Digital Detox im Espedalen:Warum es sich lohnt, eine Skitour in Norwegen zu wagen

Espedalen - Skitrekking

Was für den einen wie der schlimmste Urlaub der Welt klingen mag, ist für den anderen das Größte überhaupt: Skitrekking in den Weiten des norwegischen Fjells.

(Foto: Hauke Bendt)

Trekking im skandinavischen Schnee klingt fürchterlich anstrengend? Ist es auch. Aber es ermöglicht selbst Laien auf ganz besondere Weise, dem Gewohnten zu entfliehen.

Von Hauke Bendt

Heute bläst der Wind unentwegt und immer schräg von vorn. Der Atem gefriert an Schal und Kragen und die kleinen Eiskristalle, die durch die Luft fliegen, bleiben in den Haaren und Augenbrauen hängen, bis diese steifgefroren sind. Es hat nur knapp unter null Grad, aber der Wind lässt es viel kälter erscheinen. Er wirbelt den Schnee auf und die kleinen Flocken trüben die Sicht. Die neun Menschen auf Skiern, die schweigend hintereinander durch den Schnee gleiten, sind in einer Entfernung von vierzig oder fünfzig Metern schon nicht mehr gut zu erkennen. Obwohl die Sonne nicht zu sehen ist, blendet sie die Frauen und Männer, weil das Licht von allen Seiten reflektiert wird.

Sie tragen Sonnenbrillen, um nicht ständig die Augen zukneifen zu müssen. Weil man den Horizont nicht sehen kann, ist die Orientierung schwierig. Der Wind weht die Skispur des Vordermanns sofort wieder zu. Damit niemand verloren geht, bleibt die Gruppe dicht zusammen. Einer hinter dem anderen. Es ist noch früh am Morgen auf der fünftägigen Tour in Norwegen, mit etwas Glück wird das Wetter im Lauf des Tages besser. Hier oben im Espedalen geht das oft sehr schnell. Wenn die Sonne zum Vorschein käme, würde es auch spürbar wärmer.

Espedalen, so heißt ein Tal etwa 60 Kilometer nordwestlich von Lillehammer und 30 Kilometer von Ringebu entfernt. Im Westen reicht es bis an den Jotunheimen Nationalpark heran. Die Tourengänger sind zwischen Anfang 30 und Ende 50. Fünf Niederländer sind seit der Schulzeit eine Clique, die jedes Jahr ein paar gemeinsame Tage verbringt - dieses Mal beim geführten Skitrekking. Fred, noch ein Niederländer, ist weit über Fünfzig und damit der Gruppenälteste. Er war aber gerade erst auf dem Kilimandscharo und ist damit nicht zu unterschätzen. Die beiden Guides, Paul van Koppen und Christoffer Stange haben alles organisiert; die Anreise, die Lebensmittel, die Hütten und all die wichtigen Kleinigkeiten, die es zu beachten gilt.

Sie kennen sich mit Trekking-Touren unter winterlichen Bedingungen aus, sie waren schon oft bei tiefen Minusgraden in Norwegen, Spitzbergen und Grönland unterwegs. Vor ein paar Jahren haben sich die beiden bei einer Überquerung des Grönländischen Eisschildes kennengelernt. Damals teilten sie sich drei Wochen lang ein Zelt. Während dieser Expedition wuchs nicht nur ihre Freundschaft, sondern auch die Idee, gemeinsam einfache Touren für Wintertrekking-Laien anzubieten. Und mit dieser Gruppe haben sie tatsächlich einige Neulinge zusammengebracht. Jeder der Niederländer war vorher schon mal ein paar Tage mit dem Rucksack unterwegs und jeder stand auch früher schon mal auf Skiern. Aber eine mehrtägige Wintertrekking-Tour auf breiten "Backcountry"-Langlaufskiern, von Hütte zu Hütte und mit Proviant für die gesamte Zeit auf dem Rücken, das ist neu.

Jeder hier geht im normalen Leben einem Bürojob nach und sitzt täglich viele Stunden vor dem Computer: Architekten, Ingenieure, Banker, Programmierer und zwei Doktoranden. Nur Christoffer ist in Oslo Sozialarbeiter. Er kümmert sich um Obdachlose, Junkies und Alkoholabhängige. Es ist ihm anzumerken, dass er viel mit Menschen arbeitet. Er hat immer jeden Einzelnen der Gruppe im Blick und passt auf, dass alle gut mitkommen. Er ist freundlich und fürsorglich, fordert aber auch das Einhalten gemeinsamer Regeln ein.

