Der erste Urlaub allein: Interrail:Der Strand unter den Schienen

Für den Interrail-Trip mit 16 brauchte es keine Planung, keinen Reiseführer und kein Wörterbuch. Das Wichtigste war das Ticket und die richtigen Reisepartner. Unser Autor hatte Pech.

Sebastian Schoepp

Wir waren zu dritt. Das war natürlich ein Fehler - vor allem, weil wir eigentlich lieber zu zweit gewesen wären.

Der erste Urlaub allein: Interrail
(Foto: Foto: Pixelio)

Aber Karen und ich waren ja eben erst dem Kinderausweis entwachsen und mit 16 gerade alt genug für ein Interrail-Ticket. Karens Vater war jedenfalls der Ansicht, ich sei allein nicht ausreichender Schutz für seine halbwüchsige Tochter in den schmierigen Wartehallen der Bahnhöfe Europas. Thomas, den wir gerne dabeigehabt hätten, durfte nicht fahren, obwohl er ein Jahr älter war als wir. Aber der hatte einen noch ängstlicheren Vater als Karen. Also fuhr Dirk mit, Dirk aus der Parallelklasse.

Dirk ging mir schon beim Vorbereitungstreffen auf die Nerven. Er war ein Ausrüstungsmonster und Heimwerkertyp, einer von der Sorte, die überallhin ein Leatherman-Allzweckmesser mitnehmen, aber nie etwas damit schneiden, weil es ja schmutzig werden könnte.

Als Erstes konstruierte er das Metallgestell meines neuerworbenen Kraxen-Rucksacks um, dann half er meinem Vater beim Einbau der Kellerfenster, während Karen und ich von Abenteuern am Schienenstrang träumten. "Toll, dass du so was kannst", sagte mein Vater zu Dirk und warf einen vorwurfsvollen Blick auf meine zwei linken Hände. "Ich kann alles", sagte Dirk.

Dirk hatte sich das Geld für die Reise auf dem Bau verdient. Er war nicht gewillt, in den vier Wochen mehr auszugeben, als das Ticket gekostet hatte, also 360 Mark. Dafür konnte man 1980 in ganz Westeuropa (inklusive Marokko) kostenlos herumreisen, nur in dem Land, in dem das Ticket gekauft wurde, war der halbe Fahrpreis zu entrichten. Deshalb wollte Dirk als Erstes nach Rom, weil von München aus der Weg nach Süden am schnellsten aus Deutschland herausführte.

Wir nahmen den Nachtzug über Kufstein, und als ich in der flirrenden römischen Augusthitze im Abteil aufwachte, klebte mein verschwitztes Gesicht an dem Plastiksitz. Das war nicht der einzige Grund, warum ich die Stadt vom ersten Moment an hasste.

Dirk hatte vor der Reise darauf bestanden, dass wir uns alle feste Wanderschuhe kauften. Das Wasser kochte beim Gehen zwischen den Zehen, und der Gummi der Sohlen blieb auf dem heißen Asphalt vor dem Colosseum hängen. Ich weiß seitdem, warum Italiener die Deutschen mit ihren stets zu klobigen Schuhen so mitleidig anschauen.

In Rom lernten wir, dass Italiener kein Englisch können, und dass man in Restaurants schon fürs Hinsetzen 1200Lire bezahlen muss. Das war nichts für Dirk, der wusch lieber in der Pension seine Wäsche.

Ich hingegen träumte davon, eines Tages zu Karen sagen zu können: Weißt du noch, die kleine Kneipe in Rom? Wir fanden in der Nähe des Bahnhofs Termini ein Lokal mit speckigem Plastikvorhang an der Tür, in der ein pampiger Wirt drittklassige Lasagne auftischte. Danach gingen wir zum Bahnhof und suchten auf dem Fahrplan nach einem Zug. Mit Italien waren wir fertig.

Der Strand unter den Schienen

An der Côte d'Azur, meinte Dirk, könnten wir vielleicht auf einem Campingplatz übernachten. Er brannte darauf, seine Schlafkonstruktion mit Biwaksack und leichten Teleskopstangen auszuprobieren.

Die Fernsehserie "MacGyver" war noch nicht erfunden, aber Dirk hätte einen perfekten Hauptdarsteller dafür abgegeben. MacGyver, die Kultfigur der späten Achziger, war eine Art Detektiv, der ständig in ausweglose Situationen geriet, in denen er aus drei, vier Gegenständen, die er fand, also etwa einer Fahrradspeiche, einer Tütensuppe und einem Bügelbrett ein Ultraleichtflugzeug oder ein Kurzwellen-Funkgerät bastelte, mit dem er exakt zwei Zehntelsekunden, bevor die Bösewichte zuschlugen, die Welt rettete.

