Deutschland-Reisen:Das Leben ist eine Baustelle

Das höchste Gebäude, die schnellsten Verkäufer und ein paar extreme Geschmacksverirrungen: Ein Besuch am windigsten Ort Berlins.

Christian Mayer

Pharaonengrab mit Massenwirkung

Berlin-Alexanderplatz, Georg Moritz
(Foto: Foto: Georg Moritz)

Am südöstlichen Ende des Alexanderplatzes erstreckt sich ein Gebäude, das zu den großen Scheußlichkeiten Berlins gehört. Beim "Alexa" handelt es sich um einen Einkaufstempel, über den der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit vor kurzem öffentlich erschrak, obwohl er nur wenige Gehminuten davon entfernt im Roten Rathaus residiert und die Planungsphase verfolgt haben müsste.

"Pharaonengrab" haben die Berliner das fünfstöckige Monstrum getauft, dabei behaupten die Betreiber ernsthaft, über eine Art-Déco-Fassade zu verfügen. Es ist verblüffend, wie viele Menschen in so ein Grab hineinpassen; bis zu einer Million Besucher zählt der Komplex mit seinen 180 Geschäften im Monat.

Kürzlich gab es eine Art Konsumkomödie im "Alexa". Es war ein Samstagnachmittag, aus den Lautsprechern dröhnten Opern-Overtüren, und 24 leicht bekleidete Mädchen paradierten auf einer Bühne im Erdgeschoss. Um sie herum treue Anhänger und sehr viele Neugierige, die unbedingt mal eine leibhaftige Miss Ostdeutschland sehen wollten.

Nichts gegen die schlanken Figuren, nichts gegen die blauen Bikinis und die kunstvoll arrangierten Paris-Hilton-Frisuren, doch die eigentliche Sensation war die Schönheits-Jury, die sich aus dem lokalen Chef einer Elektronikkette, den Nofretete-haft geschminkten Vertreterinnen einer Kosmetikmarke und ein paar verdienten Lokalradio-Chefs zusammensetzte.

Selbstverständlich dient so eine Ossi-Miss-Wahl dazu, den Umsatz im Pharaonengrab weiter anzukurbeln, die Geschäfte laufen ja ohnehin gut, auch im Eiscafé Angelina ist von Konsumkrise nichts zu spüren. Im "Food Court" hat man die Wahl zwischen 26 Sorten Fritten, Glasnudeln und mexikanischen Burritos; das offenbar vollkommen ausgehungerte Publikum sitzt zwischen leeren Liter-Pappbechern und ausgepackten Plastikfolien. Man sieht, es schmeckt.

Architekturkritiker haben das großspurige und zugleich befremdlich provinzielle "Alexa" als größtmöglichen Unfall der neueren Baugeschichte Berlins bezeichnet, aber das ist den Leuten, die hier ihr Schnäppchen suchen, piepegal. Die Berliner Konsumenten haben das "Alexa" längst ins Herz geschlossen.

Lesen Sie weiter über den täglichen Konkurrenzkampf der Wurstverkäufer am Alex.

Das Leben ist eine Baustelle

Wurst für Wurst, Mann gegen Mann

Berlin-Alexanderplatz, Georg Moritz
(Foto: Foto: Georg Moritz)

Wurstverkäufer Christopher Janes wartet vor der U-Bahn-Treppe auf Kundschaft. Er trägt seinen Bauchladen vor sich her, Leergewicht 15,5 Kilo. Auf dem Rücken hängt sein Flüssiggastank, damit der Grill stundenlang heiß bleibt.

1,20 Euro kostet die Wurst bei Janes, sie muss billiger sein als nebenan im Bahnhof Alexanderplatz. Ein guter Grillwalker schafft ein paar hundert Stück am Tag, aber dazu muss er für seine Sache werben wie einst Franz Biberkopf für seine Schlipse. Ein wenig hilft dabei, dass so ein Grillwalker oder Grillrunner mit seiner Panzerung mitten im Leben steht und den hungrigen Angestellten direkt am U-Bahn-Eingang auflauern kann.

Inzwischen ist am Alexanderplatz ein wahrer Wurst-Krieg ausgebrochen, weshalb der ursprüngliche Erfinder des patentierten Geräts sauer ist. Immer mehr Trittbrettfahrer steigen ins Geschäft ein, schimpft der Berliner Betriebswirt Bertram Rohloff.

