza, wo mindestens fünfzig Männer beim Wein saßen.

Die finstere männliche Gesellschaft, die sich hier versammelt hatte, entsprach ikonographisch exakt meiner Vorstellung von der Mafia. In der Nacht durfte ich mit meiner Frau im größten schmiedeeisernen Bett schlafen, wo wir uns nur im Arm hielten, aus Angst, auffällig zu werden in unserem Verlangen.

Das Trampen war nun so leicht, dass wir mehrmals von Wagen zu Wagen gereicht wurden, und wir trauten uns manchmal sogar, einen Wagen in einer Bucht am Meer einfach anhalten zu lassen, zuversichtlich, dass immer irgendjemand kommen und uns holen würde.

Einmal bauten wir abends unser Zelt vor einen Hang und standen nur Meter entfernt, als eine Rotte Wildschwein mitten durch unser Areal stürmte, das Zelt ein Stück mitreißend.

Ein andermal sprangen wir ganz allein an ein paar für uns unverständlichen Warnschildern vorbei in die Brandung, bis uns aufgebrachte Einheimische aus dem Wasser zogen.

Den ganzen Tag über hatte der Rundfunk für diesen Küstenabschnitt Hai-Warnungen durchgegeben. Auf den Fotos steht Yvonne einmal vor einem Kaktus, einmal rudert sie mich, und einmal hebt sich die Silhouette einer Pinie vom Sonnenuntergang ab. Ich kann diese Bilder bis heute nicht ohne Liebe sehen.

In der Hai-Bucht sind wir dann für eine Nacht geblieben, und sie war jetzt auch dabei, die Agave, die aus der trostlos kargen Erde einen geilen Schlund und aus diesem immer neue, fette Blätter hervorgetrieben hatte und jetzt so riesig am Hang stand, dass wir in ihrem Schatten lagern konnten.

Und wir lagerten. Und in diesem Schatten verlor ich endlich an einem Sommerspätnachmittag, was man damals zurecht als ,,meine Unschuld'' bezeichnete.

Tage später hat uns ein Nachtclub-Besitzer aus Cagliari mitgenommen, hat nachts seine verlassen liegende Diskothek aufgesperrt, Pink Floyd aufgelegt, dann ist ihm aus der Küche seine Katze, die er dort eingeschlossen hatte, ins Gesicht gesprungen.

Er lachte, während er blutete, aber wir wussten, nicht das Temperament der Katze, sondern die Bosheit ihres Besitzers hatte diesen Angriff verschuldet. Der Mann ließ uns auf der kühlen Tanzfläche unsere psychedelischen Kreise ziehen, brachte uns dann in eine seiner Stadtwohnungen, gab uns den Schlüssel und wollte gehen.

Warum er uns traue, wollten wir wissen. ,,Ihr kommt auf dieser Insel nicht weit, wenn ihr mich betrügt'', antwortete er.

Später hat er hinzugefügt, ,,wenn euch jemand überfällt, sagt, ihr seid Freunde von Piero Pirlo, dann passiert euch nichts''. Wir haben ihn nicht wieder gesehen. Passiert ist uns auch nichts. Wir reisten im Schatten der Agave. Es war der schönste Sommer.

Von Roger Willemsen erschien zuletzt ,,Afghanische Reise'' beim Fischer Verlag.

© SZ vom 24.5.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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