Nach einem ähnlich improvisierten Muster verlief unsere Reiseplanung, die mir heute, da man bei jedem Ausflug jede Kleinigkeit vorauszuplanen pflegt, geradezu bewundernswert erscheint: Wir hatten keinen Reiseführer, kein Wörterbuch, keine Landkarte. Internet gab es noch nicht. Wir hatten nur das Interrail-Ticket, das aus einem Büchlein bestand, in das man die jeweils nächste Station eintrug. Wir konstruierten uns die Route nach dem Klang der Namen jener Orte, die wir auf dem Fahrplan der Bahnhöfe fanden.

Interrail ist keine Bildungsreise. Die Kathedralen sind die Bahnhöfe, die Landstraße ist der Schienenstrang, die Strände der Bahnsteig. Interrail ist Bewegung um der Bewegung willen, für viele der erste Ausbruch aus den Konventionen des Elternurlaubs, der im schlimmsten Fall Bildungsurlaub gewesen war.

Nur nicht das tun, was man so oft durchlitten hatte, Stadtbesichtigungen etwa. Aber was dann? Wir hatten keine Ahnung. Zum Glück füllte uns das Zugfahren aus.

Beim Warten auf den Nachtexpress nach Nizza lernten wir einen Pakistaner kennen, der uns erklärte, wie man auf smarte Weise einen Zug stürmte. Er postierte sich auf der anderen Seite der Gleise im Schotterbett, und war der Erste im Waggon, während sich die Fahrgäste auf dem Bahnsteig noch vor den Türen balgten.

Das Abteil reservierte der Pakistaner für uns mit alten Zeitungen, Kuchenresten und leeren Flaschen, was andere Passagiere abschreckte. So ergatterten wir ein Sechserabteil zu viert. Wir bezahlten das mit dem strengen Geruch seiner Füße. Als die französische Grenzpolizei in Bordighera in den Zug kam, war unser Helfer plötzlich weg.

In Nizza stellten wir fest, dass der Campingplatz zu weit entfernt war vom Bahnhof. Wir bewegten uns nicht gern von den Schienensträngen weg, unserer noch nicht gekappten stählernen Nabelschnur nach Hause.

Wir holten uns einen Fetzensonnenbrand am Stadtstrand, und abends fragte Karen den Mann am Fahrkartenschalter, wo es in Frankreich noch schön und vielleicht ein bisschen kühler sei. "Oh, an der Atlantikküste!", rief er, als würde er am liebsten mit ihr aus seinem muffigen Kabuff dorthin flüchten. Er suchte uns aus dem Kursbuch den nächsten Zug nach La Rochelle heraus.

Der Strand unter den Schienen

In diesem allerdings half auch der Trick des Pakistaners nicht mehr. Alle, aber auch wirklich alle Sitzplätze waren reserviert, und die Schaffner verhalfen dem Vorrecht der Frühbucher mit eiserner Konsequenz zur Geltung.

Wir quetschten uns in den Gang, der sich an jeder Station mit mehr Rucksäcken, Koffern und Menschen füllte. Es war wie in einem Flüchtlingstreck.

Wir wurden vor die Klotür gedrängt, unter der kleine Rinnsale hervorflossen. Nur Dirk hatte einen Platz in einem Abteil aufgetrieben.

In Marseille stieg ein Betrunkener ein und ließ sich halb auf mich fallen. Er rammte mir seine Knie in die Oberschenkel und begann zu lallen. Ich verstand, dass er in Toulouse aussteigen wollte, und ich ihn bitte wecken sollte. Er stank und röchelte und döste ein. Er hielt einen Mopedhelm im Arm wie ein Schmusetier und trug ein billiges silbernes Armband, auf dem "René" stand.

Ich hörte eine Zeitlang seinen Würgegeräuschen zu, die sich in das Stuckern der Räder mischten. Es gab überhaupt keinen Zweifel, dass er kurz davor war, sich zu übergeben. Aufstehen und flüchten war nicht möglich, im Gang blieb kein Fuß breit Platz.

In Montpellier hielt der Zug, die Lichter des Bahnhofs weckten René. Wo sind wir? lallte er. "In Toulouse", sagte ich. "Oh", sagte René, richtete sich schwankend auf, trampelte über meine Beine, riss die Tür auf und kletterte aus dem Zug. Ich sah noch durchs Fenster, wie er ins Bahnhofsgebäude torkelte. Dann fuhr der Zug an. Ich hatte Platz.

Das war die größte Gemeinheit meiner frühen Jahre, für die ich mich heute noch schäme.

Armer René. Ob er in Montpellier auf einer Parkbank schlafen musste? Wer wohl in Toulouse vergeblich auf ihn gewartet hatte? Dass ich seinen Namen kannte, machte alles noch schlimmer.

In La Rochelle war es in der Tat kühler, zu kühl. Wir wärmten uns vor dem Bahnhof an Tee, den Dirk mit seinem Esbit-Kocher erhitzt hatte. Dann schleppten wir unsere Rucksäcke zum Hafen, wo wir eine baumbestandene Wiese fanden, auf der ein paar Zelte standen. Vor diesen saßen zahnlose junge Vagabunden, die interessanterweise allesamt Kaninchen im Arm hielten.

