Kuriosum Kleinwalsertal:Eine Insel in den Bergen

für Beilage Kleinwalsertal

Der Frühling kommt spät ins Kleinwalsertal. Im Wildental blühen die Trollblumen.

(Foto: S. Leitner)

Das Kleinwalsertal gehört zu Vorarlberg, ist aber nur von Deutschland aus erreichbar. Die Menschen haben es stets verstanden, das Beste aus ihrem Nischendasein zu machen.

Von Dominik Prantl

Dachsschinken. Da steht eindeutig Dachsschinken, und Jürgen Scharnagl kennt das etwas ungläubige Stirnrunzeln seiner Gäste nur zu gut. "Ich höre immer wieder, dass es doch sicher Lachsschinken heißen soll." Und dann hält Scharnagl einen Vortrag über den Dachs: Dass man das Tier jagdrechtlich essen darf, und der Kerl nicht so einfach zu jagen ist, und dass man unbedingt junge Tiere nehmen muss, weil die Alten gar abscheulich schmecken.

Ja, der gelernte Koch, Metzger, Jäger und Imker Jürgen Scharnagl passt gut in die sogenannte Genussregion Kleinwalsertal - obwohl er eigentlich gebürtiger Franke ist. Er hatte nur irgendwann genug von der Hektik der großen, wichtigen Küchen. "Ich wollte irgendwann keine Sterne mehr kochen", sagt er. Und so zog er aus dem Nürnberger Raum ins Kleinwalsertal, in dem vieles von dem einfach vorbeizieht, was Jäger wie er oder auch ganz normale Urlauber manchmal gerne hinter sich lassen: Wildschweine, Verkehr, Flüchtlinge. Scharnagl sagt: "Wir sind hier so eine Mini-Insel, wo die Welt noch in Ordnung ist."

Eine Insel in den Bergen. Das war das Kleinwalsertal schon immer, und zwar durch eine territoriale Eigenheit: Die Grenze keilt hier noch einmal nach Norden aus, so dass die Region Kleinwalsertal als österreichischer Zacken in den südlichsten Ausläufer des Allgäus hineinragt. Der Zugang führt allein von Norden über Deutschland ins vom Rest Österreichs abgeschnittene Kleinwalsertal. Experten nennen solche Sackgassen eine funktionale Exklave.

Kleinwalsertal

Kleinwalsertal l

(Foto: SZ)

Besiedlungshistorisch gesehen gibt es die verrückte Grenze seit dem 13. Jahrhundert, als Walser aus dem deutschsprachigen Teil des Wallis einwanderten, wahrscheinlich über den Gemstelpass. Stefan Heim, Chronist in dem Kleinwalsertaler Ort Riezlern, sagt: "Im Grunde waren das Wirtschaftsflüchtlinge." Weil der Talgrund zwischen 1000 und 1300 Metern Höhe liegt, dort also, wo die Vegetationszeiten relativ kurz sind und der Schnee meist bis ins Frühjahr liegen bleibt, trafen die Zuwanderer auf eine menschenleere Gegend.

Und auch wenn das Kleinwalsertal im machtgetriebenen Gebiete-Pingpong der folgenden Jahrhunderte mal einem Herzog, mal zum Königreich Bayern, dann wieder zum Kaisertum Österreich und während der Nazi-Diktatur sogar zur Verwaltung Schwaben gehörte, hat sich eines laut Heim nie geändert: "Das Kleinwalsertal orientierte sich beim Handel schon immer in Richtung Norden." Richtung Oberstdorf im Allgäu also, wohin das Tal sich öffnet.

Dass man auf den Genuss setzt, bringt allein schon die Geografie mit sich

Das Kleinwalsertal und seine Berge waren noch aus einem anderen Grund bereits ein bisschen Deutschland, bevor jene Touristenscharen aus dem Nachbarland einfielen, die heute 85 Prozent der Gästenächtigungen ausmachen: Seit dem Zollanschlussvertrag 1891 verläuft die Zollgrenze nämlich nicht entlang der administrativen Trennlinie am Talanfang, sondern auf dem Bergkamm südlich des Talschlusses.

Vor Zeiten des Schengener Abkommens bedeutete das ein echtes Kuriosum: Die Zöllner kamen aus Deutschland, die Polizei aus Österreich. Weil Grenzkontrollen fehlten und das Bankgeheimnis Anonymität gewährleistete, war die funktionale Exklave auch ein Paradies für Anleger. In diesem Jahr fällt das Bankgeheimnis für Ausländer, und es ist wohl kein Zufall, dass seit Dezember mehrere Filialen zwischen Riezlern und Mittelberg geschlossen haben.

