Süddeutsche Zeitung

Kreol und Sega-Musik:Mauritius und das Erbe der Sklaverei

Kreol ist mehr als Folklore. Mauritius, der Inselstaat im Indischen Ozean, pflegt sein kulturelles Erbe - nicht nur für die Touristen.

Reportage von Ingrid Brunner

Wenn gegen Mitternacht die Hitze des Tages endlich nachlässt, brodelt die Stimmung auf der Wiese, die zur Konzertarena umfunktioniert wurde. Am Morgen nach dem "Grand Konsert", der Abschlussveranstaltung des Festival Kreol auf Mauritius, wird vom Rasen nicht mehr viel übrig sein. Jung und Alt tanzen und singen zu den Klängen der Segamusik, Väter mit Kindern auf den Schultern, junge Frauen, schick und sexy zurechtgemacht, drängen sich vor der Bühne zusammen. Sie kennen und unterstützen ihre heimischen Musiker, denn Radio Moris spielt das ganze Jahr über nonstop mauritische Sega-Musik, einen interessanten Mix aus klassischem und modernem Sega.

Einst Musik und Tanz der Sklaven, ist Sega heute ein wesentlicher Bestandteil der kulturellen Identität der kreolischen Inselbevölkerung - und zugleich auch Folklore für die Touristen. Tanzen mit Ketten an Händen und Füßen: Aus dieser minimalen Bewegungsfreiheit heraus entwickelten die Sklaven im Indischen Ozean - ähnlich wie jene auf den Inseln in der Karibik - die Urform des Sega. Deshalb sind der vorgestellte Fuß und der Wiegeschritt die wichtigsten Elemente des Sega-Tanzes - begleitet von derart viel Hüftkreisen, dass dem rückengeschädigten Besucher aus Europa schon vom Zusehen ganz blümerant zumute wird.

Seit 2006 findet das Festival International Kreol jedes Jahr statt. Neben den lokalen Berühmtheiten treten Musiker von den benachbarten Inselstaaten wie Réunion oder den Seychellen auf, aber auch Bands aus der Karibik, sogar die international bekannte Frauenband Zouk Machine aus Guadeloupe war schon zu Gast. Die Reggae-Musik der Karibik hat mit dem Sega zu einem neuen Musikstil fusioniert, den manche "Seggae" nennen. Zu Ravane, Maravane und Triangel, den traditionellen Perkussionsinstrumenten des Sega, sind in seiner modernen Version weitere Instrumente und jede Menge technische Unterstützung gekommen. Entsprechend voll ist die Bühne: Musiker, Sänger, Tänzerinnen teilen sich den Platz mit Leuchttechnik, Synthesizer und Verstärkern.

Mauritius war immer schon multikulti

Wer backstage einem Konzert folgt, steht früher oder später neben dem Tourismus- oder dem Kulturminister des Inselstaates. Die Welt ist klein hier - und alle lieben Sega. Das ist der soziale Kitt, der alle gesellschaftlichen Gruppierungen zusammenhält. Und davon gibt es viele. Mauritius war multikulti, lange bevor das Wort hierzulande aufkam. Auf der Insel leben Menschen mit indischen, chinesischen, afrikanischen und europäischen Wurzeln. Entsprechend groß ist die Sprachenvielfalt. Obwohl England die letzte Kolonialmacht war, die bis zur Unabhängigkeit 1968 das Sagen auf der Insel hatte, ist Französisch die Verkehrssprache, daneben Englisch, Hindi, Bhojpouri - und seit 2011 auch Kreol Morisien. So heißt die auf dem Französischen basierende Kreolsprache, die von den Kreolen, der zweitgrößten Bevölkerungsgruppe des Inselstaates, gesprochen wird. Die Kreolen sind Nachfahren der vom afrikanischen Festland verschleppten Sklaven, die immer noch sozial benachteiligt sind.

"Nu Pei Nu Kiltir Nu Kreolite", unser Land, unsere Kultur, unser Kreol, so lautete das Festival-Motto im Jahr 2013. Im Folgejahr hieß es "Kreolite Egalite" - in Anlehnung an den Leitspruch der französischen Revolution. Der Linguist Arnaud Carpooran von der französischen Fakultät der Universität Mauritius lehrt und forscht über die kreolischen Sprachen weltweit. Seine Forschungsergebnisse tauscht er mit anderen Wissenschaftlern der "monde créole", der kreolischen Welt, auf dem Symposium aus, das dem Festival Kreol traditionell als Auftaktveranstaltung vorangeht.