1996 schickte er seine mobilen Verkäufer erstmals los, nun muss er erleben, wie er von der Konkurrenz überrollt wird. Wurst für Wurst, Mann gegen Mann - Überlebenskampf am Alex.

Auf der nächsten Seite: Eine feste Größe des Berliner Nachtlebens.

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Berlin-Alexanderplatz, Weekend
(Foto: Foto: Weekend)

Schaut auf diese Stadt!

Der Wind zerrt an der Frisur, und das Rauschen des Verkehrsrauschen scheint ganz weit weg zu sein. Berlin-Mitte liegt dem Chef zu Füßen, und wenn er sich einmal um die eigene Achse dreht, hat er die ganze Stadt gesehen.

Marcus Trojan ist stolz auf seine Dachterrasse, eine der schönsten der Stadt. In den wärmeren Monaten trifft sich hier ein junges bis sehr junges Szenepublikum; bei schlechtem Wetter bleibt man drinnen an der Bar und auf der Tanzfläche.

Im schnelllebigen Berlin, wo jedes Wochenende neue Clubs eröffnen, ist das "Weekend" seit November 2004 eine feste Größe. Schon zu DDR-Zeiten versprach das "Haus des Reisens" eine gewisse Weltläufigkeit, jetzt kommen tatsächlich DJs und Partytouristen aus aller Welt in den 12. Stock.

Trojan hat noch viel vor. Der Kommunikationswirt aus Ulm hätte gerne noch einen Swimming-Pool auf dem Dach, so wie in den Hotels von Downtown Los Angeles, "das gibt's schon für 300.000 Euro". Aus seiner Sicht könnte es noch länger so weitergehen mit dem freien Blick. Wenn da nur nicht die Stadtplaner wären.

Gerne zeigt Trojan dem Besucher das riesige Stadtmodell, das die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung in der Rungestraße aufgestellt hat. Jeder Berliner kann sich hier ein Bild davon machen, wie der Alexanderplatz künftig aussehen könnte. Es würde dann alles viel enger und konzentrierter: Neun Hochhäuser von bis zu 180 Meter Höhe sollen zwischen Fernsehturm und der Grenze zu Friedrichshain einmal stehen - falls irgendwann wieder bessere Zeiten für große Immobilienprojekte kommen.

Der Clubchef findet die Vorstellung erschreckend, dem Alexanderplatz eine Art Frankfurter City-Architektur überzustülpen. Erstens wäre dann seine "Weekend"-Terrasse von stählernen Riesen umstellt, und zweitens gebe es ohnehin keinen Bedarf. "In Berlin stehen schon so viele Büroflächen leer, wer soll denn da einziehen?"

Ohnehin werde die Kultur - und dazu zählt Trojan auch das Nachtleben - vom Zentrum an den Rand gedrängt, das kreative Milieu, vom dem die Hauptstadt so sehr profitiert habe, werde immer weiter ausgedünnt. Außerdem: Sei nicht der Potsdamer Platz ein abschreckendes Beispiel dafür, zu was Investoren-Architektur führen könne?

Während sich Trojan in Rage redet, spaziert eine praktisch gekleidete Berlinerin am Stadtmodell vorbei, die in ihrem Akademiker-Outfit nicht so wirkt, als hätte sie gute Chancen, die Tür zum "Weekend" zu passieren. Die Frau betrachtet einige Zeit das Stadtmodell, sie registriert die neun Hochhäuser und schüttelt den Kopf. "So sind die Berliner, ambitioniert. Das ist ein Plan für die nächsten hundert Jahre - hier hat doch sowieso keiner mehr Geld."

Für einen Drink im "Weekend" wird's wohl noch reichen, zur Not. Sieht so aus, als könne Marcus Trojan seine Aussicht noch eine Weile genießen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite über einen Ruhepol am Alex.

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Berlin-Alexanderplatz, Georg Moritz
(Foto: Foto: Georg Moritz)

Ein Fixpunkt im Unsteten

Pfarrer Gregor Hohberg sitzt in seinem Büro, in der zweitältesten Kirche Berlins, die sich als gotisches Denkmal im Schatten des Fernsehturms behauptet. "Es ist doch ungeheuer spannend, dass die Marienkirche an diesem chaotischen Ort seit 700 Jahren nahezu unverändert geblieben ist", sagt Hohberg.

