Süddeutsche Zeitung

Höhlen der Schwäbischen Alb:Blick zurück auf das Schöne im Leben

Vor 40 000 Jahren nahm es Homo Sapiens bei den Höhlen der Schwäbischen Alb mit Mammuts und Gletschern auf und schuf beeindruckende Kunst.

Von Jan Freitag

Wahre Größe kann ganz schön winzig sein. Während ihre Kollegen drei Meter unter Sarah Rudolf behutsam den Staub des Winters vom Einsatzort fegen, führt die Archäologin Daumen und Zeigefinger zusammen. So klitzeklein also sollen sie sein: die spannendsten Artefakte an einem der zurzeit aufregendsten Fundorte menschlicher Artefakte weltweit. "Hohle Fels" heißt die außergewöhnliche Karsthöhle; sie liegt auf der Schwäbischen Alb, auf der es von außergewöhnlichen Höhlen nur so wimmelt.

Einen Löwenmenschen aus Elfenbein hat man hier gefunden, das älteste bislang bekannte Musikinstrument - eine Flöte aus Gänsegeierknochen - und die "Venus vom Hohle Fels", ein Fruchtbarkeitssymbol und eine der ältesten Abbildungen des menschlichen Körpers. Inmitten der unwirtlichen Würm-Kaltzeit vor 40 000 Jahren nahm es Homo Sapiens hier mit übermächtigen Gegnern auf: Mammuts, Bären, der Gletscherfront.

Zu Sarah Rudolfs Füßen, am Ende des Eingangstunnels der Hohle-Fels-Höhle, wurde die Venus gefunden. Die Grabungsleiterin wirkt bewegt, als sie vom Sommer 2008 erzählt. Als Teenager im Praktikum war sie selbst dabei, als sich das Figurenpuzzle der Venus im Lehm offenbarte. Trotzdem haben es der Grabungstechnikerin vom Ur- und Frühgeschichtlichen Institut Tübingen nicht so sehr die spektakulären Reste eiszeitlicher Besiedlung angetan. "Die wirklich wunderbaren Funde sind viel kleiner", sagt sie: doppelt durchlochte Perlen nämlich. Fingernagelkurzes Kunsthandwerk aus der Aurignacien genannten Epoche im europäischen Jungpaläolithikum zwischen 43 000 und 34 000 Jahre vor Christus.

Sicher, sagt die Mittzwanzigerin mit der Erfahrung aus zehn Jahren Forschung vor Ort, optisch sei so ein Kleinod weniger beeindruckend als die weltberühmte Venus. Aber der Elfenbeinschmuck zeuge halt noch mehr von Liebe zum Detail. Allein im Hohle Fels fanden sich seit der ersten kundigen Grabung vor 147 Jahren mindestens 126 dieser unscheinbaren Preziosen einer Epoche, in der lange nur dumpfe Keulenschwinger vermutet wurden. Die Funde halfen verstehen: Diese Menschen besaßen ein Gefühl für das Schöne im Leben, trotz des alltäglichen Überlebenskampfes.

Seit ein paar Tagen gräbt, besser: tastet sich Rudolfs Team wie jedes Jahr von Mitte Juni an wieder Millimeter für Millimeter durch den Hohle Fels. Direkt über die Köpfe der Forscher hinweg drängelt eine Schulklasse auf dem stählernen Besuchersteg ins Innere der Höhle, die aus Sicht der Besucher gewiss eine der schönsten der ganzen Alb ist - majestätisch, verzweigt und, ganz wichtig: für jedermann frei zugänglich. Aus Sicht der Archäologen ist sie vor allem ungeheuer ergiebig. So sehr, dass die Unesco diese Woche in Krakau darüber befindet, ob der Hohle Fels gemeinsam mit fünf weiteren Höhlen der näheren Umgebung zum Weltkulturerbe erklärt wird. (Anm.d.Red: Die Unesco hat den sechs Höhlen der Eiszeitkunst auf der Schwäbischen Alb inzwischen den Welterbetitel verliehen.)