Der geschichtlich versierte Heim erinnert sich auch noch gut an Plakate, auf denen zwar mit Österreich als dem Inbegriff des Bergurlaubslandes geworben wird, aber auch mit dem Hinweis auf das deutsche Wirtschaftsgebiet. Bis zur Euro-Einführung wurden D-Mark und Schilling gleichermaßen akzeptiert. "In der Telefonzelle konnte man sogar einfach die Währung wechseln", sagt Heim. Und das Beste: "Sowohl nach Deutschland als auch Österreich telefonierten wir zum Inlandstarif." Tempi passati.

Die Grenzen schwinden, erst recht im Alpentourismus. Das Kleinwalsertal kooperiert heute sowohl mit Oberstdorf in Deutschland als auch Vorarlberg in Österreich - und muss gleichzeitig am eigenen Profil arbeiten. So vermarktet sich die Insel mit Sonderstatus heute als eine von mehreren Genussregionen Österreichs, die sich vor allem über regionale Produkte definieren.

Dass man auf den Genuss setzt, bringt allein schon die Geografie mit sich. Für Steilwand-Alpinisten, die den Berg mehr als extreme Herausforderung denn als Kontemplationsterrain betrachten, eignen sich die umliegenden Zweitausender nur bedingt. Klar, wo ein Fels ist, da ist auch immer eine schwierigere Kletterei, und wo sich ein Hang in den Weg stellt, kann man diesen auch bis zur totalen Erschöpfung hochrennen. Aber im Grunde ist das Kleinwalsertal der Ort für den klassischen Wanderer, dem es weniger um Best- als um Mahlzeiten geht. Für manchen eröffnet das neue Chancen.

Ein vormaliger Haubenkoch setzt nun auf Naturprodukte und Genusswanderungen

Wer beispielsweise freitags über den Wochenmarkt in Hirschegg schlendert, trifft möglicherweise auf Herbert Edlinger. Der gebürtige Oberösterreicher ist ein Seelenverwandter von Scharnagl. Er war mal Küchenchef in einem Zwei-Hauben-Lokal und profitiere noch immer von dem dort angelernten "Qualitätsdenken", sagt er. Aber jetzt sei er "voll in die Naturprodukte-Schiene rein". Mittlerweile vertreibt Edlinger regionale Produkte wie Käse und Marmelade, viele davon aus eigener Herstellung. Darüber hinaus veranstaltet er Genusswanderungen für die Gäste verschiedener Hotels; rund um den Widderstein beispielsweise, zum Gottesacker oder zum Hörnlepass.

Natürlich geht es ihm bei seinen Wanderungen ums gute Essen, aber mindestens ebenso wichtig sei es ihm zu erklären, "wie das Tal tickt". Selbst als Genussregion mit Inselcharakter ist es nämlich gar nicht so einfach, sich von anderen abzugrenzen. Allein in Vorarlberg gibt es vier Genussregionen, im benachbarten Tirol sogar zehn, wobei jede einen eigenen Schwerpunkt setzt. Das Kleinwalsertal stehe beispielsweise für Rind und Wild, nur vermisse Edlinger manchmal das Selbstbewusstsein. "Wir denken immer noch oft, die anderen sind besser. Dabei haben wir die Regionalität sehr früh gelebt. Da sind wir Vorreiter."

Denn so eine Insellage hat ja nicht nur den Vorteil, dass vieles vorbeizieht. Man lernt auch manchmal mit dem auszukommen, was man hat.

Kleinwalsertal

Anreise: Ins Kleinwalsertal führt nur ein Weg: über Oberstdorf. Vom dortigen Bahnhof verkehrt die Walserbus-Linie 1.

Restauranttipps: Die Walserstuba in Riezlern ist "Österreichs Genusswirt des Jahres 2015/2016", www.walserstuba.at, Tel. 0043-5517-53460. In Scharnagls Alpenhof in Riezlern gibt es Ungewöhnliches wie etwa Dachsschinken, Tel. 0043-5517-5276, www.scharnagls.de.

Informationen: Kleinwalsertal Tourismus, Tel., 0043-5517-51140, www.kleinwalsertal.com. Dominik Prantl

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