3300 Mitglieder zählt die evangelische Gemeinde in der fusionierten Gemeinde der historischen Altstadt, das ist nicht viel, aber letztlich steht das Gotteshaus in einer nicht gerade sehr christlichen Umgebung: Die Plattenbauten rund um den Alexanderplatz wurden seit ihrer Erbauung in den siebziger Jahren überwiegend von SED-Parteimitgliedern und verdienten Funktionären der DDR bewohnt. Besonders religiös sind die eher nicht. "Inzwischen ziehen aber immer mehr junge Leute hierher, auch viel Singles aus dem Westen. Einige besuchen unsere Gottesdienste", erzählt der Pfarrer.

Sonntags um halb elf, beim Gottesdienst mit Bach-Klängen, predigt Hohberg von einer mit Engeln verzierten Kanzel. Ein Junge wird getauft, die Familien haben sich fein gemacht, Babys schreien in den hinteren Sitzreihen. Im festlichen Ornat interpretiert der Pfarrer die Hochzeit zu Kana und die Verwandlung von Wasser in Wein als eine Aufforderung, gemeinsam zu feiern, zu tanzen, die Lebensfreude nicht zu vergessen. Alles wirkt sehr feierlich, beinahe schon katholisch, und das nur wenige Gehminuten vom Alex entfernt, wo man so viel kirchlichen Glanz kaum vermuten würde.

Nach dem Gottesdienst decken freiwillige Helfer die Tafel, es wird aufgetischt, was andere nicht schaffen. Die Armen von Berlin-Mitte kommen am frühen Nachmittag - die Suppenküche ist ein fester Treffpunkt für die vielen Bedürftigen in einem Stadtviertel, in dem ein Drittel der Menschen von staatlicher Hilfe lebt.

Das Publikum ist immer anders, sagt Hohberg. Touristen aus vielen Ländern besuchen meist zufällig den Gottesdienst, darunter viele Italiener und Spanier, die ein Faible für schöne Kirchen haben. Auch Schulklassen werden hier durchgeschleust, es gibt ja sonst so wenig Mittelalter in Berlin zu sehen; außerdem sind da noch die Kunstkenner, die es auf den berühmten Totentanz abgesehen haben, das berühmte Fresko aus dem 15. Jahrhundert im Eingangsbereich.

Wer im Berliner Zentrum eine halbe Stunde mal seine Ruhe haben möchte, wird sie hier finden. Den Alexanderplatz mag Pfarrer Hohberg nicht besonders gerne, er geht ihm aus dem Weg. Nachts, nach Büroschluss, sei ohnehin alles öde und leer. "Manchmal muss man da ja vorbei - ich bin immer froh, wenn ich wieder in der Marienkirche abtauchen kann".

Lesen Sie weiter über eines der berühmtesten Wahrzeichen Berlins - den Fernsehturm.

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Berlin-Alexanderplatz, AP
(Foto: Foto: AP)

König Ulbrichts Monument

Sie stehen noch immer an, jeden Tag, wenn der Himmel über Berlin heiter ist; sie reihen sich ein in die Schlange, bis der Computer ihre Nummer aufruft und der Aufzug sie steil sekundenschnell in die Höhe trägt. Manche Menschen heiraten in der Kuppel, manche kommen auf einen Drink ins Telecafé, das sich zwei Mal pro Stunde um die eigene Achse dreht, die meisten aber wollen einfach mal ganz Berlin sehen. Seit fast vierzig Jahren ist der Fernsehturm eine Ikone, millionenfach auf Postkarten gedruckt und mit 1,2 Millionen Besuchern im Jahr ein Magnet für die Massen.

Karl-Heinz Kraemer kennt das höchste Gebäude in Deutschland wie kaum ein zweiter: Der 68-Jährige hat schon die vierjährige Bauzeit dokumentiert, beinahe täglich kam er hierher, um den Berliner Fernsehturm bis auf 365 Meter wachsen zu sehen - jeder Meter stand für einen Tag im Jahr.

Kraemers Fotos von stolzen Arbeitern und nicht minder stolzen Besuchern erschienen in den Zeitungen der DDR, ein paar tausend liegen bei ihm noch im Archiv, gerade erst waren sie in einer Ausstellung zu sehen. "Jeder König baut sich ein Denkmal, und der Fernsehturm war eben das Denkmal von Walter Ulbricht", sagt Kraemer. Ein paar tausend Mal hat er sein Lieblingsmotiv abgebildet.

