Der erste Urlaub allein (VIII):Auf Knien vor Elvis' Grab

Naiv stolperte unser Autor dereinst durch die USA. Doch die Gewissheit, dass er alles schaffen kann, gab ihm das Bairisch von Franz Beckenbauer.

Willi Winkler

Meine erste Reise war auch mein erster Flug und begann in Frankfurt. Kaum hatte mich mein Bruder am Flughafen abgesetzt, wurde eine Verspätung für New York bekannt gegeben, die schließlich so lang dauerte, dass man die Passagiere in ein Hotel verfrachtete.

Der erste Urlaub allein: Die gerettete Schlangenhaut, pixelio

Aus der Wüste trug der Autor keine Schlange, sondern nur die Haut nach Hause.

(Foto: Foto: pixelio)

Einzelreisende wurden, nach Geschlecht sortiert, zwei und zwei in jeweils ein Zimmer mit zwei Betten gepackt. Mein Nachbar war alt und kratzte sich noch im Schlaf ständig. Als wir uns hinlegten, fragte er misstrauisch nach meinem Namen und sagte dann zufrieden: "Gut, kein Jude." Bei ihm sei's anders, er heiße Hoffmann, und leider gebe es auch viele Juden mit diesem Namen. Aber gut, das war 1978, und da lebten die eingefleischten Nazis alle noch.

Ein Jahr fast hatte ich in der Fabrik gearbeitet, um das Geld für Amerika zu verdienen. Ich wollte weg aus Deutschland und wollte da hin, wo es keine Rasterfahndung und keine Bild-Zeitung und keine humanistische Bildung gab. Wer wollte 1978 schon in Deutschland bleiben, in dieser (wunderbarer Handke:) "bundesrepublikanischen Weltsenke"? Filbinger musste zugeben, dass er noch 1945 an Todesurteilen mitgewirkt hatte, und in der Arbeit hatte ich's erlebt, wie die tagtäglich Bild-Zeitungsgenährten Kollegen nur vom "Aufhängen!" und "Kastrieren!" redeten und sich "einen Hitler" herwünschten, der sie entschädigt hätte für ihr jämmerliches Leben.

Amerika war weit genug weg. Der Atlas war mein Gebetbuch im Internat, und Wörter wie Titicaca oder Khartum oder Anchorage flüsterte ich in den Studierzeiten wie andere Leute vielleicht Stoßseufzer. Wenn ich nur weg wäre! Im Diercke-Atlas hieß Salt Lake City damals noch korrekt "Salz-See-Stadt" und wurde dadurch auch nicht leichter erreichbar.

Genau da musste ich hin. Ich wollte wie Old Shatterhand in die Llano Estacado und den Schatz von Tom Sawyer finden und hören, wie John Fogerty die Songs von Creedence Clearwater Revival brüllte.

An einem arbeitsfreien Nachmittag bin ich in die Stadt ins Reisebüro und habe Frankfurt-New York gebucht und ein Monatsheft für Fahrten im Greyhound-Bus gekauft. Aber dann in New York hatte ich doch Angst.

Ich traute mich kaum auf die Straße. In jedem Taxi saß Travis Bickle und überlegte, wen er umbringen könnte. Auf den Dächern standen Holztürme wie Silos. Unten dampfte es aus Gullys. Jeder Straßenverkäufer hatte es nur auf mein Geld abgesehen. Am Times Square hochhaushoch: King Kong.

Zuerst konnte ich fast kein Wort verstehen. In einer Deli in Manhattan verlangte ich einen orange juice und meinte ihn einigermaßen richtig bestellt zu haben. Der alte Mann hinter der Theke sah mich böse an, überlegte einen Moment und knallte mir dann den Quader mit den Worten auf den Tisch: "Here is your safft!" Der Mann, aber das wurde mir erst hinterher klar, war Jude, und ich war erkennbar ein Deutscher. Im amerikanischen Fernsehen war wenige Wochen zuvor die Serie "Holocaust" gelaufen, die Geschichte der Familie Weiss.

Auf Knien vor Elvis' Grab

Als ich aus dem Hotel auszog, in dem ich erst mit Reisebekannten zusammengelebt hatte, wurde die Angst vor der Fremde noch größer. In einem rimbaudesken Einfall, und weil es die Amerikaner mit dem Melderecht nicht so streng haben, erfand ich mir einen Namen, unter dem ich mich beim YMCA eintrug. Ich wollte kein neues Leben, aber endlich zu leben anfangen, in Amerika. Als ich dann mit Reiseschecks zahlen wollte, flog der Schwindel schon wieder auf.