Alle anderen sind in ihren Jobs einer ständigen Flut von Informationen ausgesetzt: Großraumbüros, Telefonate, Meetings, Mails, Twitter und Facebook. Jeder erhofft sich von den nächsten Tagen Ruhe, Freiheit und vielleicht sogar ein bisschen Abenteuer ohne To-do-Listen. Mobiltelefone würden hier draußen zwar funktionieren, aber die Batterien halten in der Kälte nicht lange durch. Also bleiben die Geräte in den Rucksäcken und geben nur das Gefühl, theoretisch jederzeit jemanden anrufen zu können. Ein "digital detox", das reduzierter ausfällt als gedacht - in den Hütten unterwegs gibt es keinen Strom. Es gibt nur das Hier und Jetzt und die Natur ringsherum. Sehr viel Natur.

Mit einem großen und schweren Rucksack Ski zu fahren, ist anfangs nicht leicht. Wer hinfällt, liegt wie ein Käfer auf dem Rücken und kommt allein kaum wieder auf die Beine. Ohne Schnee ist das schon schwierig, aber auf dem weichen Untergrund ist es fast unmöglich. Gut, wenn der Hintermann seitlich heranfährt und eine helfende Hand reicht, an der man sich hochziehen kann. Die Idee, sich mit den Skistöcken hochzuschieben, sollte man besser nicht ausprobieren. Hier draußen im Fjell kann man keinen Ersatz für verbogene oder gebrochene Stöcke bekommen. Und mit nur einem Stock will man nicht mehrere Tage unterwegs sein. Mehrere Tage in einer Landschaft, in der alles weiß ist, in der kaum Bäume stehen und in der ein ständiger Wind versucht, einem die Wärme aus dem Körper zu blasen, da sollte man seine Ausrüstung behandeln wie einen Schatz.

Espedalen - Skitrekking

Im Tiefschnee wieder allein auf die Beine zu kommen, ist nicht einfach - gut wenn man in der Gruppe unterwegs ist.

(Foto: Hauke Bendt)

Alle gehen hintereinander jeweils in der Spur des Vordermannes. So kann man Kraft sparen, weil die Skispur immer besser wird, je weiter hinten man in der Gruppe läuft. Weil Christoffer keinen Rucksack trägt, sondern alles in einer Pulka hinter sich herzieht, ist er immer das Schlusslicht. Mit seinem Schlitten würde er die frische Spur für die anderen kaputt machen. Wenn keiner redet, hört man nur das gleichmäßige Geräusch der Skier im Schnee und den eigenen Atem. Es ist eine ruhige und rhythmische Bewegung, die in der Ebene nicht besonders anstrengend ist, anfangs etwas Übung erfordert, aber recht schnell in Fleisch und Blut übergeht und dann von ganz allein abläuft. Man schaut auf die eigenen Skispitzen und lässt die Gedanken schweifen. Irgendwann denkt man nicht mehr nach und das Gleiten wird zur Meditation.

Aber nicht nur die Bewegung folgt einem eigenen Rhythmus. Auch der Tag ist getaktet. Und dieser Takt sieht nach jeder Stunde eine Pause von zehn Minuten vor. Mittags gibt es eine etwas längere Rast von dreißig Minuten. Diese Zeiten sind nicht verhandelbar. Einer in der Gruppe trägt täglich die Verantwortung dafür, dass sie eingehalten werden. Diese Regel haben Christoffer und Paul aus Grönland mitgebracht. Sie wirkt anfangs etwas merkwürdig, starr und unflexibel wie sie ist. Aber nach kürzester Zeit wird klar, dass sie insbesondere den Schwächeren der Gruppe eine enorme Sicherheit gibt.

So weiß jeder, wann er Zeit hat, eine Jacke an- oder auszuziehen, etwas zu trinken und zu essen oder andere Bedürfnisse zu stillen. Jeder kann sich darauf einstellen und es gibt nie Diskussionen. Niemand muss um eine Pause bitten oder das Gefühl haben, den Rest der Gruppe aufzuhalten. Ist eine Stunde vorüber, gibt es eine Pause, so ist das eben. Während dieser Pausen schnallen alle kurz die Skier ab, ziehen eine warme Jacke über und setzen sich auf die Rucksäcke, mit dem Rücken zum Wind. Jeder hat für jeden Tag einen Rationsbeutel im Rucksack mit ein paar Keksen, Schokolade, Nüssen, Gummibärchen und auch etwas Käse und Wurst, dazu Tee aus der Thermoskanne. Die Rationen wurden am Abend vor dem Abmarsch gemeinsam abgewogen, verpackt und verteilt.

