Auf den ersten Blick ist alles perfekt: die kleinen, widerstandsfähigen Rinder, die auf der Weide grasen, dazu Schafe, Gänse, zwei Wollschweine, denen der regenschwere Bornholmer Boden Kühlung verschafft. Man muss sich schon so gut auskennen wie Lena Mühlig, um erkennen zu können, wo sie hier im Mittelalterdorf getrickst haben, damit der historische Anspruch mit dem touristischen in Einklang kommt.
Welche Kühe vor tausend Jahren auf der dänischen Insel weideten, weiß man nicht - deshalb stehen hier Dexter-Rinder, die ursprünglich aus Irland stammen. Die ostpreußischen Skudden-Schafe, deren Wolle sich so gut spinnen lässt, fühlen sich auf Bornholm ebenfalls wohl. Und die Gänse? Erfüllten eine wichtige Funktion in jeder mittelalterlichen Siedlung: "Hunde kannst du bestechen, Gänse nicht", sagt Mühlig. Nur durften sich die Wächter-Gänse damals frei durchs Dorf bewegen. Die heutigen leben hinter einem Zaun; die Schuhe der Besucher danken es ihnen.
Die Kinder können Garn färben, Strohpuppen flechten und lernen, wie man Runen schreibt
Living History, die gelebte und damit erlebbar gemachte Geschichte, ist seit Jahren vielerorts in Europa ein Verkaufsschlager. Kaum eine Burganlage, die nicht versucht, aus der Mittelalterbegeisterung der Leute Gewinn zu schlagen; das Mittelalterfestival samt Bogenschießen oder der Humpen am Weihnachtsmarkt sind ja auch so nett. Eltern und Kindern wollen sie auch auf Bornholm im Middelaldercenter etwas bieten, aber: nicht um jeden Preis. Im Laden gibt es keine Ritter aus Plastik, auf dem Gelände keine Buden.
Von Menschen wie ihnen lebt das Dorf: Åsa Martinsson, die sich mit der Weberei des Mittelalters beschäftigt.
Lena Mühlig, die den Ofen erhellt.
Und Klaus Thorsen, der hier militärische Techniken erklärt.
Gekämpft wird dann aber mit Kunststoff-Schwertern.
Natürlich kann man auf Bornholm auch Bogenschießen.
Und hier das Schatzkästchen mit wertvollen Gewürzen. Nur die Hausherrin hatte den Schlüssel.
Wer ein Souvenir möchte, kann Getöpfertes und Mundgeblasenes kaufen. Oder Kaninchenfelle, die bei Reenactorn - jenen Menschen also, die das Mittelalter so ernst nehmen, dass sie es nachleben - besonders beliebt sind, weil sich Mützen und Kapuzen weich und warm damit auskleiden lassen. An die Felle kommt man leicht auf Bornholm; es gibt hier keine Füchse und somit Kaninchen im Übermaß.
Natürlich müssen sie auch Geld verdienen mit dem seit 1996 bestehenden Zentrum. "Aber wir wollen uns trotzdem treu bleiben", sagt Mühlig. Den Kommerz also hat man zurückgeschraubt, an seine Stelle ist ein ausgedehntes Mitmach-Angebot für Kinder getreten: Garn färben, Puppen aus Stroh flechten, töpfern, spielen wie Kinder im Mittelalter gespielt haben, Runen mit Feder und Tinte schreiben, im Sand nach vergrabenen Glasperlen suchen. Wer Pech hat, findet stattdessen schon mal eine alte Schuhsohle. Auf einer Sandfläche sind eigens angefertigte Münzen vergraben - die Kinder können mit dem Metalldetektor danach suchen.
Der Bornholmer Klaus Thorsen, einer der wenigen festangestellten Mitarbeiter des Zentrums und natürlich wie alle hier in Gewandung, möglichst originalgetreuer Kleidung also, unterwegs, ist zugleich Hobby-Archäologe. Er hat die Geschichte seiner Insel erforscht und eine Gruppe Gleichgesinnter um sich geschart, die regelmäßig mit Metalldetektoren losziehen. Nur, dass sie ihre Funde nicht für sich behalten, wie andere das illegalerweise tun. Thorsens Truppe übergibt ihre Fundstücke dem Bornholms-Museum. Das meiste von dem, was man weiß übers Mittelalter auf Bornholm, stammt von solchen archäologisch wertvollen Stellen - "oder von alten Bildern", wie Thorsen sagt.
Anhand alter Aufzeichnungen haben sie auch das Dorf nachgebaut: mit der Weberin und der Töpferin, dem zentral gelegenen "Gildeshus", in dem man sich zu wichtigen Anlässen versammelte und in dessen Türrahmen nun ein Sonnenkreuz aus Stroh hängt, das einst dazu bestimmt war, böse Geister abzuwehren. Vor allem aber überragt ein Stormandsgård das Dorf, eine Art Herrenhof, wie er auf Bornholm im 14. Jahrhundert gebaut wurde: mit einem Wirtschaftsgebäude, einer - nach traditioneller Art mit Roggenhalmen gedeckten - Stallung, einem Wohnhaus für den Adel und einem zentralen Turm, der bei Angriffen als letzter Fluchtpunkt diente.