Als die Donau ihren Lauf gegen Ende der letzten Eiszeit südostwärts verlagerte, hinterließ sie der Alb mit Ach, Blau und Lone drei Flüsschen, die heute selbst während der Schneeschmelze nur geruhsam durchs alte Bett des Stroms mäandern. Umso stärker prägen sie eine liebreizende Landschaft. Dank der sanft gewellten Topografie sind die bewaldeten Täler ideal zum Wandern. Vor 150 Millionen Jahren war hier ein warmes Meer; der Kalkstein, der aus den maritimen Ablagerungen entstand, wurde stellenweise vom Wasser der Donau ausgewaschen - so entstand eine Vielzahl von Höhlen. Geschätzt gibt es auf der Alb an die 2300. Und weil so manche davon den Nomaden der früheren Savanne als Unterkunft diente, ist die Alb eine der ergiebigsten Quellen frühmenschlichen Kunstsinns überhaupt.

Johannes Wiedmann durchmisst die Höhlen seiner Heimat bereits seit seinem Magister in Archäologie nach den Spuren der Jüngeren Altsteinzeit. Ganz gleich ob Hohle Fels, Sirgenstein, Vogelherd oder wie die Weltkulturerbe-Kandidaten auch heißen: Der 59-Jährige kennt darin jeden Winkel, jede Besonderheit, jedes Fundstück, das die Unesco-Juroren aus 25 Ländern überzeugen soll. Und doch ist der Ausgrabungsveteran immer wieder aufs Neue fasziniert, wenn er die Fundorte besucht.

Nur Vögel und der Föhnwind sind im beschaulichen Lonetal zu hören, als Wiedmann zur Bocksteinhöhle aufsteigt. Der schmale, steile Weg durch einen Mischwald ist schwer zu erkennen, kein Schild weist nach oben - der bedeutsame Ort ist ohne Ortskenntnis kaum zu finden. Als einst Neandertaler hier Unterschlupf fanden, sei die Höhle besser einsehbar gewesen, sagt der Archäologe. In der baumlosen Steppe wuchs nur Gras. Die Zugänge zu vielen Höhlen wurden im Laufe der Jahrtausende durch herabrutschendes Geröll verschüttet.

Auch der Bockstein war Ende des 19. Jahrhunderts augenscheinlich nur ein Berg wie jeder andere. Und er wäre es ohne ein paar Berufsgruppen auf Abwegen wohl noch lange geblieben. "Wer außer Förstern war denn damals im Wald unterwegs?", fragt Wiedmann und antwortet selbst: "Lehrer, Pfarrer, Apotheker." Denen also ist es zu verdanken, dass die Alb 100 000 Jahre nach der Besiedlung nun zum paläolithischen Erlebnispark werden könnte. Noch besuchen ihn abgesehen von Archäologie-Fans vor allem Schüler und Senioren. Mit der Auszeichnung durch die Unesco allerdings, so hofft man hier, werden vielleicht auch andere Besuchergruppen angezogen. "Wir wollen kein Remmidemmi", beteuert Stefanie Kölbl vom Urgeschichtlichen Museum in Blaubeuren, wo auch die Venus vom Hohle Fels ausgestellt ist. "Aber die Höhlen müssen schon noch besser zugänglich werden." Ein ganz gewöhnlicher Frühsommertag zeigt, wie viel da noch zu tun ist.

Am "Goissaklöschterle" zum Beispiel, wie Johannes Wiedmann eine der Höhlen im schönsten Heimatidiom nennt, genießt trotz strahlender Sonne kein Besucher weit und breit die Aussicht. Als sich vor Urzeiten irgendwer die Mühe machte, dem harten Stoßzahn des Mammuts eine Flöte von betörendem Klang abzutrotzen, statt dafür wie damals üblich Vogelknochen zu benutzen, muss der Blick des Künstlers durchs gleiche Felsenloch ins Achtal gegangen sein. Der Anstieg dorthin ist auch 40 000 Jahre später noch beschwerlich. Wenn das Weltkulturerbe wird, soll der Weg zwar komfortabler werden. Doch dass Barrierefreiheit im Jahr 2017 nicht automatisch freie Zugänglichkeit mit sich bringt, kann man ein Tal weiter am Vogelherd begutachten.

