Die grüne Seite von New York:Honig aus den Wolken

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Sein Arbeitsplatz liegt hoch über den Schluchten aus Glas, Stahl und Beton: Ein Imker und seine Bienen - zu Hause auf Manhattans Dachgärten

Helge Sobik

Manchmal arbeitet David Graves in den Wolken. Meistens schaut er hinab auf den Rest der Welt, auf die Häusertürme unter sich, auf Balkone, hinein in die Canyons aus Glas, Stahl und Beton, hinunter auf Heerscharen gelber Taxidächer tief unten in den Straßen.

New York
:"Big Apple"

Fluchtpunkt, Moloch, Faszination - die Stadt, die niemals schläft und ihre vielen Gesichter.

Der Mann mit dem steifen weißen Mantel aus festem Stoff, dem breitkrempigen Hut und dem engmaschigen Netz vor dem Gesicht ist schwindelfrei. Er kann gut klettern, steigt mit seiner dunkelblauen Umhängetasche über Feuerleitern und Fenstersimse, hangelt sich viele Stockwerke über dem Boden um Fassadenecken, um in ausgesprochen luftiger Höhe vom einen Flachdach auf den nächsten Dachvorsprung zu steigen - all das, um zu seinen Beschäftigten zu gelangen.

Ursprünglich hatte Graves, inzwischen Mitte fünfzig, studiert, um Lehrer zu werden, am Ende ist er nicht Studienrat, sondern Fahrlehrer für Schulbusse geworden, später Autohändler. Vor ein paar Jahren hat er eine Marktlücke entdeckt, noch mal umgesattelt, das langjährige Hobby zum Beruf gemacht und seine dritte Karriere begonnen: Jetzt beschäftigt Graves mehr als eine Dreiviertelmillion Mitarbeiter in New York.

Der Mann ist professioneller Imker, der Einzige in Manhattan. Auf seinen rechten Ärmel ist ein gelber Stern genäht, der Schriftzug "Sheriff Beekeeper" eingestickt. Im Reich der New Yorker Bienen ist er der Oberaufseher. Dreizehn Völker gehören ihm, jedes rund 60 000 Bienen stark.

Und damit niemand stören kommt, stehen seine Bienenstöcke für Uneingeweihte fast unauffindbar auf den kahlen, umständlich erkletterbaren Dächern von Hotels- und Geschäftshäusern vor allem Lower Manhattans - oder mitten im üppigen Grün privater Dachgärten.

"Vor fast zehn Jahren, als alles begann", erzählt er, "habe ich per Aushang sozusagen Adoptiveltern für meine Bienenvölker unter den Besitzern der größten, schönsten, blühendsten Dachterrassen gesucht - und schnell einige gefunden."

Er entlohnt sie seither Jahr für Jahr für ihre Gastfreundschaft mit ein paar Gläsern Honig. Und sie nehmen im Gegenzug gerne hin, auf ihren Liegestühlen viele Stockwerke hoch über Irving Street, Park- und Fifth Avenue fortan vorsorglich keine roten Kleidungsstücke bei der Dach-Gartenarbeit, beim Grillabend mit Freunden oder beim Päuschen im Liegestuhl zu tragen. "Die Bienen mögen diese Farbe nicht, könnten sich gereizt fühlen. Ansonsten sind sie sehr friedlich. Und obendrein ist die Anwesenheit der empfindlichen Insekten ein Beweis, dafür, dass die Luft hier bei uns in Ordnung ist."

Manhattan ist grün, blüht rot, gelb, weiß, duftet je nach Jahreszeit nach Tulpen, Narzissen und Rosen, nach Ringelblumen und Löwenzahn - zumindest in luftiger Höhe.

Neben den kleinen Stadtteil-Parks, den oft üppig bewachsenen Innenhöfen der Wohnstraßen Lower Manhattans und vor allem dem fast 470 Fußballfelder großen Central Park gibt es Schätzungen zufolge mehr als eine Viertelmillion Dachterrassen-Quadratmeter. Sie sind die privaten Zufluchts- und Rückzugsgebiete der reicheren Bürger der Stadt und gehören oft zu den teuersten Penthouse-Wohnungen, sind Kleingartenidyll im Großstadtdschungel, wo jeder Privatheit pflegt und sich ungesehen bewegen will.

Bildstrecke
:Central Park - eine Oase in New York

Filmkulisse und Naherholungszentrum in einem. Was wäre New York ohne diesen Park?

Obwohl Zehntausende Augenpaare aus der Anonymität der häufig noch höheren Nachbarhäuser über jeden Flechtzaun und jeden Topf, jede Kletterrose und jede Pflanzkübel-Allee voller Zypressen dort oben hinwegschauen können.

Die Stadtverwaltung fördert jedes erdenkliche Grün in New York - hoch oben ebenso wie auf Straßenniveau. Wer bauen will und eine begrünte Freifläche am Boden schafft, zum Beispiel eine Ecke des Grundstücks ausspart, darf ein paar Stockwerke höher hinaus. Die Regelung gilt seit 1961 und hat New York etliche außerordentlich hohe Wolkenkratzer beschert - und zusätzliche Grünflächen.