Es folgten weitere il- und halblegale Aktivitäten: in einem halbfertigen Haus in San Jose geschlafen, obwohl ein Schild vor Patrouillen und Hunden warnte; einmal auch vor der Kirche, hinter einem Bürgerkriegsdenkmal. Im Yosemite Park weggeworfene Flaschen gesammelt, brachte fünf Cent das Stück. Einen Tag bei der Aprikosenernte dabei, zwanzig Dollar. Zweimal mich bei der Heilsarmee als mittellos ausgegeben, um ein kostenloses Nachtlager zu bekommen, und dann die ganze Nacht Angst, ich würde von den anderen Pennern beklaut werden und die Sorge, Wanzen könnten mich auffressen.

Aber ich wollte es unbedingt schaffen, nämlich dableiben. In Toronto, als ich so vor mich hinging und nichts Böses dachte, hörte ich plötzlich jemanden vor mir Bairisch reden. Es war kein Heimweh, was mich da packte, im Gegenteil. Es war Franz Beckenbauer, der damals für Cosmos New York spielte und ein Interview in einem so herzzerreißenden Englisch gab, dass ich mir wieder alles zutraute, sogar das Überleben in diesem Land.

In den drei Monaten habe ich außer Hawaii und Alaska fast alles gesehen: Bin mit der Fähre über den Lake Placid und stand im Regen auf dem Empire State Building, wanderte durch den Yellowstone Park und im Tal des Todes, war in Chinatown in San Francisco und in Mount Rushmore, in Disneyland und sogar in der "Gurkenhauptstadt der Welt" und habe ungeniert am Grab von Elvis gekniet, der noch kein Jahr tot war.

Einen Monat bin ich mit Greyhound-Bussen gefahren, nach Burlington in Vermont, nach Iowa, nach Eureka. Öfter dauerte die Fahrt über Nacht, so dass man im Bus schlafen konnte, und dann hingen viele weitere Nachtgespenster im Bus, der gleichmäßig vor sich hin durchs Dunkel schaukelte.

Manchmal hielt er, damit man aufs Klo oder einen Kaffee trinken konnte, und dann stand da ein alter Schwarzer, der eine Mütze mit silberner Beschriftung aufhatte und den Hamburgerdreck auf eine große schwere Schaufel fegte, und manchmal sang Tammy Wynette aus dem Radio im Coffee Shop "Stand By Your Man" oder Patti Smith "Because the Night".

Nach Buffalo musste ich wegen der Niagarafälle und ließ mir von der Bahnhofsmission ein billiges Hotel nennen. Als ich nach einem Rundgang durch die völlig entkernte Innenstadt wieder zum Zimmer wollte, sagte der Nachtportier allen Ernstes: "Warum kommst du in dieses Rattenloch zurück? Dachte, Du wärst doch noch woanders hin." Die Tür war am Rand geborsten, das Schloss ein Witz. Ich spreizte einen lattigen Stuhl unter den Türgriff und schlief ein. Einmal wachte ich auf, als die Nutten draußen sich mit einem Freier stritten, aber das ging vorbei und schließlich hatte ich mir Amerika genau so vorgestellt.

Auf Knien vor Elvis' Grab

Es wurde aber noch besser, als ich nicht mehr mit dem Bus, sondern mit Autostopp weiterreiste. Über siebzig Mal bin ich mit fremden Menschen mitgefahren. Sie erzählten von ihrem Leben und wollten von mir hören, ob ich nicht Angst hätte, allein, und es gäbe doch so viele Verrückte draußen auf der Landstraße. Ja, gab es, und nein, ich hatte keine Angst, denn das Autostoppen kostete nichts und so konnte ich länger bleiben.

Ich bin bei Hippies und Pastoren mitgefahren, mit Hausfrauen und Studentinnen, mit gescheiterten Existenzen und reichen Touristen. Manche bewirteten mich oder nahmen mich mit nach Hause, damit ich meine Sachen waschen konnte.

