England:Nase zuerst

Schnuppern in Hauseingängen, Bierpubs und an der Kathedrale: Eine Künstlerin leitet Gäste auf einer Geruchstour an, sich ein anderes Bild von Canterbury zu machen. Die merken, dass es nicht so leicht ist, sich nur auf das Riechorgan zu verlassen.

Von Evelyn Pschak

Eigentlich wäre in Canterbury viel Hübsches zu sehen: Die Fachwerkhäuser der Altstadt mit wuchtig auskragenden Fenstern unter dunklen Ziegeldächern. Ihre quer gesetzten Dreiecksgiebel, bunten Holztüren, die zinnbekrönten Abschlüsse. Und mitten drin in den gewundenen Gassen steht die Kathedrale, die wichtigste Kirche der Anglikaner, ein Wallfahrtsort seit dem 12. Jahrhundert, als dort der damalige Erzbischof Thomas Becket von vier königlichen Rittern getötet wurde. Die Erzählungen von Wundern an seiner Grabstätte veranlassten bald Pilger aus ganz Europa, nach Canterbury zu kommen.

Man soll aber trotz all der Pracht nicht hinsehen - befiehlt Kate McLean. Die britische Designerin bittet zum "Smell Walk" durch das südostenglische Universitätsstädtchen: "Benutzt eure Augen nur, um nirgends anzustoßen", weist die 53-Jährige ihre Gruppe an. "Ansonsten versucht, euch auf euren Geruchssinn zu verlassen. Lernt den Ort mit der Nase kennen."

Einfacher gesagt als getan, der Mensch ist eben doch ein visuelles Wesen. "Wir müssen unserer Erwartungshaltung trotzen", bestätigt die Künstlerin, "denn wir wissen nun mal, wie eine Bäckerei riechen sollte." Herausfinden also, ob man den Augen oder Nasen mehr trauen darf. Man könnte die Tour auch ganz allein machen, so McLean. Auf ihrer Webseite findet man vorgefertigte Listen, um unterwegs erschnupperte Dufterfahrungen niederzuschreiben. "Smellfie" nennt McLean eine solche Geruchstour auf eigene Faust: "Man braucht weder besondere Ausrüstung noch Training", erklärt sie, "denn mit unserer Nase besitzen wir ein verblüffendes Werkzeug, das besser funktioniert als jedwedes elektronisches Verfahren."

Canterbury Cathedral Canterbury Kent England United Kingdom

Bedeutendstes Gotteshaus der Anglikaner: die Kathedrale von Canterbury, England.

(Foto: Joana Kruse/imago)

Ein Mensch könne über eine Billion Duftreize unterscheiden, zitiert sie eine Studie. Schon seit Jahren beschäftigt sich die Britin mit dem olfaktorischen Raum und versucht, Gerüchen im Stadtbild nachzugehen, sie in verschraubten Reagenzfläschchen zu archivieren und die gesammelten Geruchsdaten in sogenannten Sensory Maps kartografisch festzuhalten. Für diese Geruchslandkarten setzt McLean bunte Farblinien konzentrisch oder elliptisch auf schwarzen oder weißen Untergrund. "Nose First" lautet folgerichtig der Titel ihrer Doktorarbeit in Kommunikationsdesign, die sie derzeit am Londoner Royal College of Art schreibt: "Nase voraus. Geruchsspaziergänge und Sinneslandkarten in der Praxis".

Das Fachwerk der Tudorhäuser und das Röstaroma der Gerste bestimmen hier den Duft

Für Städte wie Kiew, New York und Edinburgh hat sie bereits Geruchsparcours angelegt und die jeweilige Quintessenz des Orts-Odeurs herauskristallisiert. In Amsterdam etwa liege der Geruch der Kanäle unterschwellig in jedem Atemzug. In Singapur nasenkitzelnde Würze und warme Feuchtigkeit. Auch in Canterbury würde der Fluss Stour den Geruch der Stadt charakterisieren, so McLean. Und dann wäre da noch dieser holzige "Geruch von Geschichte", wie ihn ein Spaziergangsteilnehmer mal benannt hatte: imprägniert vom Fachwerk der alten Tudor-Gotik-Häuser, konserviert in den schattenreich kühlen, engen Gassen. Oder vom warmen Röstaroma der Feuerstellen in den Pubs von Canterbury, die seit dem 15. Jahrhundert Ales aus gemälzter Gerste ausschenken und deren Dielen so ausgetreten und abschüssig sind, dass den Gast schon Schwindel erfasst, bevor er das erste Bier intus hat.

Wie sehr die Verbindung von altbekannter Szenerie und neuem Geruch destabilisieren kann, erklärt McLean so: "Als es in den Pubs zum Rauchverbot kam und der Zigarettenrauch nicht mehr den stumpfen Mief aus verschüttetem Bier und bleichhaltigem Putzmittel maskierte, empfanden viele Gäste die Geruchsbelästigung schlimmer als je zuvor", sagt sie und lacht. Doch es könne in der Stadt auch sehr gut riechen. "Im Sommer etwa, wenn die High Street voller Marktstände ist, die Erdbeeren, Kirschen oder Pfirsiche aus den umliegenden Obstanlagen verkaufen; dann riecht man auch heute noch, dass Kent seit den Zeiten Heinrichs VIII. als 'Garten Englands' für die Lieferung frischer Früchte an den königlichen Hof verantwortlich ist."