Zu der Zeit, erklärt Mühlig, herrschte Bürgerkrieg im Land, ein einfacher Bauernhof wäre leicht überrannt worden. Ein Stormandsgård aber war von hohen Palisaden umgeben, zudem in der Regel noch durch einen Wassergraben geschützt. Auf den Graben mussten sie allerdings verzichten im Mittelalter-Zentrum - zu viele Felsen im Boden.
Zwischen Mai und Oktober, wenn das Zentrum geöffnet ist, kommen Schulklassen aus ganz Dänemark hierher. Dazu viele Schweden; es gibt eine direkte Fährverbindung zwischen Rønne auf Bornholm und Ystad in Schweden. Verständigen kann man sich ohnehin gut, die Sprachen sind verwandt. Wobei: Die Sprache habe es früher auf Bornholm nicht gegeben, sagt Thorsen, vielmehr gab es vier Dialekte. Einen im Norden, wo Steinmetze aus Schweden Arbeit fanden und die Sprache mit prägten, einen im Westen rund um Rønne, "das waren die feinen Städter".
Dänemark:Bornholmer Freiheit
Die Insel gilt als das vielfältigste Stück Dänemarks. Nicht umsonst ziehen sich viele Alternative hierher zurück.
In der Mitte der Insel sprach man Thorsen zufolge vor Jahrhunderten den Dialekt der Landbevölkerung und im Süden mit slawischem Einschlag. Es waren halt andere Zeiten; man heiratete im Dorf, blieb auf der Insel. Heute gibt es nicht mehr viele Junge, die überhaupt einen Bornholmer Dialekt sprechen. "Man hat sich lange dafür geschämt", sagt Lena Mühlig. "Die Leute fangen gerade an, ihre Geschichte wertzuschätzen."
Und wie Mühlig selbst als Zugezogene die Bornholmer Geschichte zu entdecken mithilft, so tut das auch Åsa Martinsson. Früher hat die Schwedin liturgische Gewänder gefertigt - sie ist Weberin. Vor Jahrzehnten schon hat sie die "Liebe zum Mittelalter gepackt", wie sie sagt. Heute fertigt Martinsson Stoffe nach Art des Mittelalters. Schriftliche Zeugnisse gibt es kaum, dafür Kunstwerke, die das zumeist herrschaftliche Leben im 14. und 15. Jahrhundert in Europa abbilden. An ihnen orientiert sie sich. Blau mit weißen Streifen war demnach sehr verbreitet. Sind die Stoffe auf den Bildern grün, könne man sicher sein, dass sie aus Wolle sind, nicht aus Leinen, sagt sie. "Das lässt sich kaum färben."
Tischdecken, Bettüberzüge, Raumteiler - alles gab es in einem wohlhabenden Mittelalter-Haushalt. Wollte der Herr des Hauses am Schreibpult ungestört sein, zog er einen Vorhang um sich. Auch der Sitzplatz eines hochrangigen Menschen konnte mit feinem Stoff gekennzeichnet sein. Im Bett schlief das Paar auf einem über die ganze Breite gezogenen Kopfkissen; dazu hatte jeder sein eigenes kleines Kissen.
"Das Bettzeug wird tatsächlich flauschig"
Ein Bild hat Martinsson gefunden, das eine Frau zeigt, die einen Stock über das Laken zieht. "Zuerst dachten wir, die machen nur das Bettzeug glatt." Sie hat es ausprobiert, und siehe da: "Man zieht den Stock nicht drüber, man schlägt die Federn auf. Das Bettzeug wird dadurch tatsächlich flauschig."
Åsa Martinsson und ihr Mann Martin Eriksson haben diesen Sommer nicht wie sonst ihr Zelt bezogen. Sie wohnen im Stormandsgård, im Herrenhaus. Und sind dort gleichsam ein lebendiges Geschichtsbuch. Für den Abend hat sich der Weberinnen-Kreis der Insel Bornholm angekündigt. Der besteht immerhin aus 100 Frauen. Åsa Martinsson wird einige unterrichten in der Kunst des mittelalterlichen Webens.
Aber zuerst muss sie noch schnell erklären, warum der Stuhl im Festsaal ihrer Sommerresidenz eine kleine Erhebung auf der Sitzfläche hat. Das Kissen rutscht damit nicht so leicht zu Boden. Wie praktisch. Nur eines stört Martinsson: die Felle an der Wand. Die müssen runter, sagt sie, weil: historisch sicher nicht korrekt. Stoffe sollten dort hängen. Ihre nächste Aufgabe für lange schwedische Winterabende.