Jeder hat also die gleichen Dinge in seiner Tüte und bei jeder Rast floriert der Tauschhandel: Nüsse gegen Käse, Schokolade gegen Wurst. Wer mal austreten muss, steht einfach auf und geht zehn Meter hinter die Gruppe. Die weiß, dass sich jetzt niemand umzudrehen hat. Weil es hier kaum Büsche oder Bäume gibt, ist das die einzige Möglichkeit für ein wenig Privatsphäre. Aber ohnehin ist jeder damit beschäftigt, die leeren Kalorienspeicher zu füllen und sich am Tee zu wärmen. Nach zehn Minuten sind alle wieder abmarschbereit und es geht weiter. Aus dem Takt kommt selbst in der Pause keiner.

Und dann verändert sich der Blick

Auch wenn es nachts immer sehr kalt ist und die tiefstehende Sonne lange braucht, um hinter den Hügelkuppen hervorzukommen, so wird es bei klarem Himmel um die Mittagszeit doch so warm, dass der Schnee aufweicht. Er klebt unter den Skiern und das Gehen wird mühsam. Immer wieder müssen die Skier deshalb kurz nachgewachst werden. In Bewegung braucht man jetzt keine dicke Jacke mehr. Es reicht eine dünne Weste über einem langen Unterhemd und während der Pausen eine dünne Daunenjacke. Es ist besser, sich nicht zu warm anzuziehen: Schwitzt man zu stark, wird die Kleidung klamm. Das ist gefährlich, dann friert man schon bei einer kleinen Pause.

Je länger die Skiwanderer hier draußen sind, ohne Musik, Verkehr, Werbung und Internet, desto ruhiger werden sie. Sie fangen an, Details zu bemerken und Kleinigkeiten zu entdecken. Schnee sieht immer etwas anders aus, alle Steine haben verschiedene Farben und sogar die Luft und das Licht verändern sich. Durch die Stille bekommt der Wind eine Stimme und jeder einzelne Vogel ist zu hören. Auch der Geschmack wird intensiver und die Wertschätzung für scheinbar simple Dinge wächst. Ein einziges Stück Schokolade schmeckt am fünften Tag einer solchen Tour hundert Mal besser als zuhause auf dem Sofa. Und es schmeckt nicht nur viel besser, auch die Energie der Kalorien ist sofort zu spüren.

Obwohl das Espedalen nur etwa 60 Kilometer von Lillehammer entfernt ist und ringsum auch andere Orte liegen, ist die Umgebung sehr abgeschieden. Nur die roten Wegmarkierungen auf den großen Steinen und eine einsame Oberlandleitung am Horizont vermitteln das Gefühl, nicht ganz am Ende der Welt zu sein. Obwohl überall Schnee liegt, keine Bäume wachsen und nur vereinzelt ein Vogel zu sehen ist, wirkt die Landschaft nicht tot oder unwirtlich. Immer wieder kreuzen Spuren im Schnee den Weg: erst die eines Schneehasen, kurz darauf die eines Fuchses und dann einer Maus. Auch Schneehühner gibt es hier. Man sieht nicht nur ihre Spuren, sondern auch die Tiere selbst. Sie sind mit ihrem weißen Wintergefieder zwar gut getarnt, wenn man sie aber überrascht, flattern sie hektisch auf und schimpfen laut. Nur Elche gibt es hier oben im Fjell nicht, die halten sich lieber weiter unten auf, wo sie sich zwischen Bäumen verstecken und Äste und Blätter fressen können.

Gegen Abend steuert die Gruppe Hütten des norwegischen Wandervereins DNT an, die überall in Norwegen stehen. Es gibt sowohl große bewirtschaftete Unterkünfte als auch eine Vielzahl von kleinen Selbstversorgerhütten, 490 Stück über Norwegen verstreut. Als Mitglied des DNT kann man sich den Nøkkel, einen Generalschlüssel, leihen und damit alle Hütten im Land nutzen. Bezahlt wird die Unterkunft ohne Bargeld. Vordrucke für Lastschrift oder Kreditkartenzahlung liegen bereit und können in der Hütte hinterlassen werden. Vertrauen ist hier draußen sehr wichtig - und schaut man sich den guten Zustand der Hütten an, scheint es nicht missbraucht zu werden.

Espedalen Skitrekking

Die Hütte Storkvelvbu, etwa eine Stunde vor Sonnenaufgang. Noch liegt jeder im warmen Schlafsack, draußen hat es -20° Celsius.