Auf Landstraßenhöhe gelegen, ist der archäologisch reichhaltige Höhlenkomplex gut erreichbar - allerdings nur durchs Besucherzentrum des neuen Archäo-Parks. Gegen Eintritt, versteht sich. "Museumspädagogisch ist das natürlich vorbildlich gemacht", räumt Johannes Wiedmann ein. Aber man hört aus seinem Tonfall schon heraus, dass dem Forscher in ihm der Zaun um die Fundstelle herum ein Dorn im Auge ist. Wo weiter geforscht wird, das weiß auch Wiedmann, seien Gitter unentbehrlich. "Als im Stadel noch keins war, sind Leute mit Tüten voller Elfenbein rausgegangen." Was archäologisch ausgeschlachtet ist, solle dagegen unversperrt bleiben wie eh und je. "Das verlangt ja auch die Unesco." Eine Sehenswürdigkeit für Allgemeinheit wie Anwohner gleichermaßen nutzbar - also am Ende auch profitabel - zu machen, ist stets eine Gratwanderung.

Direkt über Sarah Rudolfs Grabungsteam führt eine Metallbrücke von der aktuellen Grabungsstelle zur archäologisch uninteressanten Haupthalle. Winters zum Schutz der Fledermäuse gesperrt, tobt hier sommers das Leben neuzeitlicher Freizeitgestaltung. Orchester genießen die Akustik, Gäste die Atmosphäre. Es herrscht zwar noch kein Remmidemmi, aber wenn die Unesco den Zuschlag gibt, entsteht auf dem Parkplatz wohl ein hochmodernes Kulturerbe-Zentrum. Als eine Schulklasse von dort bergeinwärts lärmt, lächelt Sarah Rudolf, nennen wir es mal: professionell. "Es ist natürlich schon manchmal nervig, wenn dauernd Leute über unsere Köpfe laufen", räumt sie ein. Aber Archäologie sei nun mal für alle, "nicht nur für uns".

Also wird weiter unter Beobachtung gegraben, stets in der Hoffnung, auf Kunstgegenstände zu stoßen, die noch älter sind als die bekannten. Und wenn es klappt? Freut sich Sarah Rudolf wie immer über beides: die Funde der Forscher und das Interesse der Menschen. Unter ihr werden fleißig Sandsäcke abgefegt. Es soll ja, sie lächelt, "schon auch gut aussehen hier".

Informationen

Anreise: Mit dem Zug über Ulm nach Blaubeuren ab 35 Euro, www.db.de.

Unterkunft: Hotel-Restaurant Ochsen, Marktstr. 4, 89143 Blaubeuren, Tel.: 07344/96 98 90, Doppelzimmer ab 89 Euro mit Frühstück, www.ochsen-blaubeuren.de.

Weitere Auskünfte: Geopark Schwäbische Alb: Bis auf den Vogelherd sind die sechs Höhlen im Ach- und Lonetal ganzjährig zugänglich. Zum Schutz der Fledermäuse bleibt nur der Hohle Fels von November bis April geschlossen. Bei der Vogelherd-Höhle über der Lone lässt der Archäopark das Steinzeitleben nachempfinden und zeigt Fundstücke aus dieser Zeit. Weitere Alltagsrelikte und Kunstwerke wie die "Venus" lagern im Urgeschichtlichen Museum Blaubeuren, das auch diverse archäologische Workshops und geführte Höhlentouren anbietet, www.urmu.de, sowie im Museum Ulm, www.ulm.de und im Museum "Alte Kulturen" der Universität Tübingen. Weitere Informationen unter www.geopark-alb.de.

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SZ vom 06.07.2017/ihe
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