Süddeutsche Zeitung

Drehorgeln in Mexiko-Stadt:Nostalgie auf der Walze

Aus Deutschland kamen die ersten Drehorgeln, bis heute erklingen ihre sentimentalen Melodien auf den Plätzen von Mexiko-Stadt und betören Passanten - solange die Organilleros ihr Instrument nicht mit einem Fleischwolf verwechseln.

Airen

Es ist ein milder Nachmittag in Mexiko-Stadt. Wie eine überdimensionale Hochzeitstorte steht der Palacio de Bellas Artes im historischen Zentrum der Millionenstadt, seine Marmorfassaden leuchten weiß wie Zuckerguss, die charakteristische Kuppel erinnert an Orangenbaiser. Die Mexikaner lieben die verspielte Architektur des Bauwerks, der Platz vor dem Kulturpalast ist ein beliebter Treffpunkt. Am Rand der Blumenrabatten küssen sich verliebte Paare, Touristen folgen den Ausführungen eines Stadtführers, ein Müllmann schiebt ein mit Plastiktüten überladenes Wägelchen über die Platten.

Aus diesem Gewirr der Stimmen und des Straßenlärms des nahe gelegenen Paseo de La Reforma schält sich ein vertrautes Geräusch. Es ist eine getragene, melancholische Melodie, die schwerfällig vor sich hin stolpert, ein paar schräge Töne dazwischen - und sie weckt Kindheitserinnerungen: nostalgische Bilder von Karussellen, der Duft von Zuckerwatte, verwackelte Filme in Schwarz-Weiß.

Eine stämmige Frau in Khaki-Uniform, einen Polizeihut auf dem Kopf, kurbelt auf einem Leierkasten eine alte deutsche Weise. Auf der Holzfront des Instruments steht ein verschnörkelter Schriftzug: Harmonipan. Frati & Co. Schoenhauser Allee 73 Berlin. Immer wieder bleiben Touristen stehen und fotografieren sie. Anders als in Deutschland, wo man Drehorgeln meist auf ein Fahrgestell montierte, balanciert die Frau das Instrument auf einem Holzstab. Sie wiegt es im Rhythmus der Musik, schwenkt es von links nach rechts und wendet es den Vorübergehenden zu.

Ein deutsches Original aus dem Jahr 1877

Die Frau heißt Mercedes, seit elf Jahren spielt sie hier auf dem Vorplatz des Palacio de Bellas Artes. Das schwere Instrument in der Hand, verdient sie so an sechs Tagen in der Woche ihren Lebensunterhalt. Aber auch wenn sie zunächst einen resoluten Eindruck macht, Mercedes ist sehr charmant. Stolz erzählt sie, ihr Leierkasten sei noch aus der Zeit von Porfirio Díaz, dem autoritären General, der Mexiko Ende des 19. Jahrhunderts regierte. "Dies ist ein deutsches Original", schwärmt Mercedes, "Soweit ich weiß von 1877."

Aber wer weiß das heute schon so genau? Denn die Geschichte der Leierkästen ist verworren. Ein Geschenk des Deutschen Kaisers sollen sie gewesen sein, nur durch Zufall seien sie von einem begeisterten Orchesterdirigenten verbreitet worden. Sicher ist, dass Ende des 19. Jahrhunderts die ersten deutschen Leierkästen in Mexiko auftauchten.

Zunächst wurden die Organillos, wie man die Drehorgeln in Mexiko nennt, nur auf den Festen der höheren Gesellschaft gespielt. Die ersten Exemplare stammten noch von der Firma Wagner y Levien, einer Pianowerkstatt zweier Einwanderer aus Hamburg, die in Mexiko nach deutschem Vorbild produzierten. Doch schon bald errang eine Berliner Firma die Marktführerschaft: das Unternehmen Frati & Co. Die Werkstatt wurde von Giovanni Bacigalupo geführt, einem italienischen Einwanderer. Mit Frati & Co. legte er 1873 in der Schönhauser Allee den Grundstein für ein Familienimperium, das in Berlin produzierte und Drehorgeln in alle Ecken der Welt versandte. Doch nirgends stieß das Instrument auf so viel Resonanz wie in Mexiko.

Der Legende nach übte das Orchester der zentralmexikanischen Stadt Guanajuato Anfang des 20. Jahrhunderts ein Stück ein, in dem auch ein Leierkasten Verwendung fand. Der Dirigent Pomposo Gaona soll vom Klang des Instruments so begeistert gewesen sein, dass er das Orchester verlassen und sich ganz der Drehorgel verschrieben haben soll. Er ließ sich von Frati & Co. eigene Exemplare anfertigen, die nun auch mexikanische Volkslieder spielten. Bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts hatte er 250 Leierkästen angesammelt, die er tagesweise an Straßenmusiker vermietete. Bald waren die Organillos ein alltäglicher Anblick im Straßenbild von Mexiko-Stadt. In die khakifarbene Uniform des Caudillos Pancho Villa gekleidet, erzeugten sie schon damals ein Gefühl der Nostalgie.

