Süddeutsche Zeitung

Kolumne: Hin und weg:Wo die E-Muffel leben

Von wegen urbane Mobilität: Auf dem Land sind besonders viele Stromer unterwegs. Warum ist das so?

Glosse von Joachim Becker

Gelsenkirchen, wir haben ein Problem. So hatten wir uns die Antriebswende nicht vorgestellt. Auch 25 andere deutsche Städte mit mehr als einer Viertelmillion Einwohner wie Dresden, Leipzig, Duisburg oder Bremen kommen nicht einmal auf einen Elektroauto-Anteil von einem Prozent. "Autostädte" wie Stuttgart oder München liegen hingegen deutlich über dem Bundesdurchschnitt von 1,17 Prozent. Sitzen dort also die modernen technikaffinen Menschen, während in Dresden und Gelsenkirchen lauter Elektro-Muffel wohnen?

Die aktuellen Zahlen des Kraftfahrtbundesamts lassen mehr Fragen offen, als sie beantworten. Sind viele E-Autos ein Beleg für mehr Klimabewusstsein - oder schlicht das Zeichen für eine höhere Kaufkraft? Viele Elektromodelle sind schließlich relativ neu auf dem Markt - und sie sind mit einem Preis von durchschnittlich mehr als 48 000 Euro auch relativ teuer. Oder ist das gar nicht so ausschlaggebend? Denn viele kleinere Städte schneiden im Ranking der reinen Stromer noch besser ab als die großen Ballungszentren.

Fragen über Fragen: Vielleicht haben die Kleinstädter bessere Lademöglichkeiten, auch weil sie häufiger am eigenen Haus und womöglich vom eigenen Solardach Strom tanken können? Billiger als an öffentlichen Ladesäulen ist das allemal und praktischer auch: Man hat ja immer einen freien Ladeplatz direkt vor der Haustür. Nur Leute mit Benzin im Blut wollen da lieber mit einem Verbrenner zur Tankstelle fahren.

Viele Großstädter gerade in den Trendvierteln müssen für den Ladestrom dagegen Schlange stehen. Das wird zum Geduldsspiel, wenn alle abends von der Arbeit kommen. Andererseits gibt es in Ballungsräumen mehr öffentliche Mobilitätsalternativen, weshalb die meisten gar kein neues Elektroauto brauchen.

In den Metropolen ist die durchschnittliche Auto-Fahrleistung pro Person am geringsten: Wer stellt sich in München schon freiwillig in den Stau - elektrisch oder nicht? Auf dem Land wird dagegen mehr gefahren. Weil es einfach nicht genügend öffentliche Verkehrsmittel gibt. Da ergeben E-Autos am meisten Sinn.

Der autofahrende Mensch ist eine der am besten vermessenen Spezies und trotzdem lässt er sich nur schwer fassen. Galt ein neues, frisch gewaschenes "heilix Blechle" in der Einfahrt einst als unverzichtbares Prestigesymbol, so ist der Auto-Fetisch nun ein eher gesunkenes Kulturgut. Wer mit einem hubraumstarken Verbrenner angeben will, outet sich als Klima-Ignorant. Und wer seine Kinder mit einem sündteuren E-Mobil in die Schule abliefert, beweist in der Regel auch nur - ja, was eigentlich? Dass Luxus-Konsum und hoher Ressourcen-Verbrauch irgendetwas mit Fortschritt zu tun haben?

Sind die Gelsenkirchener also nun für oder gegen den Fortschritt? Das werden wir an dieser Stelle nicht abschließend erörtern können. Klar ist nur, dass das Kraftfahrtbundesamt weiter seine Mehr-ist-mehr-Rankings aufstellt. Als müsse man die bestehende Pkw-Flotte möglichst 1:1 in Elektroautos umtauschen. 15 Millionen Stromer sollen bis 2030 hierzulande neu auf die Straßen kommen. So, wie es aussieht, werden es nicht einmal die Hälfte sein. Ist das jetzt gut oder schlecht? Es erscheint so, als ob wir mal wieder einen autofreien Sonntag bräuchten, um darüber nachzudenken.

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