Der erste Urlaub allein: Nordamerika:Der Schweisstreiber

Durchs sommerliche Nordamerika reiste unser Autor Mitte der siebziger Jahre im dunkelbraunen Samtanzug, was ihm allerorts staunende Bewunderung einbrachte.

Michael Winter

Die erste Fernreise, die ich Mitte der siebziger Jahre allein unternahm, führte mich über New York, Mittelkanada und Salt Lake City nach Los Angeles. Ich hatte mich in eine Kommilitonin verknallt, aber sie ging mit einem Stalinisten ins Bett. Aus Trotz hatte ich mir beim Herrenausstatter Seelbach am Berliner Ku'damm einen jedes studentische Budget überschreitenden braunen Samtanzug und dazu eine mächtige braune Samtschleife gekauft.

Erinnerungen an die erste Reise: Beverly Hills, Pixelquelle

Palmengesäumte Straße in Beverly Hills

(Foto: Foto: Pixelquelle)

Die Maoisten, Stalinisten und Stamokaptheoretiker aus dem Seminar sagten angesichts des deutlich von Dutschkes Ringeloutfit abstechenden Kleidungsstücks, das würden sie nur akzeptieren, wenn ich schwul sei.

Ein Studienfreund hatte nach seiner Promotion über ein Thema zu einem frühneuhochdeutschen Text entnervt von den Marxismus-Diskussionen im germanistischen Seminar der Technischen Universität ein Angebot nach Kanada angenommen. Er hatte mich eingeladen. Das einzige Reisebüro in meinem norddeutschen Heimatort hatte die Flüge gebucht und mir für ein paar Hotels Gutscheine ausgestellt. Es organisierte einen Kanada-USA-Rundflug. Ich steckte Traveller Checks ein und packte möglichst ökonomisch. Das bedeutete, der Samtanzug passte nicht in den Koffer.

Ich zog ihn an, und dabei blieb es.

Das Material erwies sich auch durchgetragen und abgeschabt als unverwüstlich, und ich gab das Kleidungsstück, das selbst die Motten verschmähten, vor allem wegen des winzigen Risses am rechten Oberarm nie auf, auch als es längst aus der Mode war und ich nicht mehr hineinpasste.

Die Einreise in die USA war so einfach wie heute die nach China. Als ich am Kennedy Airport ins Taxi stieg, sah mich der schwarze Fahrer von oben bis unten an, wischte sich den Schweiß von der Stirn und sagte: "Oh man!" Aber so, dass ich im Zweifel bleiben konnte, ob er mich bewunderte.

Damals war es noch nicht Mode, mit ausgestrecktem Arm auf Leute zu zeigen. Vielleicht hätten die Herren (es gab kaum Frauen am Front Desk) an der Rezeption des New Yorker Hilton das am liebsten getan, als sie des Anzugs ansichtig wurden.

Sie waren gut gelaunt, als sie mich zwischen den Geschäftsleuten in Nadelstreif erblickten und hofften, dass ich eine neue Entdeckung sei. Jedenfalls wurde ich sehr zuvorkommend behandelt. Man gab mir ein Zimmer in einem der obersten Stockwerke.

Ich machte eine organisierte Stadtrundfahrt und staunte über die Leute, die unter den Fontänen tanzten, die aus den Gehwegen schossen, weil es im Hochsommer in New York offenbar üblich war, die Hydranten umzuhauen.

"Stell dich da mal drunter mit dem Ding, das du da anhast, dann siehst du aus wie ein nasser Dobermann", sagte mein Busnachbar in breitem Texanisch, ohne im Geringsten daran zu zweifeln, dass ich ihn verstehen würde (es hörte sich an wie: loolaikawäätdobman). Ich hätte große Lust dazu gehabt, denn der Anzug erwies sich als unpraktisch für das New Yorker Wetter.

In Thunderbay war es kühler. Der Ort liegt nahe der Nordspitze des Lake Superior, besteht aus den Städten Port Arthur und Fort William, hat eine Universität und viele einzeln stehende Villen aus Holz, solche, die man heutzutage im Fernsehen durch die Luft wirbeln sieht.

