Der Deutschen liebste Reiseländer: Italien:Aaaah, Malcesine!

Rübermachen: Jahrzehntelang stürmten die Deutschen den Brenner, um im Urlaub auf der anderen Seite ihr Glück zu finden. Und heute? Was ist von unserer Italien-Sehnsucht geblieben?

Von Alex Rühle

Riva. Der Camping al Lago. Hier fing angeblich alles an. Ein älterer Herr mit Lesebrille, Tennisbräune und onduliertem Haar, steht an der Rezeption und sagt: "Wie das losging? Meine Mutter, also das war 1948... - haben Sie Zeit?" Der Mann heißt Carlo Modena, "wie die Autobahn, mir gehört sie zu 50 Prozent, der Rest gehört Herrn Brennero." Der maue Witz wird durch eine großartige Tellerwäschergeschichte wettgemacht, wobei Modenas Mutter nicht Teller wusch, sondern Spaghetti verkaufte. Hier, am Nordufer des Gardasees, an die einheimischen Familien.

Sportlich wie die Bayern - Surfen und mountainbiken am Gardasee

An der Hafen-Piazza von Riva del Garda

(Foto: dpa-tmn)

Im Sommer '48 stand dann diese Gruppe österreichischer Pfadfinder vor ihr. Sie seien mit Rädern und Zelten da, ob sie auf dem Gründstück campen könnten. "Meine Mutter hatte das Wort noch nie gehört und ging zum Bürgermeister um ihn zu fragen, ob das denn erlaubt sei, dieses Camping." Modena spricht das englische Wort aus, als handle es sich um anstößige chinesische Sexualpraktiken. Kam Ping. Dann zeigt er nach draußen, wo sich der Verkehrsbrei entlangwälzt und Werbefahnen an Alumasten klomkern, und sagt: "So ging das los mit dem Tourismus am Gardasee.

Kindheitserinnerungen im Wohnwagen

Wenn man Gründe für die inbrünstige deutsche Italiensehnsucht sucht, kann man verschiedene Strategien wählen: a) an einem durchschnittlichen deutschen Sommertag zum Fenster rausschauen, nach einem kurzen Blick auf grauen Regen, graue Häuser, graue Menschen die Augen schließen und im neuronalen Bilderkatalog den Ordner aufschlagen, auf dem "Fernweh" steht. Was sieht, riecht, fühlt man da? Strände, Felsbuchten, Zypressenhügel, Thymian, Wärme. b) Funktioniert nicht? Dasselbe nochmal machen, bloß diesmal den Ordner "kulturelles Gedächtnis" aufschlagen: Goethe, Seume, Nazarener. Uffizien, Pisa, Giotto, Rom. Rossellini, de Sica, Pasolini. Gianna Nannini, Toscana-Fraktion. c) Funktioniert erst recht nicht? Dann kann man noch einen Wohnwagen mieten, am besten einen Nachbau aus den frühen Sechzigern, so ein winziges Camping-Ei der ersten Generation, und damit auf Spurensuche gehen, das Ding funktioniert nämlich wie ein rollender Nostalgiegenerator: Schon auf dem Münchner Lidl-Parkplatz, auf dem der Wohnwagen beladen wird, bremst ein Mountainbiker, an jedem Lenkerende eine volle Einkaufstüte, und fragt: "Darf ich mal kucken?"

Er linst in den winzigen Anhänger und erzählt dann ungefragt von den Fahrten mit seinen Eltern, damals, Ende der Sechziger, "mit genau so 'nem Schwalbennest. Krass, dass wir da zu dritt reingepasst haben. Aber Mann, das war so schön..." Er breitet in seinen Cargohosen, mit Piercing in der Unterlippe, lachend die Arme aus und ruft über die Betonwüste des Parkplatzes: "Aaaah, Malcesine!"

Brenner-Dorf - wie eine tote Westernstadt

Es gab damals kein Handy, um auf den Campingplätzen am Gardasee anzurufen. Es gab kein Navi, das einem das eigene Auto aus der Vogelperspektive zeigt, als Zentrum einer Welt, die sich, gleichmäßig durchkartografiert, unter einem fortbewegt. Es gab keinen CD-Spieler, dank dem man gleichzeitig mit den Kindern die Brennerautobahn hoch und mit Huckleberry Finn den Mississippi runterfährt. Es gab ja noch nicht mal die Brennerautobahn. Nur den Brenner, den gab es schon. Beziehungsweise noch.