Wir setzten uns dazu, und Dirk konnte endlich seine Biwak-Konstruktion aufbauen. Vor der kalten Brise des Atlantiks schützte uns unsere Dreckschicht. "Ihr könnt zum Yachthafen gehen zum Duschen, das machen viele hier", empfahlen uns zwei sehr lässige Engländer, "or stay dirty like we do".

Vor Gefahren schützte uns unsere Naivität. Wenn wir abends in die Stadt gingen, wo ich Karen einen Ring bei einem Straßenhändler kaufte, ließen wir unsere Rucksäcke einfach stehen, nur Dirk sicherte seinen mit einem Vorhängeschloss.

Angst hatten wir keine. Wir machten uns einfach keine Gedanken. Heute weiß ich, dass Wissen nicht mächtig macht, sondern ängstlich. Manchmal möchte ich wieder so ahnungslos sein wie damals.

Wir blieben vier Tage am Hafen in La Rochelle, es waren die schönsten der Reise. Dann mussten wir nach Paris. Man müsse nach Paris, wenn man in Frankreich sei, meinte Karen.

Der Strand unter den Schienen

Von der Stadt sahen sie und ich aber nichts. Wir blieben in unserem Billighotel mit den staubigen Troddelvorhängen nahe der Gare du Nord und genossen es, Dirk für einen Abend los zu sein.

Der war trotz strömenden Regens losgezogen und kam Stunden später klatschnass und mit der Nachricht zurück, er habe Nachtaufnahmen vom Eiffelturm gemacht und sich dafür aus ein paar Stöcken und einem Mülleimer ein Stativ gebaut.

Seit diesem Abend war unser Verhältnis zerrüttet. Ich glaube, er fühlte sich allein. Zu dritt geht eben nicht.

In London merkten wir, dass wir des Fahrens müde waren. An der Victoria Station bot uns ein Typ, der sich als Nigel vorstellte, Quartier in seinem Haus für zwei Pfund an. Das war billig genug für Dirk.

Wir nahmen einen der klapprigen Vorortzüge in einen Stadtteil im Süden, er hieß fast wie Brighton, das wir aus dem Englisch-Schulbuch kannten, nur mit einem "x" in der Mitte. Dort schien es nur Schwarze zu geben.

Vom Bahnhof führte Nigel uns durch die Electric Avenue, in der es betäubend nach verfaultem Obst stank. Wieder hatten wir von nichts eine Ahnung. Wie auch? Der Song von Eddy Grant über die Electric Avenue sollte erst drei Jahre später erscheinen. "The Guns of Brixton" von der Punkband The Clash war zwar schon auf dem Markt, aber noch nicht an unsere Ohren gedrungen. Doch was auf der roten Ziegelwand gegenüber dem Bahnhof von Brixton stand, verstanden wir: "Nur ein toter Weißer ist ein guter Weißer."

Nigel war der einzige Weiße in seiner Straße. Sein Haus war schmuddlig und voller Rucksacktouristen wie uns. Manchmal kam Nigels hysterische Mutter vorbei, Mrs.Rose, und nötigte uns Cheese-Maccaroni auf, die sie aus der Dose auf Toastbrot kippte und dann im Grill warmmachte.

Dirk nahm einige nötige Reparaturen am Haus vor. Karen und ich fütterten die Schwäne im Hyde-Park, kauften gebrauchte Singles in Notting Hill Gate, aßen unser erstes Kebab (wieder bei einem Pakistaner) und durchstöberten einen Laden für Schwule in der King's Road, in der es "San Francisco Leather" und andere Sachen zu kaufen gab, von denen wir nicht wussten, was man damit anstellt.

Dass Nigel schwul war, stellte ich eines Abends fest, als er versuchte, mich zu befummeln. Aber ich sei doch mit Karen zusammen, wehrte ich mich: "Ach so", sagte er überrascht, "ich dachte, Dirk wäre ihr Freund."

Wie Nigel zu dieser Meinung gekommen war, wusste ich nicht. Ich weiß nur, dass Dirk und ich zwei Tage später in einem Tunnel am Hauptbahnhof von Brüssel standen und uns anbrüllten. Vordergründig ging es um die Frage, ob wir auf direktem Wege über Köln heimfahren sollten oder über Straßburg, was den kostenpflichtigen deutschen Streckenanteil verkürzte.

Dirk war für Straßburg, außerdem wollte er das Ticket bis zum letzten Tag ausnutzen. Als wir nicht nachgaben, lud er wortlos seinen Rucksack auf und ging. Karen und ich fuhren im Gepäckwagen über Köln nach München. Dort konnten wir unsere Iso-Matten ausbreiten. Wir waren glücklich, heimzukommen.

Von Dirk erfuhren wir später, dass er in Straßburg die Nächte auf einer Parkbank verbracht hatte. Und Karens Vater war sich nach unserem Reisebericht sicher, dass ich nicht der Richtige war für seine Tochter. Karen gelangte kurze Zeit danach zu derselben Meinung. Was bleibt, ist die Erinnerung an den speckigen Plastikvorhang in meinem ersten römischen Restaurant.

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