Süddeutsche Zeitung

Deutschland:Edelweiß-Alarm

185 Kilometer und 2500 Höhenmeter - wenn man auf alle Hügel steigt: Ein neues Wegenetz verbindet die Halden des Ruhrgebiets.

Von Anja Martin

Der Forstweg knirscht unter den Turnschuhen, es riecht nach Frühlingsgrün. Vögel tschilpen um die Wette. Daneben rauscht die Autobahn. So ist sie eben, die Natur im Ruhrgebiet.

Alles ist ein wenig gedrängter, zerschnittener, geschäftiger hier. Die Orte liegen eng beieinander, das Verkehrswegenetz ist dicht - der Begriff Metropole Ruhr kommt nicht von ungefähr. Das Naturschutzgebiet Emscherbruch, gerade mal einen dreiviertel Quadratkilometer groß, liegt eingeklemmt zwischen A2, Zentraldeponie, Umspannwerk, Friedhof und Zeche Ewald. 150 Jahre lang haben sie im Ruhrgebiet nach Kohle gegraben, haben das Erdinnere durchlöchert, Gestein aufgehäuft, Bäume gepflanzt, die dann als Stützwerk, als Grubenstempel, unter Tage verbaut wurden. Der Emscherbruch senkte sich mit der Zeit so weit, dass er zum Feuchtgebiet wurde. Heute nutzen Ortsansässige den Auenwald für einen Spaziergang mit oder ohne Hund. Man liebt den verwunschenen Ewaldsee, Produkt des Autobahnbaus und später Wasserreservoir der Zeche Ewald, der sich zu einem Biotop wandelte, mit Stockenten und Blesshühnern, Haubentauchern, Graureihern und Eisvögeln. Ein kleiner Flecken Ruhrgebiet, der an die Zeit vor der Industrialisierung erinnert, als noch Wälder die Region prägten. Ein Reststück, für das sich keine wirkliche Nutzung finden ließ. Bald schon ist es Teil des Projektes "HHH": Halden-Hügel-Hopping.

Rund 50 große Halden gibt es im Ruhrgebiet, mehr als zwei Drittel davon sind bislang für die Öffentlichkeit freigegeben. Warum sollte dieses nach Plan geschaffene Grün nicht für Touren taugen? Warum nicht künstliche Erhebungen besteigen? Warum nicht Bergwandern im Pott? Das war die Idee zum Halden-Hügel-Hopping. Getragen vom Kreis Recklinghausen, finanziert von der EU und dem Land Nordrhein-Westfalen hat man innerhalb von zweieinhalb Jahren mit viel ehrenamtlicher Arbeit zwölf Themenrouten entwickelt, die in dieser Woche eröffnet werden. Alle liegen im Vest, zwischen Lippe und Emscher, wo viele Halden sind. Das Streckennetz umfasst 185 Kilometer und 2500 Höhenmeter, führt über 17 künstliche Halden und fünf natürliche Hügel, meist als Halbtagestouren. Man bewegt sich zwischen 20 und 150 Metern über null oder bis gut hundert Meter über Grund. "Berge sind relativ", sagt Sven Ahrens, der Projektleiter. Und fügt bestimmt hinzu: "Für uns sind das Berge."

Wir meistern Halde Hoppenbruch - 70 Meter hoch, 70 Meter runter, dazwischen in die Ferne geschaut, Fußballuniversen von oben betrachtet, einem Eichhörnchen nachgeblickt. Dann gleich nebenan der Aufstieg auf eine der höchsten Halden des Ruhrgebiets. Kaum passieren wir die künstliche Baumgrenze, ruft Robert Herzog, ein echter Ruhri, wie sich die Leute hier nennen, den Edelweißalarm aus. Das soll natürlich ein Spaß sein, aber irgendwie findet der 53-Jährige schon, dass man auf den Gedanken kommen könnte. Immerhin ist Hoheward 151 Meter hoch, aufgehaldet aus 180 Millionen Tonnen Bergematerial aus mehreren Zechen. Eine Halde der Königsklasse, die man gezielt als Landschaftsbauwerk so schüttete, dass darauf später Menschen spazieren gehen, Fahrrad fahren oder Festivals feiern können.

Die Bevölkerung wartet oft schon ungeduldig, bis solche Flächen aus der Bergaufsicht entlassen werden. Schließlich müssen sie jahrzehntelang zusehen, wie Höhenzüge in den Himmel wachsen, die sie nicht betreten dürfen, weil das alles Betriebsgelände und nicht ungefährlich ist. Im Grunde sind die Abraumhalden ja Geröllhaufen, bestehend aus taubem Gestein, also allem, was nicht Erz ist. Dazwischen schummeln sich vereinzelt Kohlebrocken. Um hier Pflanzen wachsen zu lassen, decken Landschaftsplaner eine Schicht Erde übers Geröll, dann werden Gräser und Büsche gepflanzt, die mit ihrem Wurzelwerk das Gestein zusammenhalten sollen. Später kommen Bäume hinzu. "Im Sommer lassen die Pflanzen schon mal die Blätter hängen", hat Robert Herzog an der noch jungen Halde Hoheward beobachtet. Schließlich kann der Untergrund wenig Wasser speichern, es rinnt einfach durchs Gestein. Eine Halde ist halt doch kein richtiger Berg, und steckt entsprechend nicht so viel weg. Das zeigt sich auch an seltsamen Streifen, die sich den Hang herunterziehen. Den Reifen der Downhillbikes hat die künstliche Natur wenig entgegenzusetzen.