Begrüßungs-SMS aufs Handy

Damals war er das Tor zum Süden, Grenzstau, Schlagbaum, strenge Carabinieri. Heute ist er nur eine Hügelkuppe, auf der man in den höheren Gang schaltet, während TMT Italia eine Begrüßungs-SMS aufs Handy schickt. Alles rollt Richtung Bozen, Trento, Adria, kaum einer nimmt noch die fünf- bis sechsgeschossigen Häuser von Brenner-Dorf wahr, in denen früher all die Eisenbahner und Grenzpolizisten lebten.

Mittlerweile wirken sie wie Kurhotels in der Nachsaison, sandverwehte Eingänge, Klingelschilder ohne Namen, die Fenster haben schwere Lider, die Rollos sind halb hochgezogen, als dämmerten die Häuser noch durch den Vormittag und träumten von der guten alten Zeit, ähnlich wie Felipe Brigo, der seit 1953 in Brenner lebt, früher bei der Bahn gearbeitet hat und jetzt auf der menschenleeren Gasse unterwegs ist, um Medizin für seine kranke Schwester zu holen: "Alle gehen. Alle weg. Schengen hat uns das Genick gebrochen. Wir waren 10.000, jetzt sind wir noch 1000. Wenn um zehn der letzte Zug durch ist, ist das wie eine tote Westernstadt."

Zu dem Zeitpunkt, als Brigo aus Bozen nach Brenner hochzog, begann hier oben eine merkwürdig gegenläufige Wanderungsbewegung: Die einen kamen aus dem Süden, ohne recht zu wollen, die anderen wünschten sich dorthin, wo die einen herkamen, wollten aber die, die herkamen, nicht da haben. Die einen standen in den Zügen aus Süditalien, hatten Wollsocken dabei für die Kälte in Deutschland und hofften auf Arbeit bei VW, die anderen saßen im Käfer und träumten vom dolce far niente in der Wärme, unter diesen Naturmenschen, die anscheinend nur vom Fischen und der Liebe leben.

Der Klinger Verlag hatte 1954 das Gesellschaftsspiel "Italienreise" herausgebracht, in dem gewann, wer als Letzter ins Ziel kam: "In San Remo genießt der Spieler den Anblick der alten Treppengassen und herrlichen Blumenfelder. Er nimmt ein erfrischendes Bad im Mittelmeer und setzt zweimal aus."

Ein Land als Projektionsfläche

Aus dem Spiel kann man genauso wie aus den deutschen Schlagern der Nachkriegszeit heraushören, wie ganz Italien zur Projektionsfläche wurde, ein Idyll irgendwo hinter den sieben Bergen, wo das Wetter besser ist und die Städte heilgeblieben sind - und wo man vorerst gar nicht hinkam. Noch 1955 sang Vico Torriani: "Wie schade, dass Venedig noch so weit ist." Nur ein Jahr später textete Kurt Feltz "Komm ein bisschen mit nach Italien". Das müssen dann auf einmal beeindruckend viele Leute befolgt haben: 1958 erhielt Feltz vom italienischen Staatspräsidenten Gronchi einen Orden für seine außergewöhnlichen Verdienste um den Fremdenverkehr in Italien.

"Sie müssen in einem anderen Land gewesen sein als ich!"

Die Lieder aus dieser Zeit sind akustische Postkarten, Klischeebilder, die nichts mit der italienischen Lebenswirklichkeit zu tun haben, sondern das Bild von einem Reservat der Authentizität malen, in dem der Mensch dem Menschen noch ein Freund ist. Eine ältere Dame, die sich anscheinend von dem Lied "Wenn in Florenz die Rosen blühn" zu einer Italienreise inspiriert fühlte, schrieb danach einen geharnischten Brief an den Texter Gerhard Winkler: Zugverspätungen, überfüllte Hotels, dazu eine unerträgliche Hitze und weit und breit keine blühenden Rosen - Sie müssen in einem anderen Land gewesen sein als ich!"