Das Haus war groß, und in der Garage stand ein Auto, das aussah wie ein Denkmal für eine Keksdose mit einer unvorstellbaren Zylinderzahl und einem ebenso unvorstellbaren Spritverbrauch. Und dann zeigte mir Freund Gerhard, der sich zwischen Vor- und Nachnamen zu seinem Professorentitel den Buchstaben P. hatte einfallen lassen, um sich den amerikanischen Gepflogenheiten anzupassen, Kabel, die von Steckdosen direkt in den Motorraum führten. Das sei die Motorheizung für den Winter. Ich konnte mir vierzig Grad Kälte nicht vorstellen.

Der Schweisstreiber

Wir fuhren mit dem Vehikel zum Nippigon See, eine Tagestour. Da sah es aus wie in Finnland. Kanada war für mich nichts anderes als ein in die Länge und Breite gezogenes Skandinavien, ein schönes trauriges, friedliches Land, nach dem ich seitdem nie Sehnsucht hatte.

Ich wollte das Vehikel mal fahren, und da ich noch nie am Steuer eines Wagens mit Automatikgetriebe gesessen hatte, endete der erste Versuch mit einem abrupten Bremsvorgang. Gerhard hätte sich beinahe die Zähne eingeschlagen, weil er gerade dabei war, einen Schluck aus der Whiskeyflasche zu nehmen. Ich musste dennoch weiterfahren, denn Professor Gerhard sprach dem Whiskey weiter zu und war bald nicht mehr fahrtüchtig.

Auf meine Frage, ob es hier Bären gebe, sagte er: "Halt mal an und steig aus, und dann stell dich mit deinem Anzug da an den Baum. Dann gibt es hier auch Bären."

Wir flogen nach Salt Lake City, wo Professor Gerhard einen Vortrag über Friedrich Dürrenmatt halten sollte und stiegen in einem nicht sehr teuren Hotel ab. Er hatte einen schweren Koffer dabei. Ich war erstaunt, darin nichts als kalifornischen Wein zu sehen, und ich verstand seine Vorsorge sehr bald.

Utah ist das Land der Mormonen, ein schwarzes Loch des Puritanismus. Auch hierher nie wiederzukommen, habe ich mir damals geschworen, und es gibt Schwüre, die man leicht ein Leben lang halten kann.

Ein Lektor für Deutsch an der Universität holte uns vom Hotel ab. Wir fuhren auf den Salzsee. Es gab Pisten für Touristen. Erstaunlich war der Himmel, unveränderbar blau wie eine Schwimmbadfolie. Am Abend färbte er sich in allen denkbaren Orangetönen ein. Alles sah trocken aus. Auch der Lektor, der von Lemgo schwärmte, von wo er jeden Morgen nach Detmold an die Musikhochschule zum Hornstudium gefahren sei.

Professor Gerhard fragte nach dem Sinfonieorchester in Salt Lake und seinem Chef Maurice Abravanel. Sie gerieten in einen Streit über die Interpretation der ersten Sinfonie von Gustav Mahler, bis wir vor dem Mormonentempel angelangt waren, ein sechstürmiges Kirchenungetüm, in dem in kitschigen Großbildern der Lehre des Brigham Young gedacht wurde. Der "Moses Amerikas" hatte 52 Frauen und 57 anerkannte Kinder. Er war unter anderem fest davon überzeugt, dass das Paradies in Nordamerika gelegen habe.

Professor Gerhard hatte Mühe, ernst zu bleiben und steckte mich mit seinen unterdrückten Lachanfällen an. Wir fragten den Lektor, der sich als Mormone zu erkennen gab, ob er mehrere Frauen habe. Er sagte, dass ihn das alle fragen würden. Eine Antwort gab er nicht.

Links die Frauen, rechts die Männer

Angesichts des Abendhimmels fragte ich, ob es hier nie regne, und er sagte: wenige Tage im Jahr, und wenn sich Wolken am Himmel zeigten, würden immer ein paar Leute von den höchsten Gebäuden der Stadt springen, weshalb man an diesen Tagen die Zugänge zu den oberen Stockwerken sperren würde.