Auch Mercedes trägt diese Uniform, sie weist sie als Mitglied der Unión de Organilleros aus, einer Gewerkschaft, die sich seit 1975 um die Belange der Drehorgelspieler in Mexiko kümmert. Heute sind dort mehr als einhundert Drehorgelspieler organisiert. Mercedes hat ihr Organillo nur gemietet, für 100 Pesos am Tag. Jeden Abend bringt sie es zurück zu ihrem Patron, dem alten Don Odilón, dessen Geschichte wohl ebenso eng mit dem Organillo verwoben ist wie einst die des Dirigenten Pomposo.

Odilón Jardines Zarco wohnt in einer kleinen, bescheidenen Gasse im Stadtzentrum, nur wenige Straßen vom Palacio de Bellas Artes entfernt. Eine unscheinbare Tür führt in einen Innenhof, an dessen Ende sein Quartier liegt. Schon von draußen ist das Pfeifen eines Leierkastens zu hören. Nach dem dritten Klopfen verstummt die Melodie, eine mürrische Stimme bittet: "Herein."

Die erste Orgel auf Kredit

Drinnen ist ein mit Möbeln und Gerümpel zugestelltes Zimmer: Hier ein Altar für die Jungfrau von Guadalupe, dort ein gerahmtes Foto des Papstes, in den Regalen verstauben Porzellanfiguren, ein riesiges psychedelisches Ölgemälde hängt an der Wand, daneben Urkunden und Diplome, Fotos und Marienbilder, ein Stadtplan von Mexiko-Stadt. Und in der Mitte des Zimmers, mit dem Rücken zur Tür, sitzt Don Odilón, ein Mann Ende sechzig, ein umgedrehtes Baseballcap über den grauen Haaren, und kurbelt an einer Drehorgel.

Als er merkt, dass es sich bei dem Besucher nicht um einen Hausierer handelt, bietet Jardines Zarco einen Platz auf dem Bett in der Ecke an, legt sein Werkzeug beiseite, klappt das Organillo zu und erzählt seine Geschichte. Im Alter von sieben Jahren büxte er aus seinem Heimatdorf aus und machte sich auf den Weg nach Mexiko-Stadt. Er fand eine Bande von Kindern, die als Burritos für Drehorgelspieler arbeiteten, also mit einer Mütze in der Hand durch die Zuschauermenge gingen und Geld einsammelten.

Harte Zeiten waren das damals, man arbeitete für Kost und Logis. Als er älter war, durfte er selber spielen. Den ganzen Tag zog er umher, spielte vor Tankstellen, Metzgereien oder Schönheitssalons und am Tag der Toten auf dem Friedhof. Bald erwarb er das Recht, vor dem Palacio de Bellas Artes zu spielen, dem Wachmann gab er fünf Pesos am Tag. Während der Rezession 1987 kaufte er sich auf Kredit seine erste eigene Drehorgel, ein deutsches Original, für 15 Millionen Pesos.

Heute sagt er, dass er dieses Exemplar von all seinen Drehorgeln am meisten liebe. "Mehr als meine Kinder. Warum? Mit der habe ich meinen Kindern eine gute Ausbildung ermöglicht, damit habe ich meine ganze Familie ernährt." Er weist auf die Urkunden an der Wand: "Mein ältester Sohn ist Anwalt, ein anderer Arzt. Eine Tochter ist Lehrerin, eine Kriminologin. Ein Enkel von mir hat die Kaktustortilla für Diabetiker erfunden. Und das alles wurde nur durch dieses Instrument ermöglicht."

Bald verstand Odilón Jardines Zarco so viel von Drehorgeln, dass er befreundeten Spielern ihre Instrumente reparierte. Er kaufte seine zweite Drehorgel, ein mexikanisches Imitat, und vermietete sie. Heute nennt er sieben Drehorgeln sein Eigen, darunter zwei deutsche. Das Gerät, das er gerade repariert, stammt aus Guatemala. "Die wird bald den deutschen Konkurrenz machen", sagt Don Odilón, drückt einen kleinen Hebel nach oben und beginnt zu spielen. Die Ventile pfeifen und eine schwere Melodie breitet sich im Raum aus.

Plötzlich hält er inne. "Hier, schau mal, der tiefe Ton gefällt mir nicht." Er greift nach seiner Zange und klappt das Gerät auf. Eine weiße Walze kommt zum Vorschein. Auf ihr sind in einem wirren Muster winzige Metallbügel angebracht. An der Walze fehlen einige Zähne. Don Odilón drückt einen Bügel mit der Zange flach.