Im Yosemite Park freundete ich mich mit einem College-Studenten an, der mich aufforderte, ihn daheim zu besuchen. Dort, in einem Vorort von Los Angeles, wohnte die moralische Mehrheit des Landes, schwärmte von einer lebensentscheidenden Begegnung mit John Wayne an der Tankstelle. Anschließend wurde mit diesen unerträglich lacken Budweiser-Dosen das vorbildlich gegrillte Steak begossen. Nicks Vater hasste Leute wie mich, aber wie ein guter Vater fuhr er mich ans Stadion in Anaheim, als die Rolling Stones spielten.

An einem Morgen bin ich am Boden des Grand Canyon aufgewacht, der Colorado River plätscherte leis, der Mond stand voll am Himmel, niemand da in diesem Reich zwischen Traum und Tag. Ich wusste nicht, dass es erst vier Uhr war, und so aß ich etwas von der Plastikpfefferwurst, die ich am Tag vorher gekauft hatte, nahm Wasser mit und begann den Aufstieg durch die Gesteinsformationen, die in der Morgensonne immer noch exotischer wurden.

Oben nahm mich ein Schweizer Ehepaar mit, aber erst, nachdem ich unterschrieben hatte, dass sie bei einem Unfall keinerlei Haftung für mich übernähmen. So kamen wir nach Las Vegas, wo ganz andere Farben leuchteten, als wir in einem Hotelpool auf dem Dach kostenlose Drinks serviert bekamen. Ich wollte nie wieder zurück nach Europa.

In den Bars, den Truckstops, den Tankstellen standen die echten Wurlitzer, und ich konnte die Billardspieler im Hintergrund regelmäßig ärgern, wenn ich "Far Away Eyes" drückte, die neue Single der Rolling Stones, auf der sich Mick Jagger in einem erschreckend echten Texas twang über die countryfrommen Amerikaner lustig macht: "Thank you Jesus, thank you Lord!"

Auf dem Weg zurück vom Crater Lake in Oregon hatte ich Pech. Die Autos mit den Ausflüglern waren voll, die Familien hatten es eilig, wieder nach Hause zu kommen. Kilometer um Kilometer, Meile um Meile bin ich gelaufen, während es immer kälter wurde.

Mein Rucksack lag im Schließfach am Busbahnhof, ich hatte nichts zu essen und zu trinken, und links und rechts gab es nur riesige Viehweiden. Die Rinder kamen von beiden Seiten zur Straße heran und brüllten mich Exoten an. Sie kannten das ja nicht, jemand, der sich so langsam voran bewegte, ohne Auto, ohne Schutz. Seit Stunden hatte ich nichts gegessen und war schließlich froh, als ich einen halbgegessenen Mars-Riegel auf der Straße fand und ganz langsam kauen konnte. Die Viecher schauten verständnislos und brüllten weiter.

Auf Knien vor Elvis' Grab

Ja, die Natur! Einmal schlief ich draußen in der Wüste, nördlich von Phoenix: Der Boden war rot, ein paar Kakteen, Vulkanberge, zwischen denen sich die Straße verlor. Ich bräuchte mich nicht zu fürchten, sagte Tom, der mich mitgenommen hatte, nur morgens sollte man sich die Schuhe genau anschauen. Tom hatte vielleicht oder auch nicht seine Frau verlassen und sich davongemacht, jedenfalls redete er immer davon, wie wichtig in Amerika die Familie sei.

Wir lagen in zwei Meter Abstand auf unseren Sachen im Schlafsack, und als über der roten Wüste die Sterne herauskamen, gab es ohnehin nichts mehr zu reden. Am Morgen war keine Schlange im Schuh. Tom brachte mich zur nächsten Tankstelle und drehte dann um, zurück nach Kalifornien. Beim Warten auf den nächsten, der mich mitnähme, entdeckte ich am Wegrand eine abgeworfene Schlangenhaut, und ich nahm sie mit, als Beweis, dass ich kein Angsthase war.

Bei einem Hippie, der in einer selbstgebauten Hütte am Stadtrand von Albuquerque lebte, gab ich mich schon als Kalifornier aus, in Modesto geboren, der Stadt, in der "American Graffiti" spielt. Er reichte mir den Joint und erzählte, dass die amerikanische Regierung die Cannabis-Plantagen in Mexiko und Venezuela mit dem Flugzeug besprühe, um die Raucher zu betäuben, womöglich politisch umzuerziehen. Ich glaubte ihm nicht, aber von diesem Joint bekam ich höllische Kopfschmerzen.