Etwas Ähnliches kann einem am Fuße der Burgruine von Arco durch den Kopf gehen, ein paar Kilometer über Riva, wenn man auf einer Tafel liest, wie der Arzt Emilio Vambianchi 1874 über die Gegend schwärmte: "Das Auge schwelgt im Wunderbaren, noch nie Gesehenen, das Gemüth wird angeheimelt und in uns der Wunsch rege, recht lange in diesem feenhaften Thale wohnen zu können."

Das feenhafte Thal besteht heute aus Hotels, Outdooroutlets und Roundabouts, und am Ortseingang von Riva begrüßen einen Bastian Schweinsteiger und Arjen Robben von einem bollywoodgroßen Plakat herunter: "Trentino. Stärkt die Muskeln, wärmt die Herzen - FC Bayern Sommertrainingscamp".

Zweieinhalb Millionen Touristen kommen jedes Jahr an den Gardasee, und die Uferpromenade von Riva schaut an diesem Nachmittag so aus, als seien die zwei Millionen alle auf einmal hergekommen. Italiensehnsucht schön und gut, aber es ist so voll, dass man an Flüchtlingslager denken könnte, einige quetschen sich sogar noch zwischen Papierkorb, Parkbank und Kaugummiautomaten. Inmitten der handelsüblichen Horden lagern Gruppen von Bayernfans, die für das Freundschaftsspiel gegen die Nationalmannschaft von Qatar angereist sind, das am Abend drüben in Arco stattfindet.

Tiefpunkt oder Abkehr von der Verklärung?

Vier Jungs aus dem Fanclub 72 Südkurve sagen, sie seien am Morgen um fünf los und würden, je nach Alkoholkonsum, entweder heute abend oder morgen früh zurückfahren. Den Augustiner-Flaschen zufolge, die um sie herum liegen, deutet alles auf morgen hin. Auf die Frage, ob sie hier übernachten, schauen sie einen an, als habe man sie gefragt, ob sie mit Geschmeiden und Rubinen handeln: "Hotel? Auto is' Hotel!" Und? Italien? Gardasee? Ist das Gemüth schon angeheimelt vom feenhaften Thal? Einer, er sagt, er heiße Matze, linst in Richtung Ufer, und kneift die Augen sofort wieder derart intensiv zusammen, als habe ihm der sonnensilberne See gerade den Migränenerv aufgeschlitzt. Dann brummt er: "Was kann ich dafür, wenn die hier ihr Trainingslager machen müssen."

Man könnte sagen, mit diesen Fans ist man am Nullpunkt des Tourismus angelangt. Die Reise ist einfach nur lästig, die Optik (früher: Panorama) nervt brutal, und gesucht wird auf gar keinen Fall das nie Gesehene, Wunderbare, sondern ausnahmslos das, was man zu Hause auch anschaut, Schweinsteiger Fußballgott.

Man könnte aber auch sagen: Immerhin keine nostalgische Verklärung mehr. Mal Carlo Modena fragen, was sich geändert hat, seit die österreichischen Pfadfinder hier mit ihrem Kam Ping begannen.

"Geändert? Gar nichts."

Modena reagiert, als verstehe er die Frage nicht: "Geändert? Gar nichts. Die Wohnwagen sind größer geworden, man kriegt nur noch halb so viele unter wie früher. Aber die Leute sind dieselben wie damals. Ihr seid nur italienischer geworden, im Essen und Trinken habt ihr viel von uns gelernt."

Das stimmt. Die Deutschen, die sich nach dem Krieg von Graupen und Mehlsuppe ernährt hatten, merkten in Italien, dass Essen was Anderes sein kann als Nahrungsaufnahme und Fettzufuhr. Aus einem Reiseführer von 1954 hört man noch heute den jahrelangen eigenen Mangel und die Bewunderung der fremden Küche heraus: "Sie können hier zweimal täglich Makkaroni essen, wie in Frankreich Weißbrot und in Deutschland Kartoffeln! Überall wird mit Olivenöl gekocht. Mortadella und Salami findet der deutsche Urlauber in Rom wie in Neapel und hier wie dort bestellt er seine Pizza, einen Pfannkuchen aus Tomaten, Zwiebeln, Anchovis und mit neapolitanischem Käse bestreut."