(Foto: Hauke Bendt)

Direkt nach der Ankunft muss zuerst ein Feuer im Ofen entfacht und Schnee für Teewasser und Suppe geschmolzen werden. Sind alle Thermoskannen mit heißem Wasser gefüllt, gibt es Abendbrot. Das besteht aus Chicken Masala, Kabeljaueintopf oder Pasta Bolognese : gefriergetrocknete Expeditionsnahrung, die in vakuumierten Portionsbeuteln zu jeweils 600 Kalorien eingeschweißt wurde. Es gibt auch ein paar vegetarische Geschmacksorten. Die Beutel werden oben geöffnet und bis zur Markierung mit heißem Wasser gefüllt. Nach fünf bis zehn Minuten wird direkt aus der Tüte gegessen. Je nach Sorte schmeckt es wirklich gut, und das liegt nicht nur an der Anstrengung des Tages. Manche der Gerichte lassen sich mit ein paar Rosinen, Nüssen oder der Rentierwurst von Christoffer verfeinern.

Alle sitzen jetzt dicht gedrängt um den Tisch. Da es in den Hütten keinen Strom gibt, brennen neben dem Ofen ein paar Kerzen. Es ist ein etwas skurriles Bild, da jeder mit seiner Stirnlampe den Dampf anleuchtet, der aus dem eigenen Essensbeutel aufsteigt. Es wird dunstig, das Kondenswasser gefriert an den Fensterscheiben. Nach dem Hauptgang gibt es Kaffee oder Tee und einen kleinen Nachtisch. Jeder hat von zuhause für den Rest der Gruppe seine Lieblingssüßigkeit mitgebracht. Es gibt also jeden Abend etwas anderes: Honigwaffeln, Gummibärchen, Schokolade oder Bananenbrot. Man erzählt vom vergangenen Tag oder von früheren Reisen, es wird viel gelacht. Ab neun oder zehn Uhr wird es ruhig in der Hütte. Alle sind müde und freuen sich auf den Schlafsack. Vorher muss noch einmal Holz nachgelegt und der Topf auf dem Ofen mit Schnee gefüllt werden. Dann wird es still. Man hört nur noch das Knacken des Feuers und ein vereinzeltes Schnarchen in der Dunkelheit.

Nachts wird es draußen so kalt, dass beim Atmen die Härchen in der Nase zusammenfrieren. Der Wind pfeift um die Hütte, der Himmel ist sternenklar und das kleine Thermometer draußen vor der Fensterscheibe zeigt zwanzig Grad minus an. Zum Plumpsklo sind es gut 50 Meter, die nachts mindestens doppelt so weit erscheinen. Mit einem tiefen Schlaf gesegnet zu sein, bekommt da eine viel größere Bedeutung als sonst. Christoffer nimmt sich abends vorsichtshalber eine leere Flasche mit in den Schlafsack.

Espedalen - Skitrekking

Das Plumpsklo steht 50 Meter von der eigentlichen Hütte entfernt. Pech für den, der nachts häufig raus muss.

(Foto: Hauke Bendt)

Wer morgens als erster aufsteht, kümmert sich um das Feuer im Ofen, das über Nacht ausgebrannt ist. Zum Frühstück gibt es Kaffee, Tee und Haferflocken mit Rosinen, die mit Milchpulver und heißem Wasser aufgegossen werden. Während des Frühstücks wird weiter unentwegt Schnee geschmolzen und das heiße Wasser in die Thermoskannen umgefüllt. Kurze Zeit später setzt sich die Gruppe mit den großen Rucksäcken wieder in Bewegung. Immer einer hinter dem anderen her, erst steif, dann lockerer, im gleichen ruhigen Rhythmus wie an den Tagen zuvor. Nach einer Stunde gibt es die erste Pause, einen Schluck heißen Tee, ein Stück Schokolade, mehr braucht es nicht. Dann geht es weiter, eine Stunde lang, Schritt für Schritt, ohne Unterbrechungen, durch eine Welt schneebedeckter Hügel. Ab und zu flattert ein Schneehuhn auf. Ansonsten: kein Lärm, kein Stress, keine Ablenkung bis zur nächsten kurzen Rast.

Als die Gruppe am letzten Abend in der Hütte gemeinsam um den warmen Ofen sitzt, Tee trinkt, Süßigkeiten teilt und über die vergangenen Tage redet, surrt plötzlich etwas in einer Jacke. Paul holt sein Smartphone aus der Tasche und ruft: "Ich habe drei Balken, schnell, ich poste ein Bild auf Facebook, sagt mal alle Cheese!" Wenig später checkt jeder für sich Mails, schreibt und empfängt Whatsapp-Nachrichten und kontrolliert die Abflugzeiten am Folgetag. Zeit, sich Fotos der einsamen, verschneiten Fjell-Landschaft genauer anzusehen. Und auf Instagram zu posten: #digital_detox

Die Etappen der Tour auf der Karte

Informationen

Etappen:

Hütten/Unterkünfte/Links:

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: