Süddeutsche Zeitung

Deutsche Inseln: Peißnitzinsel:Bürgerblüte an der Saale

"Wird nüscht", sagten Experten nach der Wende über das "Landesklubhaus der Jungen Pioniere" in Halle. Dank engagierter Bürger geht jetzt alles auf der Peißnitzinsel - von Theater bis Kohlrabiweitwurf.

Von Cornelius Pollmer, Halle

Als ein Kollege vor Jahren nach Halle fuhr, das erste Mal in seinem Leben, da sah er auf dem Weg vom Bahnhof einen Jungen, der ziemlich gelangweilt eine tote Taube übers Pflaster kickte. Wie verhält man sich idealerweise in solchen Situationen? Man behält die Ruhe und erinnert sich daran, dass der Zufall kein zuverlässiger Markenbotschafter ist, sondern ein unsteter Fiesling. Und wie verhält man sich wirklich? Man erzählt hernach natürlich stürmisch, wie das war, mit dem Jungen und der Taube. Flump, flump. Musst du gesehen haben.

Als man nun selbst mal wieder nach Halle fährt, in der Brüllhitze dieses Sommers, da wünscht man sich den Kollegen an seine Seite, als Mitläufer und Markenbotschafter des Prinzips zweite Chance. Der Wagen knackt noch erschöpft im Halbschatten, da schlurft man bereits über die Bürgerbrücke zur Peißnitzinsel. Die Postkarte dieses Besuchs ist da im Grunde schon gemalt und geschrieben.

Als Erstes nämlich sieht man keine tote Taube, sondern einen lebenden Schwan. Der weiße Riese, vermutlich in den besten Jahren, rastet am Ufer der Wilden Saale und schnäbelt vergnügt an seinem Hals herum. Als Zweites sieht man immer noch keine tote Taube, sondern einen Laternenpfahl (tot) sowie eine Nutria (lebend), die aussieht wie ein Biber. Auf dem Pfahl pappt ein Sticker, darauf eine Frage: "Was ist dir wirklich wichtig?" Man hätte diese Frage vermutlich überlesen, lungerte nicht diese Nutria im Gras und schaute sie nicht so treudoof und doch überlegen, als würde sie einem genau diese Frage stellen.

Die Fighter-Crew wartet geduldig auf den ersten Sonnenbrand

Was, also, ist wirklich wichtig? Auf der Peißnitzinsel können die heiteren Antworten an diesem Tag nur Jetzt! und Hier! lauten, womit man eigentlich schon bei Roland Gebert und seinem Peißnitzhaus wäre, ist man ja aber noch nicht. Vorher geht es noch vorbei an der Zeltbühne und der Fighter-Crew, die davor geduldig auf den ersten Sonnenbrand des Sommers wartet. Großraumdisco blecht aus Handylautsprechern, die Herren lupfen nur kurz ihre grundfarbenen Oakley-Brillen, als sie den Arbeitsmigranten an seinem Block erkennen.

Vorbei geht es schließlich an lauter anderen Naherholungsmenschen und ihrer Muße, die sich zu erkennen gibt in der kaum zu imitierenden Langsamkeit, mit der sie nach Ankunft ihre Rucksäcke vom Rücken ins Gras sacken lassen. Herrlich hier. Bisschen zu heiß vielleicht, aber das bringt einen schon nicht um. Flump. Hihi.

Im Gartenlokal angekommen, empfiehlt Roland Gebert einen Tisch unter der großen Linde. Schatten, leichter Wind. Gebert kennt sein Revier. Dass es überhaupt seines geworden ist, liegt auch daran, dass er und andere sich nicht haben fehlleiten lassen von ersten Eindrücken, auch nicht von zweiten und dritten. "Nach der Wende wuchs das hier alles zu, die Nebengebäude waren teilweise eingestürzt. Die Leute haben ihren Sperrmüll hier abgeladen und selbst der ist zugewachsen", sagt Gebert.

Hier, das ist das Peißnitzhaus, fertiggestellt 1893. Damals begann der Pächter und Wirt Friedrich Klopffleisch, seinem Nachnamen alle Ehre zu machen. Eine Zeitung vermerkte am 4. April eine "wahre Völkerwanderung im Saale-Tal". Die Zeitläufte machten das Haus danach zur Sommerschule, später zogen die Hitlerjugend, dann Streitkräfte der Sowjets ein, in der DDR erfolgte die Umwidmung zum "Landesklubhaus der Jungen Pioniere".

Wäre man eine Motte, man würde genau hier das Licht suchen

Nach der Wende aber fehlt es auf einmal an Pionieren. Gebert sagt: "Wir hatten große Wirtschaftsexperten hier, die sagten: wird nüscht. Weil man mit dem Auto nicht vorfahren kann." Eine Expertise, die vermuten ließ, dass große Wirtschaftsexperten auch im Kopf eher Freunde kurzer Wege sind. Denn die Lage von Haus und Insel ist mit AAA gerade gut beschrieben. Man befindet sich hier zwischen dem alten Zentrum von Halle und den Reißbretterbuden in Neustadt, dem Brasília der DDR. Wer es fertig bringt, sich auf dieser Insel zu verlaufen, landet irgendwann am Peißnitzhaus. Wäre man eine Motte, man würde genau hier das Licht suchen.

Andererseits passte die Expertise der großen Wirtschaftsexperten in die Zeit der noch größeren Depression nach der Wende. Halle verlor 80 000 Einwohner, der Spitzname "graue Diva" hatte als Markenbotschaft etwa den Wert einer toten Taube. Wie schwer es graue Diven im Zeitalter der Aufmerksamkeitsökonomie haben, bewies zuletzt der Fernsehmensch Markus Lanz. Im Rahmen der Insolvenzverschleppung von "Wetten, dass. . ?" sprach er sein Publikum im November 2013 mit "Leipzig!" an, obwohl er in Halle moderierte. Das ist natürlich längst verhallt. Die Stadt hat ja weit mehr überlebt und zu bieten, als einen Kurzbesuch von Lanz.

Halle verfügt über beachtliche Jahresringe, Gebäude aus herrlich vielen Epochen. Mittelalter, Renaissance, Barock, Gründerzeit, auch ästhetisch Schwieriges aus der Zeit danach. Alles vorhanden. Es gibt sogar ein Weißes Haus, die Nationale Akademie der Wissenschaften, genannt Leopoldina.

Es gibt Kunst und Kultur und fast 20 000 Studenten an der Martin-Luther-Universität. Und vor ein paar Jahren gab es eine Erhebung, derzufolge der Anteil von Grünanlagen, Parks und Sportflächen in kaum einer anderen deutschen Stadt so hoch ist wie hier: 15,9 Prozent. Dazu zählen sechs Flussinseln, von der Saale umflossen.

Begegnungen - fehlt es nicht genau daran immer mehr?

Halle ist eine unscheinbare Schönheit, ihre Liebenswürdigkeit liegt leicht verdeckt. Es ist eine Stadt für den zweiten Blick. Da fügt sich das Lebensprojekt von Roland Gebert, 56 Jahre alt, gut ein. "Ein Gesellschaftshaus lebt auf!", steht auf einem Flyer des Förderkreises, einer gemeinnützigen Genossenschaft. Und wenn Schlendernde erst mal nur den Biergarten sehen und sich über schmale Preise auf der Kreidetafel freuen (Nudeln mit Wurstgulasch 4,50 Euro!), weist Gebert freundlich darauf hin, dass er den Begriff "Gartenlokal" bevorzuge. Da geht es ja schon los.

Informationen

Anreise: Von der A14 die Abfahrt Halle/Peißen nehmen, Ausschilderung nach Halle-Neustadt folgen. Nach Überquerung der Saale die erste Abfahrt nehmen, dann rechts halten und Richtung Gut Gimritz fahren. Parken am Haus ist nicht erlaubt. Mit der Straßenbahn etwa zur Haltestelle Diakonie.

Übernachtung: Direkt auf der Insel ist das noch nicht möglich. Im Peißnitzhaus sollen Gästezimmer etwa für Radfahrer und Wanderer entstehen. Dauert aber noch.

Weitere Auskünfte: Alles zum Peißnitzhaus gibt es unter www.peissnitzhaus.de - Unterkünfte zum Beispiel über das Stadtmarketing, www.stadtmarketing-halle.de

Die Gastronomie dient im Peißnitzhaus nicht der Gewinnmaximierung eines großen Schankwirtschaftsexperten, sie dient einer gemeinsamen Sache. Es geht darum, als Hauswächter ein Gebäude zu bewahren, dessen Erhalt einmal vier bis fünf Millionen Euro gekostet haben wird und um das sich sonst womöglich niemand gekümmert hätte.

Es geht darum, Begegnungen und Gespräche zu ermöglichen, zwischen Jung und Alt, Menschen mit und ohne Behinderung, solchen aus verschiedenen sozialen Schichten. Begegnungen, so ein Wort riecht natürlich immer ein bisschen nach Stuhlkreis und Rhythmusgruppe. Aber, fehlt es nicht genau daran immer mehr? Zumal in Städten, in denen Laufwege und Rastplätze durch fast nichts als das persönliche Netto-Einkommen definiert werden?

