Süddeutsche Zeitung

Ende der Reise:Exotisches Wien

Die österreichische Hauptstadt leidet unter dem Ausbleiben der internationalen Touristen. Deshalb sollen nun die Wiener ihre Stadt besichtigen, und zwar zu Fuß. Und wer weiß, vielleicht entdecken sie dabei, dass sie es gar nicht so schlecht haben, wie viele von ihnen immer denken.

Von Hans Gasser

"Wie schön wär mein Wien ohne Wiener

Wie ein Hauch, der im All balanciert

Vielleicht gibt's wo a fesche Angina

Die ein Wohltäter hinexportiert."

Georg Kreisler, der große Meister des vergifteten Wienerlieds, muss es schon vor Jahrzehnten geahnt haben. Eine Seuche, so stellte er sich das vor, könnte die Wiener dahinraffen, und das wäre "ein Gewinn für den Fremdenverkehr". Nun ist es aber genau umgekehrt gekommen, wie von ihm herbeigesungen: Die Seuche ist vor allem ein Gewinn für die Wiener, zumindest für die Mehrzahl, die keine Hotelzimmer und keine Sachertorten zu verkaufen hat. Wien ist leer. Touristen aus Asien und Nordamerika fehlen in diesem Sommer ganz, europäische Touristen kommen nur langsam zurück, denn die meisten bleiben auch lieber in ihren eigenen Städten und an ihren eigenen Stränden, so verlockend das Strandbad Gänsehäufel an der Donau auch sein mag.

Während am Wörthersee auch noch die letzte Pritsche vermietet ist, sind viele Hotels in der Hauptstadt äußerst schlecht ausgelastet. Den Venezianern, Berlinern und Parisern geht es nicht anders. Aber nur in Wien werden auch die richtigen Schlüsse daraus gezogen: #tourismforlocals. Unter diesem Schlagwort gibt es nun Angebote, die den ewig grantelnden Eingeborenen ihnen unbekannte Seiten der eigenen Stadt näherbringen sollen. Im Rahmen der am 22. Juli beginnenden "Vienna Walking Week" sollen sie auf 14 Stadtspaziergängen etwa den Wein am Bisamberg, ein "Rosamunde-Pilcher-Gefühl" in der Freudenau oder die "eigenartigsten Wiener Kirchen" kennenlernen (spaceandplace.at).

Exotisches in der eigenen Stadt, das könnte ein Geschäftsmodell für die eben noch unter Overtourism, jetzt aber unter Undertourism leidende Städtetourismus-Industrie sein. München könnte seinen Bewohnern die Badeseen vom Hasenbergl zeigen, Berlin die Teilnehmer zu wirklich freundlichen Berlinern bringen und Paris die Seinigen zu Restaurants mit gutem, nicht überteuerten Essen führen. Ja, die fesche Angina, sie kann auch eine Chance sein, Kreisler wusste es:

"Weder Krankheit noch Genesung

Weder Fürsten noch Parlament

Wär für Wien nicht diese Lösung

Das perfekte Happy-End?"

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Quelle:
SZ vom 16.07.2020
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