Eine Nacht im "Geheimen Hotel" in London:Im falschen Film

Ein neues Hotel in London ist für Abenteurer gedacht, die "das Geheimnisvolle suchen", heißt es. Doch in der Realität stellt sich heraus: In diesem Hotel fühlen sich nur hartgesottene Cineasten wohl. Denn im "Shawshank Prison" sind die Wärter alles andere als freundlich. Ein Besuch.

Von Lena Jakat, London

Das Metallgerüst des Stockbetts quietscht bei der kleinsten Bewegung. Ein Mann schnarcht, eine Frau wimmert im Dunkeln. In der Nachbarzelle steht jemand an den Gitterstäben und ruft nach dem Wärter: "Ich muss mal!". An Schlaf ist nicht zu denken. Wie konnte ich nur in diesem "Hotel" landen?

Angefangen hatte alles mit einer so obskuren wie vielversprechenden Ankündigung: "Irgendwo in der Stadt wirst du ein geheimes Hotel finden." Ein Londoner Hotel "für alle, die Abenteuer und das Geheimnisvolle suchen". Zu lesen war dieser Hinweis auf den Internetseiten des "Secret Cinema". Dieses geheime Kino versteckt sich nicht in Londons stinkendem Kanalsystem. Es ist eine Produktionsreihe, die danach strebt, das Kinoerlebnis zu revolutionieren, den Film von der Leinwand in den Zuschauerraum zu holen: Die Menschen kleiden sich wie im Film und das Script wird in der Realität fortgeschrieben.

Denn der Spielfilm läuft nicht in einem Kino, sondern an einem Ort, der auch auf der Leinwand vorkommt. Viel mehr erfahre ich vorher nicht. Das Hotel, erklärt mir die Pressedame, sei sozusagen die Verlängerung des Kinokonzeptes. Wer nach Filmende nicht nach Hause will, für den geht das Drehbuch im "Hotel" weiter.

Am Tag vor der Vorstellung erhalte ich eine E-Mail. Absender ist ein "State of Oakhampton", ich werde als Hubert Mitchell angesprochen und soll Anzug, Krawatte und lange Unterhosen tragen - für meinen Termin vor Gericht. Am nächsten Abend treffe ich an der Bibliothek von Bethnal Green in Londons Osten auf Mitspieler, alle in Anzug und Krawatte. Manche Frauen haben sich sogar Schnurrbärte angeklebt. Vor dem Gebäude begrüßt uns ein Wachmann mit Schirmmütze. Im ersten Stock ist ein Wartesaal eingerichtet, Zeitungsseiten mit sperriger, altmodischer Schrift hängen an den Wänden. Eine Frau registriert uns auf einer Liste. Sie trägt biedere Kleidung im Stil der 1940er Jahre. Ist das hier das Gericht von Oakhampton? Wo soll dieser mysteriöse Staat überhaupt liegen? In den USA?

Bevor ich weiter über diese Fragen nachdenken kann, werde ich in einen düsteren Raum geleitet. Ein Richter, der aussieht wie der typische Bösewicht aus einer sehr alten US-TV-Serie (dicke Koteletten, gegelter Seitenscheitel), spricht Urteile im 30-Sekunden-Takt. "Ezron Kline - Überfall - drei Jahre", "Blair Stark - Anarchie - zwei Jahre", "Hubert Mitchell - illegaler Besitz - drei Jahre". Das war ich. Was ich gesetzeswidrig besessen haben soll, erfahre ich nicht.

Zusammen mit 20 anderen Verurteilten werde ich von Polizisten auf einen Hof geführt. Die Beamten tragen Abzeichen an den blauen Uniformen, Schirmmützen - und Schlagstöcke. Sie sprechen mit amerikanischem Akzent. Wir müssen in einen Oldtimer-Bus mit abgeklebten Scheiben steigen. Zehn Minuten fahren wir ins Ungewissen. Dann halten wir vor einem Gebäude wie aus einem Potter-Roman:

Spitze Türme, bunte Bogenfenster, geklinkerte Fassade. Und ziemlich düster. Drinnen, in einer Turnhalle, fordern uns Polizisten auf, unser Hab und Gut abzugeben und die Anzüge und Krawatten gegen graue Gefängnisgarderobe einzutauschen. "Willkommen im Staatsgefängnis von Oak Hampton!" Sie meinen es ernst. Wer sich den gebrüllten Anweisungen - "Ihr habt 30 Sekunden!" - widersetzt oder zu langsam ist, muss Liegestütze machen. Diese Polizisten wollen von der Bad-Cop-Sorte sein. Meine Jacke trägt die Nummer 127-220.

Ich sehe mich um. Einige andere Kinobesucher scheinen schon in ihrer Rolle aufzugehen, antworten mit amerikanischem Akzent und gespielter Unterwürfigkeit auf die Fragen des Wachpersonals. Andere hatten offensichtlich nicht erwartet, dass sie so viel mehr als nur Zuschauer sein sollen. Sie vertiefen sich in Zwiegespräche mit ihrer Begleitung und vermeiden ansonsten jeglichen Blickkontakt. Ich fange an, das "Gefängnis" - eine alte Schule, wie ich später erfahre - zu erkunden.