Im Peißnitzhaus kann man sich für Fledermaus-Spaziergänge anmelden oder für das Projekt "Frau Wolle und die sieben Schafe", bei dem gekämmt und gefilzt, gesponnen, gewoben und gefärbt wird. Kinder dürfen sich im Kohlrabiweitwurf üben, und bei der Gemüseolympiade zeigt Gebert auch, "dass eine Kartoffel nicht immer lang und gelb aussieht wie bei McDonald's, sondern runzelig und dunkel." Fast jeden Tag gibt es auf der kleinen Bühne im Gartenlokal Theater und Musik.

Ein Viertel der Gäste, schätzt Gebert, kommt zum Peißnitzhaus, weil sie das Konzept dahinter unterstützen wollen. Alle anderen tragen zumindest mittelbar zu dessen Gelingen bei, und viele von ihnen kommen auch, "weil sie den Mut und den Durchhaltewillen schätzen, die es hier braucht".

"Wir waren die, die nicht nach Geld, sondern dem Schlüssel gefragt haben"

Weil die großen Wirtschaftsexperten abrieten, waren es "Bürgerinnen und Bürger der Stadt Halle an der Saale", die 2003 einen Verein gründeten. Der gelernte Kaufmann Roland Gebert und seine Mitstreiter - darunter ein Architekt, ein Veranstalter, ein Rechtsanwalt - sprachen bei der Stadt vor. "Dort dachten sie, och, schon wieder so ein paar Spinner. Aber wir waren die, die nicht als Erstes nach Geld, sondern nach dem Schlüssel gefragt haben."

Gebert besitzt eine Mappe mit Zeitungsartikeln, in deren Überschriften sich Langwierigkeit und Fortschritt der Sanierung rückverfolgen lassen. Juli 2010: "Kein Stifter in Sicht - jetzt sanieren Hallenser ihr Haus." Juli 2012: "Junge Leute klopfen Putz ab und streichen das Langhaus." Mai 2013: "Genossenschaft kommt." Wenn es gut läuft, wird Gebert die Mappe in etwa zehn Jahren vorläufig schließen können. Dann könnte alles fertig sein, und dann wäre das Peißnitzhaus noch mehr "ein Beispiel dafür, dass es mit Menschenkraft geht und ohne großes Geld".

Urwüchsigkeit, mitten in der Stadt

Die Stadt Halle, sagt Roland Gebert, behaupte von sich, eine sehr arme zu sein. Gemeint ist das natürlich mal wieder im Sinne der Finanzen. "Ich sehe das anders, ich sehe, dass es hier ein großes Reservoir an Bürgertum gibt." Dazu gehört Gebert selbst, dessen Eltern aus den Sudeten stammen, der sich aber "gar nicht mehr erinnern kann, je woanders gewesen zu sein" als hier.

Seit Jahren kommt Gebert fast jeden Tag mit dem Fahrrad auf die Insel, 15 Minuten, im Winter auch mal mit Spikes an den Reifen, wenn der Boden und sein Belag es empfehlen. Er kann dann vorbeifahren an Ahorn und Eichen, an 300 Jahre alten Buchen. Er sieht Urwüchsigkeit, mitten in der Stadt, und er sieht den Wuchs des Hauses und seiner Gesellschaft.

Blühen lässt sich nicht allein in Blüten messen

Beim Aufbau des Peißnitzhauses halfen die Erfahrungswerte, die man als Bürger der Deutschen Demokratischen Republik so gesammelt habe, sagt Gebert. Improvisationstalent, klar. Es fällt auch der in seiner Konnotation verpestete Begriff des Kollektivs. Mal eine Gruppe nach vorne bringen, nicht nur sich selbst. Wann, bitte, ist daraus ein verrückter Gedanke geworden?

Man möchte jetzt eigentlich noch ein Foto machen, zum Abschied, vom Gartenlokal und dem Haus dahinter, und dann könnte man dieses Foto nachträglich einkleben in einen Band, den Gebert vor Jahren gestaltet hat. "Wilder Osten - blühende Landschaft". So wie sich Reichtum und Armut nicht immer in Geld messen lassen, lässt sich Blühen nicht allein in Blüten messen. Von der Bühne klingt die Gitarre eines Liedermachers nach, ein feines, leichtes Zupfen, kein Marmorsteinundeisenbricht.

Apropos: Drafi Deutscher hatte das Peißnitzhaus auch schon mal kaufen wollen, am Ende fehlte Geld. Deutscher hätte aus dem Haus einen Blues-Schuppen gemacht. Dass ihm das nicht gelang, ist dann doch irgendwie ein gutes Zeichen. Den Blues hat der Osten schon viel zu oft.

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SZ vom 23.07.2015/sks
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