Herzog stammt aus einer Bergarbeiterfamilie, hat selbst 25 Jahre im Bergbau gearbeitet, ist heute Bauleiter bei einem Verkehrssicherungsunternehmen. Und nebenbei Guide. "Mensch, ist das grün hier", sei das Erste, was Besucher sagen, wenn sie von den Hügeln aufs Ruhrgebiet hinabschauen. Ja, es ist tatsächlich erstaunlich grün. Allerdings rücken auch deutlich mehr Kraftwerke, Müllverbrennungsanlagen, Hallendächer und Lärmschutzwälle in den Blick, als man das aus klassischen Bergregionen kennt. Nur von Freizeit könne man eben nicht leben, gibt Herzog zu bedenken. Das Land der rauchenden Schlote aber sei das hier längst nicht mehr. Zwei Zechen in Bottrop und Marl bauen noch ab, die letzte schließt 2018. Dann ist der Bergbau im Ruhrgebiet Geschichte. "Hier wird keine Wäsche mehr schwarz beim Raushängen", betont Herzog. Das schlechte Image halte sich dennoch hartnäckig. Auch hier soll HHH helfen: der grüne Pott - das ist das Bild, das Sven Ahrens in die Köpfe pflanzen möchte.

Der Weg führt jetzt bergan, ein steiniger ist es nicht, stattdessen ist er sauber gepflastert. Ohnehin sind 51 Prozent der fürs HHH genutzten Wege asphaltiert, fast 45 Prozent mit Schotter und Schlacke bedeckt, nur fünf Prozent Naturboden. Erdklumpen muss man sich nach der Wanderung keine aus dem Profil pulen. Neben der Bewegung an der frischen Luft geht es beim Halden-Hügel-Hopping auch um Inhalte. "Wenn man Industriekultur erwandert, stellt man Zusammenhänge nicht alleine her", sagt der Ex-Bergmann Herzog. Vieles ist erklärungsbedürftig. An 150 festgelegten Erzählstationen soll beim HHH Wissen vermittelt werden - durch einen persönlichen Guide oder übers Halden-Hügel-Navi, eine App fürs Smartphone.

Leicht außer Puste erreichen wir das Haldentop, wo nicht etwa ein simples Gipfelkreuz auf uns wartet, sondern zwei gegeneinander verschobene Stahlrohrbögen mit einem Radius von 45 Metern. Die astronomischen Kenntnisse, die dieses Horizont-Observatorium vermitteln soll, bleiben uns aber verborgen, denn ein Bauzaun schirmt es ab. Kurz nach der Eröffnung Ende 2008 sprang eine Schweißnaht auf. Seither streitet man, wessen Schuld das ist. Das Observatorium gilt als eine der neuen Landmarken im Ruhrgebiet, gemeinsam mit dem Gasometer in Oberhausen und dem Tetraeder in Bottrop. Längst überragen sie die verbliebenen Fördertürme, an denen man sich früher orientierte. Hundert Meter über Grund klingt wenig, relativiert sich hier oben aber schnell. Man steht über allem. Selbst der Verkehrslärm ist weitestgehend verschwunden.

"Anfangs wurden wir ja belächelt für die Sache mit dem Wandern", sagt Markus Keil, der Leiter des Besucherzentrums Hoheward. Dabei habe es Potenzial für die ganze Metropole Ruhr. Er schwärmt von den urbanen Panoramen, etwa vom nächtlichen Bild des Horizont-Observatoriums über dem Lichtermeer von Recklinghausen, das ihn jedes Mal an das Griffith Observatory auf den Hollywood Hills erinnert, wo einem L.A. zu Füßen liegt. Vielleicht fehlt dem Pott ja nicht das Faszinierende, sondern das Selbstbewusstsein.

Eine Jausenstation hier oben, das wäre jetzt was. Landestypisch müsste das dann eine Trinkhalle sein. Die liegen natürlich unten in den Wohngebieten. Oder früher zwischen Zechentor und Zuhause, dort kamen die Bergleute vorbei und hatten mächtig Durst. Auch an den Hopping-Routen stehen sie. Die Route HN am Rande der Haard etwa hat die Trinkhallenkultur eigens als Thema im Programm. Unterwegs macht man Stopp an der "Ballerbude", an der sich auch der örtliche Fußballverein trifft. Im Landschaftspark Hoheward ist ein kurzer Abstecher nötig, um "Bei Stefan" in Wanne einzukehren. Eine Familie holt sich gerade Eis, die Mutter rümpft belustigt die Nase auf die Frage, ob sie auch gern auf die Halden steige. "Auf unsere Müllalpen?", erwidert sie. Wenn sie wandern wolle, fahre sie in ein Wandergebiet.

Aber vielleicht wird ja ein Austausch daraus: Die Leute aus dem Schwarzwald kommen zum Wandern ins Ruhrgebiet und umgekehrt. Denn schlussendlich reizt doch immer das Unbekannte - ganz gleich, ob das natürlich oder künstlich ist.

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Quelle:
SZ vom 07.05.2015
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