Die Inszenierung ist perfekt: Von der Schlägerei in der Wäscherei über den Häftling, der aussieht wie James Dean und mir in einer Zelle ein streng verbotenes Bier zusteckt, bis hin zu einer Sängerin, die in der Gefängniskapelle auftritt. Es gibt eine Kerzenzieherei, eine Krankenstation und einen Raum, in dem ein Begnadigungskomitee tagt. Mutige "Häftlinge" machen bei dieser Impro-Theater-Szene mit, weniger mutige sehen nur zu. Der Hof mit den Wachen, das abgesperrte Tor, die Gitterstäbe an den Zellentüren: Es sieht echt aus - und es fühlt sich echt an.

"Du bist neu hier, oder?", zischt es dicht an meinem rechten Ohr, und es klingt nicht freundlich. Ich schrecke vor dem Statisten zurück, der wie ich eine Gefangenenuniform trägt. Dann entdeckt ein Wärter die Flasche in meiner Hand.

"Was fällt Ihnen ein, Bier zu trinken?"

Er drängt mich gegen die kühle steinerne Wand, brüllt dicht vor meinem Gesicht: "Was ist das?" und reagiert mit noch mehr Geschrei auf meine ehrliche Antwort. Ich verstehe nicht alles, was er sagt, fühle mich überfordert. Spätestens jetzt würde ich gerne sagen: "Ich bin hier nur zu Besuch, und Sie sind übrigens der Gastgeber." Aber so läuft das Spiel nicht.

Nicht allen der 500 "Gefangenen" an diesem Abend macht das Spaß. Eine Frau mit französischem Akzent schluchzt unter Tränen: "Dafür hätte ich doch nie 40 Pfund bezahlt!". Ein anderer Kinobesucher versucht, sie zu trösten: "Ich bin Soldat und hatte mal ein Geiselnahme-Training. Denken Sie einfach daran: Das hier ist nicht real." Aber surreal.

Meine usprüngliche Abenteuerlust weicht einem Gefühl des Ausgeliefertseins. Wann beginnt der Film? Wo werden wir schlafen? Ich bin nicht die einzige, die erleichtert ist, als sich die fiktive Handlung wieder dort abspielt, wo sie hingehört: auf der Leinwand. Wir werden in die Turnhalle gebracht, in der wir vor wenigen Stunden zu Gefangenen geworden sind. Nun sitzen wir auf Klappstühlen, als Kinopublikum. Der Film beginnt. Es ist - die Cineasten unter meinen Mithäftlingen haben es längst erraten - The "Shawshank Redemption" ("Die Verurteilten"), ein Film von 1994, der sich um die Gefängnisfreundschaft zweier ungleicher Männer (Morgan Freeman und Tim Robbins) dreht.

Etliche Szenen lösen ein Dejà-vu aus: die Überführung des Hauptdarstellers in das Gefängnis von Shawshank, Morgan Freemans regelmäßige Anhörungen vor dem Begnadigungsausschuss, die Wäscherei, in der sich Wüstes zuträgt. Die Kinobesucher klatschen und johlen, mehr und lauter als in jedem anderen Kinosaal. Schließlich haben sie das gerade selbst erlebt. Besonders enthusiastisch ist der Applaus, als wir gleichzeitig mit den Häftlingen auf der Leinwand - für sie eine absolute Ausnahme - ein gekühltes Bier ausgehändigt bekommen.

Nach 142 Minuten ist das Secret Cinema zu Ende. Wer nur den Film gebucht hatte, bekommt seine Zivilkleidung zurück und wird aus dem Gefängnis entlassen. Für mich beginnt das Secret Hotel. Im zweiten Stock unseres Gefängnisses wird mir eine Zelle zugewiesen. Auf den Stockbetten liegen saubere Decken, Einwegzahnbürsten und Handtücher. Nicht, dass ich die Sammelduschen - deren Gefängnisstandard überzeugt - wirklich benutzen wollte.

Nach einigen Verhandlungen bekomme ich zumindest meine Tasche zurück und ich muss nicht in meiner Gefängniskluft schlafen. Dann aber sperrt "Officer Franky" die Tür hinter uns ab. Ich bin allein mit fünf Zellengenossinnn - unter anderem einer betrunkenen Niederländerin und ihrer englischen Freundin, die mit Swing-Klängen aus dem iPhone eine Zellenparty anzetteln wollen. Noch ehe ich sehe, wer auf der Matratze unten mir im Stockbett liegt, geht das Licht aus. Wie es sich für ein Gefängnis gehört.

Schlaflos auf meiner Pritsche, umgeben von schnarchenden, wimmernden und rufenden Häftlingen, stelle ich mir vor, dass statt "Shawshank" das "Best Exotic Marigold Hotel" gezeigt worden wäre oder meinetwegen "Nie wieder Sex mit der Ex". Dieser Film ist zwar nicht besonders anspruchsvoll. Aber er spielt zumindest in einem Luxusresort auf Hawaii.

13.500 Menschen wurden in London schon binnen fünf Wochen für einen Abend zum Sträfling. Wegen des großen Erfolgs wird die Secret-Cinema-Produktion zum Film "Shawshank Redemption" 2013 wiederholt: vom 10. Januar bis zum 12. Februar 2012.

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