Durch die Mitte der Gaststätte lief eine halbhohe Wand. Links die Frauen, rechts die Männer. Die Regelung war damals im Umbruch begriffen und so heiß diskutiert wie heute die Zonen für Raucher und Nichtraucher. Wir gingen in ein gehobenes Restaurant. Es wurde kein Alkohol serviert, aber man durfte selbst mitgebrachte Weine am Tisch zum Essen trinken. Man musste sie auch, und das war wichtig, selbst entkorken.

Der Schweisstreiber

Professor Gerhard hatte eine schmale braune Lederkrawatte umgebunden. Solchen Hemdschmuck trug er schon in Berlin. Mein Outfit wurde nur geduldet, nachdem der Professor sich ausgewiesen hatte und mich als seinen Gast.

Auf dem Flug von Salt Lake City via San Francisco nach Los Angeles mit einer inneramerikanischen Airline, an deren Namen ich mich nicht mehr erinnere, zupfte eine Stewardess diskret an meinem Anzug und fragte: "It's very nice, Sir, where are you from?" Ich antwortete wahrheitsgemäß, und ich sah, wie sich in ihren Augen die Welt veränderte.

Auf der Tour im Touristenbus durch Hollywood fragte der Guide zuerst, woher seine Gäste kommen. Twin Falls/Idaho, Burns/Oregon, Rock Springs/Wyoming, Rapid City/South Dakota. Ein Ehepaar sagte Scottsbluff/Nebraska. Ich saß auf der Rückbank und kam zum Schluss dran, und alle drehten sich um, sahen mich an, und dann applaudierten sie, als hätte ich den Großen Treck geschafft. Ich habe nie wieder eine so überströmende spontane Freundlichkeit erlebt.

Wir fuhren an den Villen der Filmstars in Beverly Hills vorbei: Marlene Dietrich, Kirk Douglas (Rexford Drive), Walt Disney, Elvis Presley (Carolwood Drive), Doris Day (Crescent Drive), Charlie Chaplin (Summit Drive), Humphrey Bogart (Mapleton Drive), Oliver Hardy (Alta Drive), Rita Hayworth, Marilyn Monroe (Palm Drive), Frank Sinatra (Foothill Road).

Ich weiß nicht mehr, wessen Villa es war, in der wir ein riesiges, holzgetäfeltes Privatkino besichtigten. Auch dieser Raum, der alle zum Staunen brachte, hat mich nicht zu einem Cineasten machen können. Die Welt Hollywoods blieb mir mental verschlossen.

Die Universal Studios waren noch nicht zu einem perfekten Vergnügungs-Jurassic-Park ausgebaut. Aber man konnte auch damals schon hinter die Illusionskunst schauen. Es gab Wind-, Regen- und Schneemaschinen, Malereien von Gebirgen auf Sperrholzflächen, die durch das Auge der Kamera fast echt aussahen.

Ekel vor dem Kunstblut

Wir gingen durch Kulissenstraßen im Western- oder im Ostblock-Look. Es wurde mit Platzpatronen geschossen, Stuntmen sprangen aus Fenstern, und man konnte sich Flüssigkeiten für künstliches Blut anschauen. Die Amerikaner aus meinem Bus, fast alle Waffenbesitzer, ekelten sich vor dem Ketchupblut.

Ein Mann in Häuptlingstracht griff mich an der Schulter und stellte mich vor eine Tür, auf die mit einem breiten weißen Streifen eine Körpersilhouette gemalt war. Ehe mir klar wurde, was geschah, hatte er mich an der Tür fixiert. Er strich mit seinen Händen über den Samtanzug.

Dann trat er viele Schritte zurück, und plötzlich surrten Messer um meinen Körper. Ich erstarrte, hielt die Luft an und schloss die Augen. Es dauerte nur Sekunden. Ich wurde gefeiert, die Amerikaner sagten, damit hätte ich mir einen Stern im "Walk of Fame" verdient.

Am Abend entdeckte ich einen kaum sichtbaren Schlitz im Ärmel. Die Messer waren in einem weiten Sicherheitsabstand um meinen Körper eingeschlagen. Vielleicht eines aber nicht. Zurück in Deutschland weitete ich den Schlitz, damit er deutlich sichtbar wurde, und mit dem Schlitz weiteten sich auch im Lauf der Zeit die Geschichten.

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