Was ist das Geheimnis eines guten Organilleros, Don Odilón? "Der Orgelspieler muss melancholisch sein. Er muss das Publikum anstecken. Manche Orgelspieler kurbeln, als wären sie beim Metzger und würden am Fleischwolf drehen. Und man muss das Publikum respektieren, denn von ihm lebt man." Odilón Jardines Zarco, seine Geschichte, sein ganzes Leben, das ist die Drehorgel. In sein Dorf ist er erst vor Kurzem wieder zurückgekehrt.

Auch heute spielt er noch auf der Straße. "Ich bin wie ein Esel", sagt er, "wenn ich drei, vier Tage mal nicht spiele, dann tut mir der Rücken weh. Dann nehme ich nachts um elf mein Organillo und gehe auf die Straße. Die Leute hier in der Colonia kennen mich schon und grüßen: Na, Don Odilón, können Sie mal wieder nicht schlafen?"

Auch wenn Don Odilón mit ganzem Herzen dabei ist, ist er eher ein kleiner Verleiher. Auch heute gibt es noch Patrones, die fünfzehn, zwanzig oder mehr Drehorgeln ihr Eigen nennen. Ihre Musiker stehen an den wichtigsten Schauplätzen der Stadt: Auf dem weiten Stadtplatz, dem Zócalo, in den pittoresken Pflastersteingassen des historischen Zentrums oder vor der Kirche von Coyoacán. Und auch außerhalb der Hauptstadt kann man ihre schleppenden Melodien hören: In Veracruz oder Guadalajara sind die deutschen Leierkästen ein alltägliches Bild.

Heute gibt es in keinem Land mehr Drehorgelspieler als in Mexiko. Und sie sind gern gesehen: "Wir Drehorgelspieler sind die Verwöhnten von Bellas Artes", hatte Mercedes gesagt und dabei über ihr Organillo gestreichelt. "Alle anderen Musiker und Schausteller hat man längst weggeschickt."

"Gott segne diese Deutschen"

In Deutschland ist diese Tradition längst nicht mehr so lebendig. Wann hat man schon das letzte Mal einen Leierkastenmann auf der Straße gesehen? Frati & Co. wurde 1912 geschlossen, der letzte Betrieb der Bacigalupo-Familie machte 1975 dicht. Mexiko hat nun die alte deutsche Tradition übernommen und in etwas Neues verwandelt. Auch hier ist das Organillo ein Instrument, das nicht nur Töne erzeugen, sondern auch Nostalgie hervorrufen soll. Die Khaki-Uniform des Caudillos erinnert die Mexikaner an die guten alten Zeiten der Revolution, die sentimentalen Melodien des Leierkastens an die Schmachtfetzen der Fünfzigerjahre. Heute ist die Drehorgel ein Bestandteil der mexikanischen Kultur, die deutsche Vorgeschichte gerät mehr und mehr in Vergessenheit.

"Gott segne diese Deutschen", gibt Don Odilón dem Besucher zum Abschied auf den Weg: "Ihr habt damals wahrscheinlich gar nicht geahnt, dass das Organillo eines Tages auch in anderen Ländern populär werden würde. Und dass Menschen wie ich ihre Familien davon ernähren werden." Und als er wieder an der Kurbel dreht und die Melodie nach draußen in den bunten Patio dringt, begreift man endgültig, dass der Leierkasten in guten Händen ist, dass dieser Klang irgendwie passt, hier in den Tropen, und dass er nun in Mexiko wohl wirklich seinen Platz gefunden hat.

Der Autor ist Blogger und Schriftsteller. Er lebt in Mexiko-Stadt

Informationen:

Anreise: Von vielen deutschen Flughäfen mit diversen Fluglinien nach Mexiko-Stadt, meist über Atlanta. Hin und zurück ab 688 Euro. www.billigflieger.de Unterkunft: El Patio 77, Mexikos erstes ökologisch nachhaltiges B&B, DZ mit Frühstück ab 55 Euro, www.elpatio77.com; Boutique Hotel de Cortés, in einem ehemaligen Augustinerkloster, DZ ab 120 Euro, www.boutiquehoteldecortes.com

Standorte der Drehorgelspieler: Zócalo, Palacio de Bellas Artes, Zona Rosa, Jardín Hidalgo

Weitere Auskünfte: Drehorgelgewerkschaft: www.organillerosdemexico.com; Mexikanisches Fremdenverkehrsbüro: Tel.: 0800/11112266, www.visitmexico.com

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Quelle:
SZ vom 25.10.2012/dd
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