Er erklärt, dass jede kreolische Sprachgemeinschaft ihre eigene Sprache hervorgebracht habe. Eine einzige, überall gleiche Kreolsprache gebe es nicht. Vielmehr seien es stets Mischungen aus afrikanischer Grammatik und dem Wortschatz der Unterdrücker. So gebe es Kreolsprachen mit Englisch-basiertem Wortschatz, etwa auf den Bahamas oder in Trinidad; in anderen Regionen ist es Französisch, wie auf Mauritius, auf Réunion oder Haiti. Auf São Tomé oder den Kapverdischen Inseln war es das Portugiesische, auf den Philippinen Spanisch und Arabisch in Uganda und dem Südsudan. Auch das Deutsche hat im "Küchendeutsch" in Namibia und dem "Unserdeutsch" in Papua-Neuguinea eigene, mittlerweile fast verschwundene Kreol-Idiome hervorgebracht. Anhand der Kreolsprachen ließe sich demnach trefflich eine linguistische Geschichte der Kolonialisierung und der Sklaverei erzählen.

Verständlich also, wie bedeutend es für die kreolische Bevölkerung von Mauritius ist, dass Carpooran 2011 das erste kreolische Wörterbuch herausgebracht hat, mittlerweile gibt es die zweite Auflage . "Ich bin glücklich, dass dies möglich war", sagt er. Seine Hoffnung sei es, das Kreol Morisien vor dem Aussterben - und es vor dem Schicksal des Dodo, des Wappenvogels der Insel, zu bewahren: eine sentimentale und folkloristische Fußnote der Inselgeschichte zu werden. Für viele Mauritier, sagt er, sei dies identitätsstiftend, ein Zeichen der Anerkennung. "Keiner kann mehr sagen, das sei eine minderwertige Sprache." Für ihn, sagt Carpooran, sei Kreol die Sprache der Emotion: "Man kann damit seine Gefühle ausdrücken, wie das auf Englisch oder Französisch nicht geht."

Das erwachte Selbst(-Bewusstsein) der kreolischen Bevölkerung erhält also Rückenwind. Kreolisch, das ist eben mehr als nur ein besonders pikanter und exotischer Küchenstil. Mittlerweile gebe es neben dem eingangs erwähnten kreolischen Radiosender nun auch einen Fernsehkanal, und die Tageszeitung Le Mauricien bringe jeden Samstag eine Seite auf Kreolisch. "Wenn wir die zweite Seite kriegen, sind wir glücklich", sagt Carpooran. Auch Kinder- und Schulbücher in kreolischer Sprache gebe es mittlerweile.

Ein Berg wurde zum Zufluchtsort geflohener Sklaven

Urlauber kennen von Mauritius in erster Linie die Luxushotels, die weltweit einmaligen schneeweißen Korallenstrände, die Tauchgründe, Segelreviere, die exotische tropische Natur. Doch wer sich aus den Resorts hinausbegibt und auf Erkundungstour geht, stößt schnell auf die Spuren der Sklaverei. Direkt hinter den Fünf-Sterne-Strandresorts von Chamarel und Le Morne ragt der 556 Meter hohe Tafelberg Le Morne Brabant in den Indischen Ozean. Auf einer schwer zugänglichen und durch steile Klippen abgeschotteten Halbinsel gelegen, war dieser zerklüftete Berg bis zum Ende der Sklaverei auf Mauritius Zufluchtsort für geflohene Sklaven.

Die Insel war bis ins 19. Jahrhundert eine bedeutende Zwischenstation im östlichen Sklavenhandel. Afrikaner wurden nicht nur nach Westen, nach Amerika und in die Karibik, sondern in ganz erheblichem Maße auch in den afrikanisch-arabisch-asiatischen Raum verschleppt, wo sie weniger als Feld-, sondern fremden Blicken entzogen als Haussklaven ausgebeutet wurden. Ein weniger bekanntes Kapitel, dem sich Historiker erst jüngst zugewandt haben.

Die "Maroons" genannten Sklaven gründeten am Morne Brabant sogar Siedlungen, die seinerzeit Maroon-Republik genannt wurden. Als sich am 1. Februar 1835 Ordnungskräfte näherten, um ihnen das Ende der Sklaverei zu verkünden, hielten sie diese für Abgesandte der Sklavenhalter und stürzten sich aus Verzweiflung in die Tiefe. Ein tragisches Missverständnis. Seither ist Le Morne Brabant für die kreolische Bevölkerung ein Schicksalsort. Um der Opfer zu gedenken und die Abschaffung der Sklaverei zu feiern, ist der 1. Februar ein Nationalfeiertag auf der Insel. Seit 2008 zählt der symbolträchtige Berg zum Unesco-Weltkulturerbe.

Informationen

Mauritius Tourism Promotion Authority (MTPA), c/o Aviareps Tourism GmbH, mauritius@aviareps.com, www.tourism-mauritius.mu

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Quelle:
SZ vom 14.01.2016/edi
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