Ich fuhr auf der Route 66, wenn auch in der falschen Richtung, von Westen zurück nach Osten. Amerika war eine einzige, nie unterbrochene Landstraße, an der sich die mythischen Orte reihten, die Bobby Troup in seinem Lied besingt: Flagstaff, Gallup, Amarillo, Tulsa, St.Louis. Es war alles genauso, wie es sich gehörte, und nicht einmal die Winchester fehlte, die sich die Leute ins rückwärtige Fenster ihres Pickups geklemmt hatten.

Am Stadtrand von Los Angeles stand ich sieben Stunden; danach hatte ich den schlimmsten Sonnenbrand meines Lebens. Meistens ging es schnell; ich war jung und noch recht blond und von der Landstraße braun gebrannt.

Bei Fort Worth in Texas nahm mich einer mit, den weniger mein Fortkommen interessierte als meine langen Beine. Er lobte, wie braun ich geworden war, schwärmte von "Kraftwerk" und bot mir zwei Dollar, wenn er die Hand auf den Rand der Shorts legen dürfe. Das war mir dann doch zu wenig, und ich bat ihn, mich rauszulassen. Er seufzte, brachte mich zur nächsten Raststätte und drehte winkend um. Die Amerikaner sind gutherzig.

Auf Knien vor Elvis' Grab

Mit dem nächsten fuhr ich quer durch Oklahoma. Brian war etwas übergewichtig und erzählte zwei Stunden lang von seiner entfernten Cousine, der allseits überdeterminierten Dolly Parton. Die Straße schnitt schnurgerade durch Hügel und Felder, am Rand die Silos der Farmen, Rinder, Bohrtürme. Ich träumte noch immer von Amerika, aber das war es doch. Brian redete, ich hörte nur immer "my cousin Dolly Parton" und aus dem Radio kam mit Dolly Parton gesprenkelte Country-Musik.

Mitten in der Nacht setzte er mich in einem Wäldchen mitten in Oklahoma City ab und bog irgendwohin ab, vielleicht zu seiner Cousine. Ich wusste nicht, wo ich war und machte, was ich immer machte: Ich rollte meinen Schlafsack aus und schlief. Was sollte mir schon passieren, das war doch Amerika. Und Amerika war die Landstraße, die wie im Traum nie aufhörte, nur dass alles echt war.

Ich war vollends Amerikaner geworden und wirklich naiv. Obwohl ich meine Formationsjahre in einem Bubeninternat verbracht hatte, wusste ich kaum, dass es so etwas wie Homosexualität gab, geschweige denn, wie das aussehen sollte. Am nächsten Morgen, Sonntag, bin ich früh auf wegen der Kälte und vor zur Straße.

Der Mann fuhr schon eine ganze Zeitlang neben mir her und rief mich dann an. Ich müsse zur Autobahn, sagte ich, und er: "Steig ein!" Heute würde ich sagen, dass er wie ein Kinderschänder aussah. Ich war ja auch noch fast ein Kind; nach dem Recht, das in den meisten Bundesstaaten galt, durfte ich mit 21 erst seit vier Monaten in der Kneipe ein Bier bekommen.

Er murmelte was von "Schlafen", was mir nach der kühlen Nacht recht verlockend vorkam. (Ja, ich war naiv!) Er brachte mich in eine Art Besenkammer und ließ mich hinlegen, was mir, wie gesagt, nur recht war. Er begann dann, an mir herumzufummeln, bis ich endlich merkte, dass er auf das aus war, was der Pater im Religionsunterricht mit "widernatürliche Unzucht" umschrieben hatte.

Bevor es ganz schrecklich widernatürlich wurde, hatte ich den rettenden Einfall: Zu Hause warte meine Braut auf mich, und wir würden in wenigen Wochen heiraten. Da ließ er brummend ab von mir und brachte mich zur Raststätte an der Autobahn. Die Amerikaner sind nicht bloß herzensgute Menschen, sondern glauben auch noch an die Familie.

Nach drei Monaten fuhr ich wirklich zurück nach Deutschland. Filbinger war mittlerweile zurückgetreten, aber an der Autobahn nahm mich keiner mit; ich musste mit dem Zug nach Hause. Die Schlangenhaut aus der Wüste in Arizona brachte ich meinem Bruder mit, der geheiratet hatte und inzwischen Vater geworden war. Seine Frau hat das "greislige Zeig" irgendwann weggeschmissen. Das war Amerika.

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