Es werden immer mehr, seit den Stadtvätern bewusst wurde, dass sie über 930 Kilometer Fluss- und Meeresufer gebieten. Wo immer dort Industrie weicht und Brachland verfügbar ist, entstehen Uferwege, Wiesen und weitere Parks.

David Graves Bienenvölker jedenfalls fühlen sich wohl in der grünen Zwischenwelt New Yorks, sind vom Frühjahr bis zum Spätherbst im Dauereinsatz. Drei- bis viermal im Jahr kann er "ernten", alle drei bis vier Wochen klettert er im Sommer selbst zu den abgelegensten Bienenstöcken, wöchentlich schaut er im Frühjahr nach seinen Schützlingen.

Was seine fleißigen Arbeiter produzieren, verkauft er später viele Stockwerke tiefer in Vierzig-Gramm-Gläschen jeden Montag, Mittwoch und Samstag auf dem Union Square Farmers Market: "Du kannst dem Honig ansehen, aus welcher Jahreszeit er stammt. Und du kannst es schmecken. Im Frühsommer ist er hell, leicht, und Richtung Herbst wird er immer dunkler, schwerer, kräftiger im Geschmack, immer karamelliger."

Millionenstadt, Verkehrslärm, Autoabgase hin oder her: David geht davon aus, dass sein Honig besonders sauber und gut verträglich ist: "Weil hier nicht großflächig gespritzt wird wie auf dem Lande, keine Pestizide im Einsatz sind." Sogar ein spezielles Etikett mit Wolkenkratzer-Skyline hat er inzwischen designen und die Marke schützen lassen: "New York City Rooftop Honey".

Wildman Steve Brill braucht unterdessen kein Etikett, macht sich nicht allzu viel aus Honig und hat nichts zu verkaufen - aber ein Markenzeichen: Der Mann spaziert bei jedem Wetter mit Tropenhelm durch den Central Park und behauptet, dass man sich ausschließlich von dem ernähren könne, was in diesem Riesen-Stadtpark wachse, von Blättern, Kräutern, Blüten, Pilzen.

Der Versuch, den Beweis anzutreten, hatte ihm einen kurzen Gefängnisaufenthalt eingebracht: "Ich wurde verhaftet wegen Aufessens des Central Parks." Er lacht inzwischen darüber. Offiziell ist es verboten, Pflanzen im Park aus- oder abzureißen, und Sara Cedar Mills vom Central Park Conservancy Board ist bis heute nicht gut auf Brill zu sprechen.

Als die Zeitungen über ihn berichteten, war er von einem Tag auf den anderen berühmt, ein Held sogar, Liebling der New Yorker. Er, sagen viele, hat den Einheimischen mit seiner Aktion klargemacht, wie grün ihre Millionenmetropole eigentlich ist. Heute bietet er Survival-Führungen durch diese Lunge der Stadt an, darf ganz offiziell Blätter abreißen - zu Versuchszwecken und limitiert auf eines pro Pflanzenart und Besucher.

Gleichzeitig doziert er über die kulinarische Pracht des Central Parks, lässt sich von seinen Besuchern mit "Wildman" anreden - und freut sich, wenn wildfremde Passanten ihn erkennen und ganz selbstverständlich "Hi, good morning Wildman!" herüberrufen.

Sara unterdessen hat Sorge, dass er allzu viele Nachahmer findet, die wie Heuschrecken über den Park herfallen und Büsche kahlfressen könnten - und womöglich auch über ihre geliebte Wildblumenwiese am Nordende. Manchmal sitzt sie dort im Gras, schaut den Bienen von David Graves zu, wie sie in den geöffneten Blütenkelchen tanzen, lauscht dem Surren der Insekten und nimmt das Hupen der Taxis auf den Avenues links und rechts des Parks nur noch als subtiles Geräusch aus der Ferne wahr. Nur wenn mal eine Fahrradklingel schellen sollte, schreckt sie kurz aus ihren Großstadtträumen auf.

Die New Yorker sind süchtig nach Grün, lieben auch die Lilienteiche im Botanical Garden Brooklyn - und sie sind ganz wild auf den Rooftop Honey: "Ich könnte viel mehr davon verkaufen, habe aber diese Mengen nicht. Deshalb muss ich meine Ware über den Preis steuern", sagt David. Nebenbei verdient er nicht schlecht daran. Drei Dollar nimmt er für ein kleines Glas, zwölf für ein großes - viel Geld für Honig.

Und trotzdem bleibt die Nachfrage stattlich. Sogar Bill Clinton, der sein Büro im New Yorker Stadtteil Brooklyn hat, zählt zu den Fans: Clinton ist begeistert von dem Honig mit dem besonders karamelligen Geschmack, wollte den Imker aus der Wolkenkratzerstadt unbedingt kennenlernen, legte ihm fürs gemeinsame Erinnerungsfoto freundschaftlich den Arm um die Schultern - aber mit auf die Dächer steigen und die Bienen besuchen, das wollte er dann doch lieber nicht.

© SZ vom 22.3.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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