Selbst wenn Kate McLean betont, dass es sich bei ihren Geruchstouren um eine Kunst- und Designanwendung handle und nicht um eine wissenschaftliche Studie, unterwirft sie deren Ablauf doch einer strikten Systematik. In drei aufeinanderfolgenden, jeweils 15-minütigen Phasen wird die Geruchserfahrung kategorisiert: zunächst über das sogenannte "Smell Catching", für das sie ihre Gruppe von der Haupteinkaufsstraße bis zum historischen Buttermarket führt und vier unterwegs gesammelte Düfte nach Intensität, Dauer und Gefallen notieren lässt, seien es nun die Ammoniakschwaden eines Friseurs oder das Parfum einer Passantin.

Eine Künstlerin leitet Gäste bei einer Geruchstour an, sich ein anderes Bild von Canterbury zu machen.

Kate McLean sammelt die Düfte von Städten wie Canterbury in Fläschchen, und zeichnet Geruchslandkarten. Gäste riechen mit.

(Foto: Mc Lean)

Eine 2016 in der Fußgängerzone errichtete Skulptur zeigt Geoffrey Chaucer. Der Dichter der spätmittelalterlichen "Canterbury Tales" berichtet in seinen Erzählungen von den Erlebnissen einer Pilgergruppe auf ihrem Weg von London zu Beckets Grabschrein. Auf dem Sockel unter Chaucers Füßen sind 29 reliefierte Protagonisten aus seinen Erzählungen zu betrachten. Die Pilger tragen allerdings die Gesichtszüge heutiger Einwohner Canterburys. Es sind Sponsoren, die sich mit je 5000 Britischen Pfund an den Kosten für das Kunstwerk beteiligt haben. Einer davon ist der in Canterbury geborene Schauspieler Orlando Bloom. Während des Versuchs, ihn in der Bildhauerarbeit auszumachen, steigt der süße Duft gerösteter Erdnüsse eines Straßenverkäufers in die Nase. "Ist das nicht schön", sagt McLean, "so verbindet sich der Geruch von gebranntem Zucker mit dem Vater der englischen Literatur."

Die nächsten 15 Minuten gehören dem "Smell Hunting", für das man sich gezielt an Orte begibt, an denen man intensive Gerüche erwartet, zum Klostergarten hinter der Kathedrale etwa. Oder an die Sperrholzwände des provisorischen Welcome Centers. Canterburys Kathedrale ist eine große Baustelle. Das Dach des Kirchenschiffs wird derzeit restauriert, die beiden Westtürme sind eingerüstet. Dennoch bleiben genügend freie Stellen, um am sandfarbenen Kalkstein zu schnuppern. Ein paar Aufseher in blauen Uniformen eilen herbei. In all den Jahren habe er viel erlebt, aber dass jemand an den Mauern riecht, das dann doch nicht, murmelt einer kopfschüttelnd. Und riecht dann doch selbst mal dran.

Für das anschließende "Free Smelling" sucht sich jeder Teilnehmer ein übergreifendes Thema: vier unterschiedliche Ladeneingänge etwa. Und versucht, ihren Geruch nach Unterschieden und Übereinstimmungen einzuordnen. Einen so charakteristischen Geruch, dass sie ihn mit geschlossenen Augen erkennen würde, habe sie in Canterbury zwar noch nicht gefunden, berichtet McLean, in anderen Städten hingegen schon. Die Untergrundlinie Clockwork Orange in Glasgow etwa würde sie sofort am "dumpfig metallenen Schwammgeruch" identifizieren. Und das sommerliche Edinburgh am stets frisch geschnittenen Gras der Golfplätze mitten in der Stadt, vermischt mit den hefehaltigen Dünsten der Bierbrauereien.

Seit 2012 lebt Kate McLean in Kent, wo sie an einer der vier Universitäten Canterburys Grafikdesign unterrichtet. Sie wuchs in Hartfield auf, wo der "Pu der Bär"-Erfinder Alan Alexander Milne ein Wochenendhaus hatte. "Die erste Landkarte meines Lebens sah ich in seinen Pu-Büchern", erinnert sich Kate McLean. "Sie erschien mir real - ich konnte lange nicht zwischen fiktiven und echten Landkarten unterscheiden." Kein Wunder, hatte sich der Kinderbuchautor doch stark an den örtlichen Begebenheiten orientiert: "Ashdown Forest gibt es wirklich. Nur der Hundert-Morgen-Wald heißt eigentlich Fünfhundert-Morgen-Wald." Dieser Umstand habe großen Einfluss auf ihre Arbeit, so die Künstlerin: "Es ist doch beides möglich: Orte existieren. Oder entstehen, weil jemand sie erdenkt." Und genauso verhalte es sich mit ihren Smell Maps: "Auch Gerüche existieren. Und wenn man sie kartografisch festhält, wird eine neue Welt sichtbar."

Reiseinformationen

Anreise: Einstündige Zugfahrt von London St. Pancras nach Canterbury West (High Speed Ticket), ca. 39 Euro, www.southeasternrailway.co.uk; der Eintritt in die Kathedrale kostet ca. 14 Euro.

Übernachtung: Geschichtsträchtig und komfortabel: House of Agnes, Not an Ordinary Bed & Breakfast, ab 70 Euro/Nacht mit Frühstück, www.houseofagnes.co.uk.

Geruchstouren: Smellwalks können für Gruppen bis zu zwölf Personen auf Kate McLeans Website angefragt werden, www.sensorymaps.com/contact/, die Preise variieren je nach Art des Auftrags. Künftige, öffentliche Smellwalks werden ebenfalls auf ihrer Website angekündigt, wo es auch den "Smellfie-Kit" gibt.

Weitere Auskünfte: www.visitbritain.de

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