Ein Wahrzeichen der fortschrittsgläubigen DDR sollte der Bau sein, und es muss die SED-Vorderen mit einer gewissen Häme erfüllt haben, dass kein Fernsehturm im Westen das Berliner Niveau erreichte. Die silbern glänzende Stahlkugel hat aber bis heute einen hübschen Nebeneffekt: Bei Sonnenschein erscheint auf der Außenhaut der Stahlkonstruktion eine Reflexion in Form eines Kreuzes, weshalb freche Ostberliner den Turm "Sankt Walter" nannten.

Die eigentliche Attraktion bleibt aber der grandiose Berlin-Blick von oben, der ultimative Berlin-Blick. "Ich schleppe alle Freunde und Bekannten auf den Fernsehturm", sagt Kraemer, der einer anderen DDR-Ikone, dem inzwischen verschwundenen Palast der Republik, ein wenig hinterhertrauert. Ironie der Geschichte, dass Ulbrichts Denkmal noch steht, das Monument seines Nachfolgers Erich Honecker aber schon Geschichte ist.

Für Chronist Karl-Heinz Kraemer sollte der Alexanderplatz am besten so bleiben, wie er ist. Der Fotoreporter schwärmt von der Weitläufigkeit des Ortes, der für andere nur eine hässliche Wüste aus viel Asphalt und einigen Großbauklötzen ist. Aber die tägliche Schlange vor dem Fernsehturm spricht ja auch für sich.

Der Alexanderplatz ist täglich eine Bühne für Selbstdarsteller - auf der nächsten Seite.

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Berlin-Alexanderplatz, Georg Moritz
(Foto: Foto:)

Der Asphalt als Bühne

Steven Schmidt nennt sich Stiff, im Internet heißt er auch "Jumpforce Leader", und deshalb erteilt er auf der Freifläche vor der U-Bahn-Station Auskünfte. "Jumpforce", das ist eine Gruppe von Kids, die merkwürdig synchron herumspringen, stundenlang. Vor, zurück, vor, zurück.

Man dreht sich um die eigene Achse, man arbeitet an der perfekten Bewegung; einige Tänzer haben kein Gramm Fett mehr auf den Rippen, weil sie ständig ohne Pause neue Techno-Varianten ausprobieren.

Seit einem Jahr treffen sich die Jugendlichen am Alexanderplatz. Manchmal bilden sie dort eine Synchronkette, dann springen alle in einer Reihe hin und her. Warum? "Weil's Spaß macht, sonst nichts", sagt Stiff.

Der Trend kommt aus Belgien und wurde, wie vieles, über YouTube populär. Auch die Berliner Crew ist gut vernetzt. Leader, Co-Leader, Trainer und Mixer halten zusammen, selbst wenn sich mal ein paar betrunkene Skinheads über die komischen Bewegungen lustig machen. Jump! Freudensprünge am Alex, das ist wirklich einzigartig.

Lesen Sie weiter, wie sich der Alexanderplatz im Laufe der Jahrhunderte gewandelt hat.

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Berlin-Alexanderplatz, ddp
(Foto: Foto: ddp)

Konstant ist nur der Wandel

Schon im 19. Jahrhundert war der Alexanderplatz mit seinem Durchgangsbahnhof ein Verkehrsknotenpunkt. In der Kaiserzeit eröffnete das bekannte Grand Hôtel, es gab stark frequentierte Markthallen, die berühmte "Berolina"-Figur und das "Volkswarenhaus" Tietz.

Ende der zwanziger Jahre veränderte der Platz durch den Bau neuer S- und U-Bahn-Linien sein Gesicht. Vor diesem Hintergrund veröffentlichte Alfred Döblin 1929 seinen Roman. Stilprägend wirken bis heute zwei Gebäude des Architekten Peter Behrens: das Berolinahaus und das Alexanderhaus als Beispiele für die klassische Moderne.

Nach dem Krieg blieb der verkehrsberuhigte, bald von Plattenbauten gesäumte "Alex" ein Dauerprojekt der DDR. 1964 wurde das Haus des Lehrers eingeweiht, es folgten der Fernsehturm und das heutige Park Inn Hotel.

Derzeit wird einmal mehr über die Zukunft des Platzes diskutiert - Stadtplaner wollen eine dichtere Bebauung mit neun Hochhäusern. Immer wieder diente der Platz als Bühne für Großereignisse, zuletzt am 4. November 1989, als hier eine halbe Million DDR-Bürger demonstrierten.

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