Zurückgekehrt nach Deutschland ging man ins Ristorante, bewunderte die Fischernetze an den Wänden und bestellte diese neapolitanischen Pfannkuchen mit pomodori, per favore. Dann fuhr man im Opel Ascona oder Ford Capri nachhause und schaute im Schein der Tropfkerzen auf korbüberzogenen Lambruscoflaschen die kodacholerisch bunten Urlaubsfotos an. Und den Kindern träufelte man die Italiensehnsucht mit all der süßlich bunten Plörre namens Bluna, Sinalco, Libella und Capri-Sonne ein.

Eine Art Schweigegelübde

Aber noch ein letztes Mal zurück zu Herrn Modena. Auf die verwunderte Nachfrage, ob sich die Touristen der fünfziger Jahre nicht doch von den aktuellen Exemplaren unterscheiden, schüttelt er den Kopf. Nein, bestimmt nicht. "Geändert hat sich nur der Wetterbericht: Dass Sie am Freitag auf ihrem Rechner sehen, wie das Wetter hier ist. Früher kam man für zwei Wochen, heute kommen viele fürs Wochenende - oder für Monate."

Einer von ihnen ist "der Dieter". Dieter W. sitzt mit einem Laptop vor seinem ballsaalgroßen Wohnmobil, studiert auf Wetter.de die europäischen Hochs und Tiefs und schwärmt von der Ora, dem scharfen Südwind mit drei Buchstaben aus den deutschen Kreuzworträtseln, der hier jeden Nachmittag aufkommt. Dieter hat Haare wie Rainer Langhans, trägt aber einen Surfanzug. Er kommt seit 1980 her, "immer von Anfang Juni bis Mitte August. Dann wird der Wind schwächer und ich fahr nach Fehmarn. Und im Oktober dann ans Ijsselmeer. Bin ja Rentner." Aber in Frankreich gäb's doch auch Surfmöglichkeiten? "Ja, schon... Weiß auch nicht, hab immer den Eindruck, die Franzosen mögen uns nicht so wie die Italiener."

Mentaler Nichtangriffspakt

Ob das heute noch stimmt, sei dahingestellt. Jedenfalls fühlten sich die Deutschen in Italien nach dem Krieg auch deshalb ungleich wohler als in Frankreich oder Griechenland, weil eine Art Schweigegelübde herrschte, ein mentaler Nichtangriffspakt, man hatte schließlich eine gemeinsame Vergangenheit. Noch 1959 lobte der Reiseschriftsteller Benno Wundshammer den "moralischen Mut der Italiener zu Dingen, die unpopulär sind. Die ersten Menschen, die meiner Frau und mir nach dem Krieg wieder eine Reise ermöglichten, waren fremde Italiener, bei denen ich einige Tage während des Krieges war. Sie legten ein gutes Wort für uns ein, sie deponierten Geld, sie rannten zu den Behörden. Das alles zu einer Zeit, als wir Deutschen noch geächtet und gehasst im großen Besatzungs-Gefängnis saßen. Diese Italiener scherten sich nicht um die Mächtigen, sie handelten nach dem Herzen."

Kurz kommt Fernweh auf

Plötzlich kommt Wind auf, Dieter springt auf, packt Brett und Segel und ist bald schon nur noch ein leuchtend roter Punkt im silbrigen Dunst. Wenn man so am Ufer steht und ihm hinterherschaut, wie er Richtung Horizont davonsegelt, wenn man die Touristen hinter sich nicht mehr hört, den Kokosmilchdunst nicht mehr riecht und das zugebaute Riva nicht mehr sieht, dann kann tatsächlich kurz Fernweh aufkommen.

Sekunden später ist auf der Uferpromenade dieses Rumpeln zu hören. Vor einem Kaugummiautomaten, in dem Riesenkugeln der Marke ,"Bouly-Mix'' für 1,50 Euro angeboten werden, steht ein Junge und tritt frustriert gegen das Gehäuse: "Mann, warum is'n das so teuer?" - "Weil's Italien ist", sagt die Mutter und zerrt ihn weg.

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